Der vorleser interpretation
I.Das Thema Schuld im Roman:
Im Roman werden verschiedene Formen von Schuld dargestellt. So machen sich die einzelnen Figuren und Personengruppen auf unterschiedliche Weise schuldig oder bezichtigen andere einer Schuld.
Die Schuld Hannas:
Demütigung des Ich- Erzählers ( zB.: erster Teil : Kapitel 10 / S.50 : "Ich hatte nicht nur diesen Streit verloren.
...'Fängst du schon wieder an ?'"; Kapitel 11 / S.54ff : "'Wie kannst du einfach so gehen.'.
..'Aber ich sehe keinen Zettel'")
eingeschränkte Einbeziehung des Ich- Erzählers in ihr Leben (zB.: erster Teil : Kapitel 9 / S.40: "Ich fragte sie nach ihrer Vergangenheit,..
.'Was du alles wissen willst, Jungchen'" ; Kapitel 10 / S. 45ff :"Ich stieg bei der zweiten Haltestelle zu....
'Ich hab dir schon gesagt, was du machst, ist deine Sache, nicht meine.'")
"freiwilliges" Mitglied der SS ( zweiter Teil: Kapitel 3 / S.91f: "'Sind Sie freiwillig zur SS gegangen ?' 'Ja '...änderte am negativen Eindruck nichts.
"); unterlassene Hilfe bei Brand ( zweiter Teil: Kapitel 4 / S. 103: "Die Angeklagten hätten die Kirche aufschließen können. Sie taten es nicht, und die in der Kirche eingeschlossenen Frauen verbrannten." )
fehlendes Bewusstsein für Schuldmöglichkeiten ( zB.: zweiter Teil: Kapitel 6 / S. 107f: "Hanna verstand nicht, was der Vorsitzende damit fragen wollte.
..,weil sie sich die Frage noch nicht gestellt hatte und zweifelte, ob es die richtige Frage und was die Antwort war." )
Die Schuld des Ich- Erzählers
steht nicht zu Hanna ( erster Teil: Kapitel 15 / S.72ff: "Dann habe ich begonnen, sie zu verraten..
." )
"Vernachlässigung" Hannas während der Haft ( zB.: dritter Teil: Kapitel 7 / S.182 f: "Aber mir gefiehl nicht, was auf mich zukam...
.Wie sollten wir uns von Angesicht zu Angesicht begegnen, ohne daß alles hochkam, was zwischen uns geschehen war." ; Kapitel 8 / S.187: "Aber ich spürte, wie wenig meine Bewunderung und Freude dem angemessen waren, was Hanna das Lesen- und Schreibenlernen gekostet haben mußte,...
Ich empörte mich gegen das schlechte Gewissen, das ich bei dem Gedanken bekam, sie auf eine Nische reduziert zu haben." )
Beziehung zu einer Verbrecherin
ungeprüfte Schuldzuweisung (zweiter Teil: Kapitel 2 / S.88: " Wie kam ich dazu, ihn zu Scham zu verurteilen ? Aber ich tat es." )
=> schuldhaftes Verhalten der Hauptfiguren ist nicht eindeutig nachweisbar
subjektiv wird Verhalten als Schuld empfunden
=> Die Klärung von Schuld ist schwierig bis unmöglich; es besteht eine Diskrepanz zwischen juristischer und
moralischer Schuld
Die Schuld der Gesellschaft:
fehlendes Schamgefühl der Täter- Generation ( zweiter Teil: Kapitel 2 / S. 87: "Ebenso fest stand für uns, daß es nur vordergründig um die Verurteilung dieses oder jenes KZ- Wächters und -Schergen ging..
..Ich bin sicher, daß sie, soweit wir sie gefragt und sie uns geantwortet haben, ganz verschiedenes mitzuteilen hatten." )
Selbstgerechtigkeit und unüberlegte Verurteilung der "Täter"- Generation durch die Nachkriegsgeneration ( zweiter Teil: Kapitel 2 / S. 88: "Wir alle verurteilten unsere Eltern zu Scham, und wenn wir sie nur banklagen konnten, die Täter nach 1945 bei sich, unter sich geduldet zu haben." )
Schwierigkeiten der Nachkriegsgeneration, die Kriegsverbrechen zu beurteilen (zweiter Teil: Kapitel 4 / S.
99f: "Zugleich frage ich mich und habe mich schon damals zu fragen begonnen:...Aber daß einige wenige verurteilt und bestraft und daß wir, die nachfolgende Generation, in Entsetzen, Scham und Schuld verstummen würden - das soll es sein ?" )
=> NS- Verbrechen erfordern eine reflektierte Auseinandersetzung und entziehen sich einer Be- und Verurteilung durch die
Nachkriegsgeneration; Ratlosigkeit bezüglich des Umgangs mit den NS- Verbrechen
=> Botschaft: Enthaltet euch eines Urteils !
II. Ist Analphabetismus schlimmer als Kriegsverbrechen ?
Hanna weicht allen Möglichkeiten aus, die sie verraten könnten ( zB.: erster Teil: Kapitel 11 / S.
54ff: "Den einzigen Streit hatten wir in Amorbach....'Ich will dir gerne glauben. Aber ich sehe keinen Zettel.
'"; Kapitel 17 / S. 79f: "Am nächsten Tag war sie weg....'Vor vierzehn Tagen saß sie hier,.
..,und ich habe ihr angeboten, daß wir sie zur Fahrerin ausbilden, und sie schmeißt alles hin.'"; zweiter Teil: Kapitel 3 / S. 91f: "'Stimmt es, daß Sie zur SS gegangen sind, obwohl Ihnen bei Siemens eine Stelle als Vorarbeiterin angeboten worden war ?'..
.; es war die längste Zeit, die sie an ein und demselben Ort verbracht hatte." )
Hanna gibt "Verbrechen" zu, die sie nicht begangen hat (zB.: zweiter Teil: Kapitel 9 / S. 124: "'Meine Schrift? Sie wollen meine Schrift..
.'...'Ich gebe zu, daß ich den Bericht geschrieben habe.'" )
=> Aussage: Analphabetismus ist eine lebenslängliche schwere Last
Gewissenslast ist schlimmer als konkrete Last ( dritter Teil: Kapitel 8 / S.
187: "' Ich hatte immer das Gefühl, daß mich ohnehin keiner versteht,... Vor dem Prozeß habe ich sie, wenn sie kommen wollten, noch verscheuchen können.'" )
Kriegsverbrechen wird als Schuld empfunden, die Buße erfordert ( dritter Teil: Kapitel 10: S.196f: "' Über viele Jahre hat sie hier gelebt wie in einem Kloster.
..., aber die anderen Frauen nicht mehr beeindruckt hat'" )
Selbstmord als Konsequenz aus der Erkenntnis der Unmöglichkeit, durch Buße die Schuld wiedergutzumachen ( dritter Teil: Kapitel 10: S.197: "'Kann einem die Welt..
.? Bringt man sich lieber um, als aus dem Kloster,... wieder in die Welt zurückzukehren?'" )
=> Kriegsverbrechen ist nicht zu bewältigende Gewissensschuld
=> Fazit: Das ungeheure Ausmaß einer Gewissensschuld wird erfahrbar durch den Vergleich mit der auch schon
schweren Last des Analphabetismus
III. Liebesverhältnis zwischen einer älteren Frau und einem Jugendlichen- die Auswirkungen auf den Ich-Erzähler
Stärkung des Selbstbewusstseins, Selbstvertrauen, Wohlbefinden ( zB.
: erster Teil: Kapitel 9 / S.41: "Ich staune, wieviel Sicherheit Hanna mir gegeben hat... Ich fühlte mich in meinem Körper wohl." ; Kapitel 13 / S.
64: " Ich fühlte mich gut,... Ich würde in der neuen Klasse mit ihnen zurechtkommen und dadurch auch bei den Jungen ankommen." )
Leistungssteigerung in der Schule ( erster Teil: Kapitel 9 / S.38: .
.."und glücklich war ich in den nächsten Wochen...und die Klasse geschaft habe".
..)
Emanzipation von den Eltern ( sowohl positiv als auch negativ ) ( zB.: erster Teil: Kapitel 7 / S.31f: Mir war, als säßen wir das letzte Mal gemeinsam um den runden Tisch..
. Zugleich hatte ich das Gefühl, jetzt sei der Abschied vollzogen." ; Kapitel 11 / S. 51: "Ich weiß nicht mehr, was ich meinen Eltern gesagt habe...
. Hatte ich nicht gerade die Klasse geschafft, was mir niemand zugetraut hatte?" ; Kapitel 12 / S.58f: "Im Rückblick finde ich beachtlich, daß meine Eltern bereit waren, mich fünfzehnjährigen eine Woch lang alleine zu Hause zu lassen....
, daß ich gesund und in die nächste Klasse versetzt war." )
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ständige Unterwerfung ( zB.: erster Teil : Kapitel 10 / S.50: "Ich konnte mit ihr nicht darüber reden...
.'Fängst du schon wieder an?'" ; Kapitel 14 / S.70f: "Aber mich ärgerte ihre schlechte Laune,... Aber ich war voll Groll.
" )
Unterlegenheit ( zB.: erster Teil: Kapitel 6 / S.27: "Ich hatte Angst:...und dann so laut schrie, daß sie den Schrei mit ihrer Hand auf meinem Mund erstickte.
" ; Kapitel 8 / S.33f: "Auch wenn wir uns liebten, nahm sie selbstverständlich von mir Besitz.... Ganz lernte ich es nie.
" )
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später: Gefühlskälte ( zweiter Teil: Kapitel 1 / S.84f: " Ich gewöhnte mir ein großspuriges, überlegenes Gehabe an,... Dieses Nebeneinander von Kaltschnauzigkeit und Empfindsamkeit war mir selbst suspekt." )
lebenslanger Vergleich anderer Frauen mit Hanna ( dritter Teil: Kapitel 2 / S.
164ff: "Ich habe nie aufhören können, das Zusammensein mit Gertrud mit dem Zusammensein mit Hanna zu vergleichen,... Weil die Wahrheit dessen, was man redet, das ist, was man tut, kann man das Reden auch lassen." )
=> Fazit: die Beziehung wird als sehr differenziert, komplex, vielschichtig und ambivalent dargestellt
der Verfasser weicht einer Schuldzuweisung (in Bezug auf einen sexuellen Missbrauch von Minderjährigen) aus
Die Gesamtaussage
subjektiv empfundene Schuld (Gewissen) führt zu größerer Sühne als die juristische Schuldzuweisung und Strafe
Schwierigkeit des Urteilens in Existenzfragen (zB. Verhältnis ältere Frau / Junge; Schuld)
Täter sind auch Opfer
Verdeutlichung der Gegenwärtigkeit der nationalsozialistischen Vergangenheit
Sensibilisierung für das Thema / die Problematik des Analphabetismus
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