Meister dädalus und dichter ovid
Meister Dädalus und Dichter Ovid
Dädalus hat zwei charakterliche Seiten, eine dunkle und eine lichte. Er stammte aus Athen und wurde nach Kreta verbannt, weil er seinen Neffen, der im Begriff war, ihn an Kunstfertigkeit zu übertreffen, aus Neid getötet hatte. Diese Geschichte von seinem menschlichen Versagen folgt in den Metamorphosen allerdings erst nach dem unglücklichen Ende seines Sohnes Ikarus. In der eigentlichen Geschichte gelingt es Dädalus, Flügel nach Vogelart für sich und seinen Sohn herzustellen, um sich mit ihrer Hilfe in die Luft zu erheben und aus Kreta über das Meer zu fliehen. In Vers 201 wird er OPIFEX genannt und damit in Analogie zum Schöpfer der Welt und des Menschen im 1. Buch, Vers 79 gesetzt.
Da opifex nur an diesen beiden Stellen der Metamorphosen vorkommt, will Ovid in Daedalus den Archetypus des Menschen als ein vollkommenes Abbild des Schöpfergottes darstellen. Denn nach Ovids Schöpfungsbericht wird der Mensch
nach dem Bild der alles (im richtigen Maß) ordnenden Götter geformt:
finxit in effigiem moderantum cuncta deorum (I, 83).
Der Mensch besitzt Erkenntnis, die ihn befähigt, Neues zu schaffen und so nach Gott ein zweiter Schöpfer (naturamque novat) zu sein.
Was die Tätigkeit menschlichen Geistes hervorbringt, dient einem Zweck, nämlich, für das Leben des Menschen nützlich zu sein. Die Anwendung menschlicher Werke erfordert ebenso viel Überlegung, Präzision und Sorgfalt wie ihr Hervorbringen. Hinzu kommen muß noch Gewissenhaftigkeit, da die kreative Freude des Hervorbringens der Routine der Anwendung gewichen ist.
Der Flug über das Meer ist ein Bild für die schwierige Bewältigung des Lebens. Es kann nur gelingen, wenn der Mensch sich an die Gesetze hält, die der Schöpfer der Natur und ihm selbst gesetzt hat. Weicht er davon ab, verliert er das sittliche Gleichgewicht, stürzt ab oder nimmt schweren Schaden.
Indem Dädalus seinem Sohn Lehren erteilt, tritt er gleichsam an die Stelle des Schöpfergottes. Der Sohn hingegen wird zum Bild des unerfahrenen Menschen, der sich um die Gesetze, die sein Leben im Gleichgewicht halten, nicht oder zu wenig kümmert. Er erfreut sich der Schöpfungswerke und wendet sie an, ohne sich über Herkunft, Wesen und Wirkweise genügend Rechenschaft zu geben.
Dädalus ist Vorbild für die Verpflichtung des Menschen, gemäß seiner abbildhaften Natur wie Gott zu denken und zu handeln. Denn in der Betrachtung der Werke Gottes erkennt der Mensch sein Nichts einerseits und seine erhabene Berufung zur Teilhabe an Gottes Erkenntnis und Schöpferkraft andererseits.
Ikarus beachtet nicht die Weisungen des Vaters und stürzt ab. Der unglückliche Vater ruft vergeblich nach ihm und verwünscht seine Künste. In diesen beiden Vorgängen zeigt sich sowohl die göttliche als auch die menschliche Bedeutung des Dädalus. Auch Gott empfindet Schmerz über das Scheitern eines Menschen.
Die Schuld dafür trägt der Mensch jedoch selbst, da er sich nicht an die Gesetze, Weisungen und Ratschläge Gottes gehalten hat.
Die menschliche Seite des Dädalus zeigt sich darin, daß er das zu junge Alter seines Sohnes nicht bedacht hat. Dädalus hat seinem erfinderischen Ehrgeiz zu früh nachgegeben. In einer wichtigen menschlichen Beziehung hat er das richtige Maß nicht beachtet.
In Dädalus schließlich schafft Ovid sich ein Idealbild seines eigenen dichterischen Wirkens. Wenn Ovid auch alle seine Verse nach Zahl und Maß genau berechnet und geordnet hat, so hat ihn die Sage von Dädalus und Ikarus zu einem besonders vollkommenen Werk angetrieben.
Wenn sich Ovid aber mit Daedalus identifiziert, sollte man den Ausdruck devovitque suas artes (Z.52) in seiner Doppeldeutigkeit sehen. In positiver Hinsicht heißt die Übersetzung: und er weihte seine Künste den Göttern. Von der Sicht des Dädalus würde dies bedeuten, daß er seine Flugapparate ohne Übereinstimmung mit dem Willen der Götter angefertigt hat. Er hat eigenmächtig gehandelt, seine Künste seinen eigenen Fähigkeiten zugeschrieben und sie nicht dankbar als ein Geschenk der Götter ausgeübt. Er bereut sein Fehlverhalten und empfiehlt sich aufs neue den Göttern.
Ovid schließt sich gewissermaßen Dädalus an, indem er sich dessen Beispiel eine Warnung sein läßt, daß er in seinem dichterischen Tun und seiner Lebensführung nicht überheblich wird. Leider ist ihm das Unglück der Verbannung nicht erspart geblieben.
Am Ende der ersten Hälfte seiner Metamorphosen blickt Ovid zurück auf die Erschaffung des Menschen und zieht Bilanz, indem er sowohl die Größe als auch die sittliche Gefährdung des Menschen bedenkt.
Daedalus, der inzwischen die Insel Kreta und die lange Verbannung haßte, und der berührt war von der Liebe zu seinem Geburtsort, war durch das Meer eingesperrt. "Mag er", sagte er, "Länder und Meere (Wellen) versperren"; "aber der Himmel steht sicher offen; wir werden dort gehen; Mag er auch alles besitzen, Minos besitzt nicht die Luft."
Er sagte dies und richtet seinen Geist auf unbekannte Künste und schafft neue Natur (erneuert Natur).
Denn er legt die Federn der Reihe nach hin, bei der kleinsten angefangen, wobei immer einer langen eine jeweils kürzere folgt, so dass man glauben könnte, sie wären auf einer Anhöhe gewachsen. So stieg einst die Panflöte allmählich mit unterschiedlichen Schilfrohren an.
Dann verbindet er alle Federn in der Mitte mit einer Leinenschnur und ganz unten mit Wachs, und biegt die so zusammengefügten Federn mit einer leichten Krümmung, um echte Vögel nachzuahmen.
Der kleine Icarus stand dabei, und nicht wissend, dass er seine eigene Gefahr anfaßt, greift er bald mit freudestrahlendem Gesicht nach Flaumfedem, die ein vorüberziehender Lufthauch bewegt hatte; bald machte er mit dem Daumen das gelbe Wachs weich und behinderte das wunderbare Werk seines Vaters durch sein Spiel.
Nachdem die letzte Hand an das Unternehmen gelegt worden war, schwang der Baumeister selbst seinen Körper in die doppelten Flügel im Gleichgewicht hinein und schwebte in der bewegten Luft.
Er unterrichtet auch seinen Sohn, und sagt, "Ich ermahne dich, Icarus, dich auf mittlerer Bahn zu halten, damit, wenn du zu tief gehst, nicht die Wellen die Federn beschweren, und wenn du zu hoch fliegst, das Feuer sie nicht versengt.
Zwischen beiden fliege! Ich befehle dir auch, nicht den Bootes, den großen Wagen oder das gezückte Schwert des Orion anzuschauen. Nimm deinen Weg unter meiner Führung." Zugleich gibt er ihm Flugvorschriften und paßt seinen Schultern die unbekannten Flügel an.
Zwischen der Arbeit und seinen Mahnungen wurden die greisen Wangen naß, und es zitterten die väterlichen Hände. Er gab seinem Sohn Küsse, die nicht wiederholt werden sollten. Und durch die Fedem erhoben, fliegt er voraus und fürchtet um seinen Begleiter, wie ein Vogel, der von seinem hohen Nest seine zarten Nachkommen in die Luft geführt hat, und er ermahnt ihn zu folgen und lehrt ihn verhängnisvolle Künste und bewegt selbst seine Flügel und schaut auf die seines Sohnes zurück.
Diese sah jemand, während er mit zittemder Angelrute Fische fing, oder ein Hirte, der sich auf seinen Stab oder einen Bauer, der sich auf seinen Pflug stützte, und staunte und glaubte, dass solche, die ihren Weg durch die Lüfte nehmen könnten, Götter seien.
Und schon war auf der linken Seite das der Iuno heilige Samos (sowohl Delos als auch Paros waren zurückgelassen worden) und auf der rechten Seite Lebinthos und das an Honig reiche Calymne, als der Knabe begann sich über den kühnen Flug zu freuen, sich von seinem Führer trennte und, angezogen durch die Begierde nach dem Himmel, einen höheren Weg nahm. Die Nähe der glühenden Sonne machte das duftende Wachs, das Band der Federn, weich.
Das Wachs war geschmolzen. Jener schwingt die nackten Arme, und da er keinen Flugapparat mehr hat, bekommt er keine Luft zu fassen, und sein Mund, der den väterlichen Namen ruft wird durch das blaue Wasser aufgenommen, das von ihm seinen Namen bekam.
Und der unglückliche Vater - nun schon nicht mehr Vater - rief: "Icarus".
"Icarus!" rief er. "Wo bist Du? In welcher Richtung soll ich Dich suchen?" "Icarus!" rief er. Da erblickte er die Federn in den Wellen, und er verfluchte seine Künste und er barg den Körper in einem Grab; und die Erde wurde nach dem Namen des Bestatteten benannt.
Anmerkungen: |
| impressum | datenschutz
© Copyright Artikelpedia.com