Interpretation der kurzgeschichte "nachts schlafen die ratten doch"
Sven Niemann & Lennart Marx
Gliederung
Thema:
Interpretation der Kurzgeschichte "Nachts schlafen die Ratten doch" von Wolfgang Borchert.
I. Einleitung
Aufbau und Ziel der Untersuchung
II. Hauptteil
a. Grundlagen
i. Historischer Hintergrund
ii.
Wolfgang Borchert
iii. Trümmerliteratur
1. Begriffsklärung
b. Interpretation der Geschichte "Nachts schlafen die Ratten doch"
i. Inhaltsangabe
ii. Interpretation
c.
Aussage der Geschichte (im Bezug auf die Nachkriegszeit)
III. Schluss
Sven Niemann & Lennart Marx
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Facharbeit
Thema:
Interpretation der Kurzgeschichte "Nachts schlafen die Ratten doch" von Wolfgang Borchert.
IV. Einleitung
Wir haben uns entschlossen mit der Erläuterung des Historischen Hintergrundes der sogenannten Trümmerliteratur
zu beginnen. Anschließend werden wir kurz auf Wolfgang Borchert als Person eingehen und sein Leben in einer
kurzen Biographie darstellen. Wir hielten dies für sinnvoll, da seine Werke durch die Zeit, in der er gelebt hat,
geprägt sind.
Es folgt die Begriffsklärung von Trümmerliteratur.
Dann gehen wir auf die Kurzgeschichte ein. Beginnend mit einer kurzen Inhaltsan-gabe der Geschichte. Es folgt
eine ausführliche Interpretation. Anschließend werden noch einmal die Aussagen der Geschichte kurz aufgeführt.
V.
Hauptteil
a. Grundlagen
i. Historischer Hintergrund
Die Literatur der Nachkriegszeit macht deutlich, wie wenig die rasante äußere Entwicklung der
inneren Verfassung, der Bevölkerung angemessen war. Die spezifisch deutsche Entwicklung seit 1933
wurde in einen übergeordneten Geschichtsprozess eingebettet und dadurch in ihrer eigenen Problematik
verdrängt.
Diesen Prozess veranschaulicht die Literaturgeschichte: War 1945/46 die Produktion zahlenmäßig
gering und, auch aufgrund des Papier-mangels, weitgehend auf Zeitschriften angewiesen, so legte die
erste Frankfurter Buchmesse 1949 vom Entstehen eines eigenen literarischen Marktes Zeugnis ab; hier
hatte die Entwicklung von der Enge zur Weite geführt.
Aber es gilt auch umgekehrt: Verstand sich die erste Nachkriegsliteratur im weitsten Sinne politisch, so
hatte sie sich 1949 wieder in die Isolation der reinen Kultur zurückgezogen.
Den markantesten Punkt innerhalb dieser Entwicklung bildet 1947 das Verbot der Zeitschrift ,,Der Ruf"
und die Gründung der ,, Gruppe 47".
In dieser Zwischengeneration der 30-bis 40 jährigen war der Wille zum grundlegenden Wandel auch
der politisch wirtschaftlichen Strukturen am stärksten ausgeprägt. Mit der wachsenden Restauration
gerieten aber diese Autoren an den Rand der kulturellen Szene, sie bildeten den Kern kritischen
Opposition der 50er Jahre oder wurden vergessen.
Schließlich traten Ende 1946 wirklich junge Autoren hervor. Sie waren unter dem Nationalsozialismus
herangewachsen, für sie bedeutete das Jahr 1945 den Zusammenbruch der einzigen Welt, die sie
kannten
Der traditionellen deutschen und der modernen westlichen Literatur war die skeptische Sicht der
Geschichte gemeinsam. Denn der deutsche Faschismus war nur der folgenschwerste Schritt einer
insgesamt antidemokratischen Entwicklung Europas in den 30er Jahren gewesen.
ii. Wolfgang Borchert
Borchert wurde am 20.Mai 1921 in Hamburg geboren und trat nach einer Buchhändlerlehre als
Schauspieler in Lüneburg auf. Im 2.Weltkrieg schwer verwundet, wurde er zunächst entlassen, dann
aber aufgrund kritischer Äußerungen inhaftiert und wegen "Wehrkraft-zersetzung" zum Tod verurteilt.
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Danach musste er zur Bewährung an die Ostfront.
Nach dem Krieg arbeitete Borchert als
Regieassistent und als Kabarettleiter am Hamburger Schauspielhaus. Er starb am 20.November 1947
während eines Kuraufenthalts in Basel.
iii. Trümmerliteratur
1. Begriffsklärung
Trümmerliteratur ist gemeinsam mit Kahlschlagliteratur ein Schlagwort für jene programmatische
literarische Produktion einer jungen Autorengeneration innerhalb der deutschen Literatur, die
nach Ende des 2.
Weltkriegs von 1945 bis 1949 einen grundlegenden Neubeginn in Form,
Sprache und Thematik versuchte. Das Interesse der unmittelbaren Nachkriegsrealität und ihren
Motiven (Tod, Ruinenlandschaft, Gefangenschaft, Heimkehr, Schuld und Sühne, Not etc.)galt
dabei; ebenso wie die Rede von der "Stunde Null" zeigte auch der Begriff des "Kahlschlags"
den unbedingten Willen der Schriftsteller zu einem radikalen Neubeginn. Formal bedeutete dies
eine äußerste Verknappung der sprachlichen Mittel, als Antwort auf den Sprachmissbrauch
durch die Propaganda des National-sozialismus; programmatisch hierfür wurde Günter Eichs
Gedicht Inventur ("Dies ist meine Mütze, / dies ist mein Mantel, / hier mein Rasierzeug / im
Beutel aus Leinen"). Als weitere beispielhafte Werke der Trümmerliteratur gelten in
West-deutschland die Gedichte und Erzählungen des Kriegs-heimkehrers Wolfgang Borchert,
vor allem aber sein Drama "Draußen vor der Tür" (1947), sowie die Kurzgeschichten,
Gedichte und Hörspiele von Autoren wie Hans Erich Nossack, Ernst Schnabel, Wolfdietrich
Schnurre und Wolfgang Wey-rauch.
b.
Interpretation der Geschichte "Nachts schlafen die Ratten doch"
i. Inhaltsangabe
Ein Junge döst am Ende des Zweiten Weltkriegs in einer zerstörten Stadt in Deutschland vor sich hin.
Als plötzlich ein krummbeiniger, älterer Mann vor ihm steht und ihn fragt, was er hier tue. Der Junge
antwortet, dass er aufpasse. Er will aber nicht sagen worauf er aufpasst.
Der alte Mann erzählt von seinen Kaninchen und bietet dem Neun-jährigen an, sie ihm zu zeigen.
Der
Junge würde gerne mitgehen, muss aber aufpassen. Als der Mann weggehen will, verrät der Junge ihm
doch noch sein Geheimnis: Er passe auf, dass die Ratten seinen vier-jährigen Bruder nicht anfressen.
Die Leiche liege noch unter dem von einer Bombe getroffenen Haus. Er passe immerzu auf, tags und
nachts. Sein Lehrer habe ihn dazu angewiesen.
Nachts schlafen die Ratten doch, sagt der Mann, der Junge könne ruhig nach Hause gehen.
Es ist
Abend, und so verspricht der Mann, dem Jungen ein kleines Kaninchen mitzubringen, wenn es dunkel
wird. Und dann würde er den Jungen nach Hause begleiten, um seinem Vater zu sagen, wie man so ein
Kaninchenstall baut.
ii. Interpretation
In den ersten Zeilen legt der Erzähler gleich den Ort der Handlung fest. Aus der Genauigkeit der
Ortsbeschreibung taucht eine Reihe von Farbkontrasten - die einem Borchert gut bekannten
Farbexpressionis-mus entstammen - und Vermenschlichungen auf, die den Leser in eine irreal wirkende
Szene führt. Man sieht vor sich, was von einem zer-störten Gebäude übriggeblieben ist: eine Mauer mit
einem hohlen Fenster, Schornsteinresten und Schutt.
Die Mauer aber ist "verein-samt", das Fenster
"gähnt" und die Schuttwüste "döst". In der Vermenschlichung leben die Überreste eines Lebens weiter,
das sich jetzt nur noch als leidende Verwüstung und zugleich als träge Duldsam-keit darlegt. Etwas in
der zerstörten Welt lebt noch, und das plötzliche Erscheinen einer Figur, angezeigt durch das Pronomen
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"Er", weist nicht nur auf die Anwesenheit eines menschlichen Wesens hin, sondern stellt gleichzeitig
auch den eigentlichen Beginn der Erzählung dar. Das vorangestellte expressionistische Bild dient als
starker Hintergrund und Rahmen, und kündigt - wie später deutlich wird - auf symbolische Weise das
an, was sich zwischen den Gestalten noch ereignen wird. Schuttwüste und Leben sind Gegensätze, aber
schon hier lässt sich erkennen, dass die Natur (die Sonne) dazu in der Lage ist, die Dinge
wiederzubeleben.
Durch das Prädikat "dösen" und die Bestimmung "er hatte die Augen zu" (später auch durch die erste
Frage des Mannes: "Du schläfst hier [.
..]?") wird die Gestalt des "Er" in eine enge Verbindung zu
seiner Umwelt gebracht, so dass er wie ein Bestandteil derselben erscheint und die Vermutung
nahelegt, dass er ebenso entstellt und leidend ist.
Mit dem plötzlichen Auftauchen einer weiteren Gestalt erhöht sich die Spannung. Die im Schutt liegende
Figur wird nun von Angst erfüllt. Mit dem Blinzeln verschiebt sich die Perspektive von außen auf die
Sicht dieser Gestalt.
In ihrer Perspektive (auch Innenperspektive genannt) erscheint das Bild des
hinzugestoßenen Fremden. Die Angst-gefühle werden von einer Feindseligkeit ersetzt, die auch dann
noch vorhanden ist, als sich herausstellt, dass der "ältere Mann" nichts Bedrohliches an sich hat und der
Gedanke des Liegenden ("Jetzt haben sie mich!") nur Ausdruck tief verwurzelter Angst ist, die sein
Verhält-nis zur Welt entscheidend beeinflusst. Wenn auch der erste Schrecken langsam vorübergeht, so
sinkt doch die Spannung zwischen der Außen-welt und ihrer Wahrnehmung nicht. Das spiegelt sich vor
allem in dem zwischen den beiden Figuren entstehenden Gespräch wider.
Der Mann ist weder argwöhnisch noch feindselig. Der andere, der erst jetzt einen Namen erhält
(während er vorher nur ein namenloser Be-standteil seiner Umwelt war) ist in seiner Beziehung zu dem
Alten sehr abweisend.
Durch die widerwilligen Antworten Jürgens entwickelt sich ein gespanntes,
mühsames Gespräch, wobei sich aber beide Figuren und auch das Geschehen allmählich
charakterisieren. Dazu tragen die Ein-griffe des Erzählers bei, der Jürgens Perspektive nun wieder
verlässt und wieder mit auktorialer Optik, d.h. aus der Außenperspektive erzählt. Er geht auf die
ruhigen Bewegungen des Mannes ein (dessen Namen wir auch später nicht erfahren werden) und das
Verhalten Jürgens, das nach den vielen Fragen des alten Mannes einmal als "mutig", dann wieder als
"verächtlich" beschrieben wird. Aus diesem Verhalten, der Hartnäckigkeit und der von Jürgen
verwendeten Ausdrucksweise, um zu verheimlichen, worauf er aufpasst, lässt sich schließen, dass es ein
sehr junger Mensch sein muss.
Das wird auch durch die Art und Weise (und durch die Strategie) des
Fragens von Seiten des Mannes deutlich. Er passt sich nämlich der Psychologie seines Gegenübers
durch seine Ausdrucksweise an, die immer mehr pädagogisch wird: "Dann sage ich dir natürlich auch
nicht, was ich hier im Korb habe".
Das Beharren des Erzählers, in diesem ersten Teil der Kurzgeschichte, die Bestimmung der Identität
der Figuren hinauszuzögern, bewirkt, dass die Spannung erhalten bleibt. Sie wird sogar im Verlaufe des
Gesprächs noch verstärkt, weil sich die Absicht des Alten klar herausstellt, dem Geheimnis Jürgens auf
die Spur kommen zu wollen, um ihm gegebe-nenfalls zu helfen. Er meint es gut mit dem Jungen und
lockt ihn dann in eine ,Falle'. Das Ausfragen des Alten wird jetzt immer geschickter.
Um Jürgens Schweigen zu brechen, wird er sehr schmeichlerisch und herausfordernd, stellt einfache
Fragen. Der Alte will dadurch, dass er dass Vertrauen des Jungen erhält, an ihn heran kommen. Als er
ihm von den Kaninchen (etwas Lebendigem) erzählt, ist der Wendepunkt der Geschichte erreicht.
Diese Mitteilung weckt die kindlichen Interessen des Jungen und greift seine Abwehr an. Seine kaputte
Welt scheint für einen Augenblick außer Kraft gesetzt und vergessen. Das im ersten Teil der Geschichte
angedeutete Beängstigende und Tragische und das in der Luft schwe-bende Geheimnis treten in den
Hintergrund und werden von einem triumphierenden Lebensbild ersetzt.
In diesem Moment ist Jürgen
ganz Kind und damit wehrlos. Dem Mann ist es somit gelungen, sein Ver-trauen zu gewinnen. Aus dem
vermeintlich starken Wesen, das durch die Bestimmung des Erzählers als "mutig", "verächtlich",
"gering-schätzig" charakterisiert wurde, schält sich ein Kind, das seiner Pflicht gegenüber "unsicher"
wird. Es fängt an, dem alten Mann die Gründe seines Verharrens in der Ruine mitzuteilen ("ich muß
doch aufpas-sen", "Nachts auch. Immerzu. Immer"), aber er "flüstert" dabei, spricht "zaghaft" und
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"traurig".
Hierbei wechseln Verhaltens- und Sprechweise gleichzeitig. Dadurch wird die Figur als Kind
immer deutlicher gekennzeichnet: Der im Erstaunen geöffnete "runde Mund" charakterisiert ganz
deutlich die Persönlichkeit des Kindes; das "Aufpassen müssen", "nachts auch. Immerzu" und die
"Blech-schachtel" stellen hingegen einen Widerspruch zur kindlichen Welt dar, denn sie gehören zur
Welt der Großen. Aber die Realität, die Jürgen umgibt, zeigte schon vorher die Zeichen einer
umgestürzten Welt: den Schutt, die Angst, festgenommen zu werden, die Betonung eines
unauf-hebbaren, gefährlichen Zwangs. Der Grund für diese Veränderung der Welt ist noch ungeklärt -
und wieder bedarf es eines psychologischen Tricks, um endlich an das Geheimnis des Jungen
heranzukönnen. Dieses schließlich zeichnet ein tragisches Bild der Welt: das Kind, das die Totenwache
für seinen Bruder hält, ihn vor den Ratten schützt, "die doch von Toten essen".
Der Krieg hat die
kindliche Welt durchein-ander gebracht: Er zerstört Dinge und Menschen und trifft mit der gleichen
Wucht auch auf die Seele der noch am Leben gebliebenen Kinder. Er beraubt sie ihrer Kindheit, zwingt
sie zum Anblick unsag-barer Gräuel, verweigert ihnen dadurch ihre kindliche Beziehung zur Realität und
den Menschen. Sie werden somit dazu gezwungen, die Dinge aus der Perspektive der Erwachsenen zu
sehen. Der Alte in der Erzählung sucht weder Trostworte für das Kind, noch versucht er es von seiner
selbst aufgezwungenen Pflicht abzubringen. Statt dessen findet er einen Weg, der Jürgens großes Opfer
nicht mindert, das Kind aber dafür wieder in den Lebensraum zurückführt, dem er eigentlich zugehören
sollte: Die Notlüge, die der Mann benutzt - "Nachts schlafen die Ratten doch" - hat eine rettende
Funktion. Als dem Bereich des Lebens zugehöriger Hüter und Förderer schenkt er dem Kind also eine
Art Zuflucht, eine neue Perspektive finden zu können.
Jürgens Vorstel-lung nimmt unmittelbar das
Hoffnungsangebot an und fixiert es in Bildern, die allmählich wieder Leben in sich aufnehmen: Das Bild
der fresslustigen Ratten wird in seinem Inneren vom Bild der Kaninchen ersetzt, die hier als das Symbol
des Lebens gelten. Die krummen Beine des Mannes, die von der Sonne noch einmal beschienen
werden (die Wiederholung erhöht die Bedeutung der Funktion des vom Leben ge-zeichneten Alten),
sind ein Signal dafür, dass er schon am Anfang als Vermittler des Lebens dasteht: Sie lassen die Sonne
hindurchscheinen, so dass das Leben in Jürgen hineinströmen kann.
Selbst die Farben, deren symbolische Bedeutung sich im Verlauf der Erzählung weiter verdeutlicht,
gehören zum Werk des Alten. Die Farben, die der Erzähler zu Beginn gebraucht ("blaurot") oder
sug-geriert (grau und grün) oder später verwendet ("weiß", "grau", "weißgrau"), erscheinen zum Teil
am Ende der Kurzgeschichte wieder: die Sonne bleibt "rot", das Kaninchenfutter wird schließlich
"grün", und "grau" ist am Ende die Farbe des Schutts, die jedoch auch auf das Kaninchenfutter abfärbt.
Wenn man sich vorstellen wollte, worauf dieses "grün " hinweist, das etwas "grau vom Schutt"
geworden ist, dann könnte man es als Symbol für die Annäherung des Alten (des Lebens) an das
Tragische sehen. Er hat sich zwar von der Nachtwelt des Krieges berühren lassen, doch er behält bis
zum Ende seine lebensspen-dende Funktion.
Die dynamische Entwicklung dieser Kurzgeschichte (Borchert gilt als hervorragender Vertreter dieser in
der Nachkriegsliteratur neu verwen-deten Form) wird durch einen Prozess in Gang gebracht, der aus
der Welt der Trümmer, des Todes, des Misstrauens, der Nacht, zurück in die Welt des Vertrauens,
des Lichtes, der Freundschaft, des Lebens führt. Dabei werden immer wieder sowohl sprachliche als
auch bild-liche Gegensätze verwendet und nebeneinandergestellt. Durch ihr Auf-einanderprallen
entwickelt sich die Handlung. Diese Handlung - der Übergang von einem Zustand (grau, düster,
trostlos, tot) in einen an-deren (rot, warm, lebendig, hoffnungsvoll) - entsteht im und aus dem
Gespräch. Die Handlung, durch die sich diese Entwicklung vollzieht -
d.h.
den Übergang von einem Zustand in den anderen - entsteht im und aus dem Gespräch.
Schon zu Anfang hatte sich der jeweilige sprachlich-stilistische Raum bereits stark differenziert, obwohl
beide Gestalten während des gesam-ten Gesprächs die Umgangsprache verwenden. Bei Jürgen sind es
hauptsächlich kurze Sätze und auch Satzbrocken; manchmal antwortet er sogar bloß einsilbig. Der Alte
gebraucht ebenso kurze Sätze, anfangs fast ausschließlich Fragesätze und später auch Aussagesätze
("Na, denn nicht [...
]"). Kurz nach dem ersten Annäherungsversuch von Seiten des Mannes
differenziert sich das Sprechen beider Gestalten noch mehr. Beim Alten ist es von der Absicht geprägt,
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in die Seele des Kindes ein-zudringen und sein Geheimnis zu erfahren. Dadurch weitet sich sein
Sprechen aus und nimmt neue Bezüge an. Sein Ausfragen und seine Bemerkungen bezüglich Jürgens
Antworten, beginnen schon in diesem Teil von der bereits erwähnten psychologischen Strategie
bestimmt zu werden. Diese wird nach den ersten positiven Ergebnissen raffinierter, als Jürgen nämlich
anfängt, erste Andeutungen bezüglich seines Ge-heimnisses zu machen.
Später benutzt der Mann den
schon früher gebrauchten Trick des ,Einverständnisses in die Verneinung' ("Na, denn nicht [...]";
"Naja, wenn du hierbleiben musst [...
]") und verursacht dadurch die ersten wahren Zugeständnisse des
Kindes und schließlich den eigentlichen Bericht. Wie schon zu Beginn des Ge-sprächs mit dem Hinweis
"Der Mann sah von oben auf das Haarge-strüpp herunter", führt der Erzähler auch hier wieder mit
demselben hervorhebenden Eingriff, eine weitere, d.h. die letzte Phase des Dialogs ein, in welcher sich
Jürgens Wandlung vollzieht. Zusammen mit der Notlüge, die nur das entsetzlichste Grauen zu beseitigen
versucht, wirkt das versprochene Kaninchen, therapeutisch' vervollständigend, weil es dadurch wieder
das Innenleben des Jungen herstellt. Was die Sprech-weise des Kindes hingegen betrifft, so verwandelt
sich diese ganz offensichtlich zunehmend, zuerst nachdem Jürgen erfahren hat, dass der Alte 27
Kaninchen besitzt (sie wird zwar unsicherer, doch etwas freier) und dann besonders nach dem
mühsamen, in gebrochenen Sätzen ge-flüsterten Bericht des furchtbaren Erlebnisses während des
Bomben-angriffs.
Sein Sprechen wird allmählich direkter und vollständiger: Das Kind äußert seine
Zweifel, fragt zurück und bittet um ein Kaninchen.
Am Ende wird sein Sprechen sogar zum Rufen, das voll von Leben und Hoffnung auf ein bisschen
Glück in der zerstörten Welt ist.
c. Aussage der Geschichte (im Bezug auf die Nachkriegszeit)
· Die ältere Generation muss dafür sorgen, der jüngeren wieder einen Lebenswillen zu
geben
· Der Text soll den Leser dazu anregen, Lösungsmöglich-keiten zu finden, und der
jüngeren Generation wieder Mut machen
· Jede Generation ist mitverantwortlich ("Mitschuld")
VI. Schluss
Zusammenfassend kann man sagen, dass wir alle Aufgaben, die wir uns gestellt, im Großen und Ganzen auch erfüllt
haben. Dies war allerdings teilweise nicht gerade einfach, da doch nicht so viel Material vorhanden, wie wir
glaubten.
Deshalb lag der Schwerpunkt auf der Interpretation der Kurzgeschichte.
Der Titel der Geschichte wies gleich auf etwas ungewöhnliches hin, da Wolfgang Borchert sonst eher Titel
verwendet wie "Das Brot" oder "Draußen vor der Tür". Aus diesem Grund haben wir uns für diese Geschichte
entschlossen.
Positiv an der Geschichte ist, dass sie ein System hat, dass aus mehreren Phasen besteht.
Das hohle Fenster in der vereinsamten Mauer gähnte blaurot voll früher Abendsonne. Staubgewölke flimmerte zwischen den
steilgereckten Schornsteinresten.
Die Schuttwüste döste.
Er hatte die Augen zu. Mit einmal wurde es noch dunkler. Er merkte, dass jemand gekommen war und nun vor ihm stand,
dunkel, leise. Jetzt haben sie mich! dachte er. Aber als er ein bisschen blinzelte, sah er nur zwei etwas ärmlich behoste Beine.
Die standen ziemlich krumm vor ihm, dass er zwischen ihnen hindurchsehen konnte. Er riskierte ein kleines Geblinzel an den
Hosenbeinen hoch und erkannte einen älteren Mann. Der hatte ein Messer und einen Korb in der Hand. Und etwas Erde an
den Fingerspitzen.
Du schläfst hier wohl was? fragte der Mann und sah von oben auf das Haargestrüpp herunter. Jürgen blinzelte zwischen den
Beinen des Mannes hindurch in die Sonne und sagte: Nein, ich schlafe nicht.
Ich muss hier aufpassen. Der Mann nickte: So,
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dafür hast du wohl den großen Stock da?
Ja, antwortete Jürgen mutig und hielt den Stock fest.
Worauf passt du denn auf?
Das kann ich nicht sagen. Er hielt die Hände fest um den Stock. Wohl auf Geld, was? Der Mann setzte den Korb ab und
wischte das Messer an seinem Hosenboden hin und her. Nein, auf Geld überhaupt nicht, sagte Jürgen verächtlich.
Auf ganz
etwas anderes.
Na, was denn?
Ich kann es nicht sagen. Was anderes eben.
Na, denn nicht. Dann sage ich dir natürlich auch nicht, was ich hier im Korb habe. Der Mann stieß mit dem Fuß an den Korb
und klappte das Messer zu.
Pah, kann ich mir denken, was in dem Korb ist, meinte Jürgen geringschätzig, Kaninchenfutter.
Donnerwetter, ja! sagte der Mann verwundert, bist ja ein fixer Kerl. Wie alt bist du denn?
Neun.
Oha, denk mal an, neun also. Dann weißt du ja auch, wieviel drei mal neun sind, wie?
Klar, sagte Jürgen und um Zeit zu gewinnen, sagte er noch: Das ist ja ganz leicht. Und er sah durch die Beine des Mannes
hindurch.
Dreimal neun, nicht? fragte er noch mal, siebenundzwanzig, Das wusste ich gleich.
Stimmt, sagte der Mann, genau soviel Kaninchen habe ich.
Jürgen machte einen runden Mund: Siebenundzwanzig?
Du kannst sie sehen. Viele sind noch ganz jung. Willst du?
Ich kann doch nicht. Ich muss doch aufpassen, sagte Jürgen unsicher.
Immerzu? fragte der Mann, nachts auch?
Nachts auch. Immerzu. Immer. Jürgen sah an den krummen Beinen hoch. Seit Sonnabend schon, flüsterte er.
Aber gehst du denn gar nicht nach Hause? Du musst doch essen.
Jürgen hob einen Stein hoch. Da lag ein halbes Brot. Und eine Blechschachtel.
Du rauchst? fragte der Mann, hast du denn eine Pfeife?
Jürgen faßte seinen Stock fest an und sagte zaghaft: ich drehe. Pfeife mag ich nicht.
Schade, der Mann bückte sich zu seinem Korb, die Kaninchen hättest du ruhig mal ansehen können.
Vor allem die jungen.
Vielleicht hättest du dir eines ausgesucht. Aber du kannst hier ja nicht weg.
Nein, sagte Jürgen traurig, nein nein.
Der Mann nahm den Korb und richtete sich auf. Na ja, wenn du hierbleiben musst - schade.
Und er drehte sich um. Wenn du
mich nicht verrätst, sagte Jürgen da schnell, es ist wegen den Ratten.
Die krummen Beine kamen einen Schritt zurück: Wegen den Ratten?
Ja, die essen doch von Toten. Von Menschen. Da leben sie doch von.
Wer sagt das?
Unser Lehrer.
Und du passt nun auf die Ratten auf? fragte der Mann.
Auf die doch nicht! Und dann sagte er ganz leise: Mein Bruder, der liegt nämlich da unten. Da. Jürgen zeigte mit dem Stock auf
die zusammengesackten Mauern. Unser Haus kriegte eine Bombe. Mit einmal war das Licht weg im Keller.
Und er auch. Wir
haben noch gerufen. Er war viel kleiner als ich. Erst vier. Er muss hier ja noch sein. Er ist doch viel kleiner als ich.
Der Mann sah von oben auf das Haargestrüpp. Aber dann sagte er plötzlich: Ja, hat euer Lehrer euch denn nicht gesagt, dass
die Ratten nachts schlafen?
Nein, flüsterte Jürgen und sah mit einmal ganz müde aus, das hat er nicht gesagt.
Na, sagte der Mann, das ist aber ein Lehrer, wenn er das nicht mal weiß. Nachts schlafen die Ratten doch. Nachts kannst du
ruhig nach Hause gehen. Nachts schlafen sie immer.
Wenn es dunkel wird, schon.
Jürgen machte mit seinem Stock kleine Kuhlen in den Schutt. Lauter kleine Betten sind das, dachte er, alles kleine Betten. Da
sagte der Mann (und seine krummen Beine waren ganz unruhig dabei): Weißt du was? Jetzt füttere ich schnell meine Kaninchen
und wenn es dunkel wird, hole ich dich ab. Vielleicht kann ich eins mitbringen. Ein kleines oder, was meinst du?
Jürgen machte kleine Kuhlen in den Schutt.
Lauter kleine Kaninchen. Weiße, graue, weißgraue. Ich weiß nicht, sagte er leise
und sah auf die krummen Beine, wenn sie wirklich nachts schlafen.
Der Mann stieg über die Mauerreste weg auf die Straße. Natürlich, sagte er von da, euer Lehrer soll einpacken, wenn er das
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nicht mal weiß.
Da stand Jürgen auf und fragte: Wenn ich eins kriegen kann?
Ein weißes vielleicht?
Ich will mal versuchen, rief der Mann schon im Weggehen, aber du musst hier solange warten.
Ich gehe dann mit dir nach
Hause, weißt du? Ich muss deinem Vater doch sagen, wie so ein Kaninchenstall gebaut wird. Denn das müsst ihr ja wissen.
Ja, rief Jürgen, ich warte. Ich muss ja noch aufpassen, bis es dunkel wird. Ich warte bestimmt. Und er rief: Wir haben auch
noch Bretter zu Hause.
Kistenbretter, rief er.
Aber das hörte der Mann schon nicht mehr. Er lief mit seinen krummen Beinen auf die Sonne zu. Die war schon rot vom
Abend und Jürgen konnte sehen, wie sie durch die Beine hindurchschien, so krumm waren sie. Und der Korb schwenkte
aufgeregt hin und her. Kaninchenfutter war da drin.
Grünes Kaninchenfutter, das war etwas grau vom Schutt.
Quellenverzeichnis
Primärliteratur:
Borchert, Wolfgang. Draußen vor der Tür. 85. Auflage Februar 2003. Rowohlt Taschenbuch Verlag.
Reinbeck bei Hamburg
1956.
Sekundärliteratur:
https://www.leixoletti.de/interpretationen/nachtssc.htm
Microsoft Encarta Enzyklopädie 2002
https://www.dhm.
de/lemo/html/biografien/BorchertWolfgang/
https://www.uni-essen.de/literaturwissenschaft-aktiv/nullpunkt/pdf/borchert_ratten.pdf
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