Klassik-iphigenie
Deutsche Klassik
In der Stoffauswahl der Iphigenie manifestiert sich die grundlegende Hinwendung Goethes zum Begriff des Klassischen. Die Bedeutung der Klassik ist sowohl im literaturhistorischen als auch im zeitgenössischen Zusammenhang anders zu bewerten als dies oftmals aus dem Gesamtüberblick der heutigen Zeit möglich ist. "Jahrzehntelang haben die Werke der deutschen Klassik in der Art ihrer Rezeption eine Sonderstellung vor den Werken anderer Epochen der deutschen Literatur innegehabt û sie galten für alle spätere Literatur als unerreichtes und unerreichbares Vorbild." Die deutsche Klassik nimmt als Widerpart zu anderen zeitgenössischen Entwicklungen in der Literatur eine Sonderstellung ein. Trotz ihrer anerkannten Einzigartigkeit muß sie von den Klassikbegriffen anderer Zusammenhänge losgelöst betrachtet werden. "Bis ins 20.
Jahrhundert bedeutete ©Deutsche Klassik½ vor allem Weimarer Klassik. Der Name ©Klassik½ taucht als Epochenbezeichnung zwar gelegentlich schon seit 1839 auf, verbreitet sich aber erst vom Ende des 19. Jahrhunderts an." Der Klassizismus der Goethezeit ist als deutsche Eigenheit in der Zuordnung einer Epoche gegenüber anderen Strömungen zu betrachten. Die fehlende Vereinheitlichung der Epochen und deren Kulturbegriffe wird unterstrichen durch die unterschiedlichen Klassikbegriffe des Literaturbetriebs in den verschiedenen europäischen Hochburgen und deren jeweils differenzierten Zuordnungen. Die Bezeichnung dieser Periode deutscher Dichtung als Klassik, verbunden mit bestimmten Persönlichkeiten läßt sich jedoch, gerade was die Entwicklung der Protagonisten dieser auch als geistige Haltung etablierten Epoche betrifft, nicht als der Kern deren Schaffens darstellen: "Weder können gesamter Lebenslauf und gesamtes Denken und Schaffen Goethes und Schillers unter der Chiffre éklassischæ verbucht werden, noch kann die Bezeichnung ©Deutsche Klassik½ dem ganzen Zeitabschnitt von etwa 1790 bis 1805 gerecht werden.
So wie die klassische Phase Goethes und Schillers nur einen Teil ihres Lebens umfaßt, so ist die ©Deutsche Klassik½ nur eine Strömung neben anderen zur gleichen Zeit." Deshalb sei hier der Hinweis erlaubt, daß die kennzeichnenden Elemente der Klassik schon in der zeitgenössischen Rezeption vor dem Hintergrund der Aufklärung ebenso so schwer mit der damit verbundenen Geisteshaltung zu vereinbaren waren wie mit der daran entwickelten Kunst- und Kulturauffassung. "Wenn Goethe mit Iphigenie und Tasso auf die klassische Form der Regeltragödie zurückgreift, so ist dieser Bruch mit der bürgerlich-aufklärerischen Literaturauffassung außerordentlich schwer zu erklären" Die Klassik wurde vom aufgeklärten Bürgertum û auch und gerade in bezug auf seine Hinwendung zu einem adligen Publikum û als Rückschritt gegenüber der bereits erreichten Literaturstandards angesehen.Goethe und Schiller werden erstmals um 1830, also nach ihrem Tod, als Klassiker bezeichnet. "Ungefähr um die Jahrhundertmitte hat sich also û freilich ausschließlich im deutschen Sprachraum û die Vorstellung von einer Klassik des Weimarer Dichterbundes durchgesetzt." Dieser Klassikbegriff rekurriert in erster Linie auf das von den beiden Dichterfürsten wiederbelebte Ideal der klassischen Tragödie, daß sein Vorbild im antiken Griechenland sieht.
Der Literaturbetrieb zu Goethes Weimarer Zeit orientiert sich an den Leitbildern "einer innigen Verbindung deutschen Grundverhaltens mit der antiken, besonders der griechischen Kultur als einem idealen Leitbild". Die Kunstauffassung der zeitgenössischen Rezipienten war ebenfalls stark von den Vorbildern der griechischen Tragödie geprägt, deren Vorrangstellung zuvor bereits die französische Klassik beeinflußt hatte und nun an den Bühnen der deutschen Fürstenhöfe ihren Tribut verlangte. "©Goethe und Schiller führten zu einem Kunstideal zurück, das seit den Griechen niemand mehr als geahnt hatte½. Gervinus erblickt also in der Poesie der beiden Weimarer Dichter eine die bisherigen Renaissancen der Antike weit hinter sich lassende Wiederkehr des griechischen ©Kunstideals½." Daß die Schöpfung dieser beiden deutschen Literaten einen solchen Stellenwert erworben hat, liegt nicht zuletzt an der Vielseitigkeit der Dichter und an deren Bedeutung, die sie schon zu Lebzeiten, ja bereits vor ihrem Eintritt in die durch sie zu begründende "Deutsche Klassik" erlangt hatten. Zu beachten bleibt, daß die Absicht der Künstler keineswegs in bewußten Einsatz ihrer Einzigartigkeit zu suchen ist.
Der Geniekult, der die Zeit des Sturm und Drang charakterisiert hat, ist überwunden und abgelöst durch einen literarischen Produktionsprozeß, der durch eine neue Form des Schaffens gekennzeichnet ist. "©Deutsche Klassik½ ist zu begreifen als ein Antwortmodell auf Herausforderungen einer zeitgeschichtlichen Phase und innerhalb damit verbundener persönlicher Entwicklungen denkender und schöpferischer Persönlichkeiten." Die Auswirkungen biographischer Entwicklungen und Stationen hinsichtlich der Tendenz zu klassischen Stoffen und Formen können daher nicht unberücksichtigt bleiben. Der Standort der Literaturproduktion und die Bedingungen der Literaturproduktion im Rahmen einer Anstellung an einem Fürstenhof muß ebenfalls sowohl in die Betrachtung der Situation des Dichters als auch die Entwicklung der Stilform einfließen "Mit ihrer Entscheidung für den Weimarer Hof mögen Schriftsteller wie Goethe und Schiller daher auch die Hoffnung verbinden, von den wechselnden Bedürfnissen und Anforderungen des lesenden Publikums unabhängig, in einem größeren Freiheitsspielraum, ihre ästhetische Konzeption verwirklichen zu können" Die genannten Aspekte beschreiben Zusammenhänge in der Werktradition, die in Beziehung zueinander stehen und lassen - gerade was den Verlauf Goethes Karriere am Weimarer Hof angeht û Rückschlüsse auf die Entstehung einiger Werke der sogenannten Weimarer Klassik zu, die an anderer Stelle genauer erörtert werden.Werk und Person der beiden berühmtesten Vertreter der deutschen Literatur stehen somit gerade durch den Klassikbegriff jenseits jeder Kritik und führen zu einer Ausnahmestellung des Werks außerhalb des tradierten Werkzusammenhangs.
"Durch die exklusive Erhöhung Goethes und Schillers [.
..] werden sie der älteren europäischen Klassiktradition entrückt, und die faktische Verflochtenheit ihrer Dichtungen in die römischen, italienischen, französischen, englischen und deutschen Vermittlungen der Antike wird negiert. Es kommt in dieser Idolisierung auch nicht auf geschichtliche Zusammenhänge, sondern auf die durch die Einzigartigkeit der Griechen zu bestätigende Einzigartigkeit der Weimarer Dichtung an. Jenseits der zu Ende gegangenen europäischen Klassiktradition, nach deren Maßen die deutsche Blütezeit gar keine Klassik sein kann, sondern der Moderne zugehört, entstand so in den Köpfen deutscher Literaturhistoriker die deutsche Klassik."
Klassik manifestiert sich in der Literatur aus heutiger Sicht zum einen durch die Orientierung an Vorbildern, die in unserem Fall bereits zu Zeiten Goethes bedeutende Geltung erlangt haben.
"Der Titel ©Deutsche Klassik½ schließt mehr noch als andere Bezeichnungen wertende Bedeutungselemente ein, [...]. Im Begriff des Klassischen bleiben vor allem Vorstellungen von Beispielhaftem, Bedeutendem, Erlesenem versammelt, was immer damit im einzelnen gemeint sein mag, und der Traditionszusammenhang mit der (klassischen) Antike und einem ihr zugesprochenen Kunstideal wird, zumindest für den Kundigen, mit diesem Wort bedeutet."
Ansprüche hinsichtlich Form, Inhalt und Ablauf eines Dramas orientieren sich an bereits gegebenem.
"Die Klassik ist nicht als literarische Revolution zu begreifen, sondern nur als Übersteigerung längst herrschender Ansichten, die in ihr freilich auf einen äußersten Höhepunkt gebracht werden". Die Kunstform wird nicht neu eingeführt, sondern erhöht durch die neuerliche Auseinandersetzung mit dem Genre die Etablierung zusätzlicher Betrachtungsweisen. Rückblickend handelt es sich um seinerzeit bereits etablierte Konturen "einer vollendeten dichterischen Leistung, einer den höchsten künstlerischen Maßstäben gerecht werdenden Stilform, in der sich Stoff, Gehalt und Gestalt zu unlösbarer Einheit verbinden."Dennoch orientiert sich die Klassik nicht allein an der Wiederaufnahme bereits vorgegebener Konventionen. Die Leistung geht über die Orientierung an traditionellen Vorbildern hinaus û hin zu einer Kombination der unterschiedlichen Ansätze zeitgenössischer Literaturbearbeitung:
"das sprachliche Vermögen zur Synthetisierung gelegentlich sogar heterogener Materialien ist enorm, und wenn die Synthese die große Leistung der Klassik ist, so ist sie das nicht nur als gedankliches Unternehmen, sondern vor allem und in erster Linie als Fähigkeit zur sprachlichen Verdeutlichung der bis dahin oft nur diffus und jeweils für sich formulierten Einsichten".
Daß Goethes Iphigenie geradezu als beispielhaft für diese Verbindung unterschiedlicher Ambitionen literarischer Produktion steht, läßt sich an den Betrachtungen hinsichtlich Tradition und Moderne in der literarischen Essenz der aus der Antike hervorgehenden deutschen Klassik erkennen.
"Zur Zeit der Niederschrift der Iphigenie wurde in Deutschland die Diskussion um das Verhältnis von Antike und Moderne noch mit aller Lebhaftigkeit geführt." Die Antike stellt für den Bereich der Kunst die erste Stufe der Vollkommenheit dar, die durch den Eintritt in die Moderne verloren geht. Die Verbindung von Antike und Moderne vollzieht sich für Schlegel jedoch in der deutschen Klassik, "eine aus dem ©Interessanten½, der Kategorie der Moderne, hervorgehende Kunst, die dem griechisch vorabgebildeten Typus des objektiv Schönen auf moderne Weise entspricht. In diesem Verständnis erscheinen Goethes klassische Werke, z. B. die Iphigenie, als ©eine unwiderlegliche Beglaubigung, daß das Objektive der Griechen wieder möglich und die Hoffnung des Schönen kein leerer Wahn der Vernunft sei.
"
Anmerkungen: |
| impressum | datenschutz
© Copyright Artikelpedia.com