Franz kafka, in der strafkolonie (entstanden 1914)
13/6 Deutsch, Klausur Nr. 6, 02.12.2003
Text:
Franz Kafka, In der Strafkolonie (entstanden 1914)
Aufgabenstellung:
1. Charakterisiere die Person des Forschungsreisenden! (Wie wird er durch den Erzähler dargestellt? Wie verhält er sich in bestimmten Situationen? Wie ist sein Verhalten zu bewerten?
2. Erläutere und erörtere folgenden Interpretationsansatz:
„Die Erzählung stellt die Konstellation dar, die den modernen Krieg bestimmt: die Kopplung von Technik und Barbarei, vor der die europäische Humanität versagte.
“
(Inwiefern kannst du diesem Interpretationsansatz zustimmen? Ist es gerechtfertigt von einem Versagen zu sprechen?)
-1) In der Erzählung „In der Strafkolonie“, die Franz Kafka im Jahre 1914 schrieb, geht es um einen Forschungsreisenden, der eine Strafkolonie in den Tropen besucht und dort einer Exekution beiwohnen soll.
Diese Exekution wird jedoch nicht vollzogen, vielmehr richtet sich der zuständige Richter und Vollstrecker selbst, nachdem er den Reisenden nicht für seine äußerst brutale Hinrichtungsmaschine gewinnen kann.
Den Reisenden kann man als die Hauptfigur von Kafkas Erzählung festlegen. Was dem Leser sofort auffällt, ist seine sehr passive, seltsam unbeteiligte Haltung gegenüber den Geschehnissen. Am Anfang heißt es, dass er „nur aus Höflichkeit der Einladung des Kommandanten“ (S. 100) gefolgt sei und außerdem, dass er „wenig Sinn für den Apparat“ (S.
100) habe.
Zu Beginn erklärt der Offizier dem Reisenden, wie die Maschine aufgebaut ist, und auch hier ist das Desinteresse des Gastes nicht zu übersehen („Er hatte nicht ganz aufmerksam zugehört“, S. 101).
Erst langsam lässt er sich auf die Erklärung des Offiziers ein. Nun würde man erwarten, dass aufgrund der brutalen Methode, die der Offizier zunächst nur andeutet, der Reisende entsetzt ist und in irgendeiner Weise Emotionen zeigt. Sein einziger Kommentar ist jedoch: „Das ist Watte?“ (S.
102).
Auch wenn es heißt „Der Reisende war schon ein wenig für den Apparat gewonnen“ (S.102), kann der Leser das Interesse des Reisenden gegenüber dem Apparat kaum verstehen.
Als der Offizier dem Reisenden erklärt, dass der Verurteilte weder von seiner Verurteilung noch von seiner Exekution weiß und auch nicht die Möglichkeit hatte, sich zu verteidigen, wird zum ersten Mal deutlich, dass der Reisende dem Verfahren gegenüber nicht mehr gleichgültig ist, sondern es ablehnt („Er muss doch Gelegenheit gehabt haben, sich zu verteidigen“, S.104).
Jedoch lässt er sich vom Offizier, der ihm zu verstehen gibt, dass die Schuld immer „zweifellos“ (S.
104) sei, schnell wieder beruhigen und kehrt zu seiner passiven Haltung zurück.
Zwar macht er sich Gedanken („Die Mitteilung über das Gerichtsverfahren hatte ihn nicht befriedigt“), aber wiederum hört er aufmerksam, ohne Emotionen zu verraten dem Offizier zu, der nun die Hinrichtung in ihrer vollsten Grausamkeit erklärt, und tröstet sich mit dem Gedanken: „Es ist immer bedenklich, in fremde Verhältnisse entscheidend einzugreifen“ (S.109), auch wenn „die Ungerechtigkeit des Verfahrens und die Unmenschlichkeit der Exekution“ (S.109) für ihn außer Frage stehen.
Als dann die Exekution beginnen soll und der Verurteilte auf der Maschine liegt, sieht man wieder keine Emotionen und keine Empörung darüber, dass vor seinen Augen ein Mensch zu Tode gequält werden soll. Er hat kein Mitleid mit dem Verurteilten und reagiert nicht, als dieser ihm hilfesuchend die Hand entgegenstreckt.
Erst als er vom Offizier geradezu genötigt wird, nimmt er Stellung, allerdings braucht es auch dazu drei Anläufe. Der Offizier erklärt ihm, wie die Exekutionen früher abgelaufen sind, unter dem alten Kommandanten, und versucht, den Reisenden für sich zu gewinnen („merken sie die Schande?“, S.112).
Er bittet den Reisenden ihm zu helfen, doch dieser lässt nur verlauten: „Sie überschätzen meinen Einfluss“ (S.113).
Der Offizier wird dringlicher und formuliert seine Bitte nun als Aufforderung („Helfen sie mir gegenüber dem Kommandanten!“, S.
114) und wieder vermeidet der Reisende die Konfrontation und sagt nur: „Ich kann ihnen ebenso wenig nützen, als ich ihnen schaden kann“ (S.114).
Erst im dritten Anlauf, nachdem der Offizier ihm seinen kompletten Plan dargelegt hat, sagt der Reisende letztendlich seine Meinung („Ich bin ein Gegner dieses Verfahrens“, S.116).
Als Folge dessen lässt der Offizier den Verurteilten frei und will sich selbst richten. Der Reisende „wusste zwar, was geschehen würde“ (S.
119), greift aber wieder nicht ein („aber er hatte kein Recht, den Offizier an irgendetwas zu hindern“, S,119).
Auch als die Maschine anfängt zu arbeiten, interessiert sich der Reisende eher für die Maschine als für den Offizier (Der Reisende dagegen war sehr beunruhigt; die Maschine ging offenbar in Trümmer“, S.121).
Erst als das Grauen der Hinrichtung des Offiziers nicht mehr zu ertragen ist, schreit der Reisende: „Helft doch“ (S.121), es ist jedoch nichts mehr zu machen.
Auch als er am Tag darauf das Grab des alten Kommandanten besucht und das Gefühl hat, dass die Einwohner eine Stellungnahme von ihm wollen, tut er „als merke er das nicht“ (S.
122 f.).
Schließlich flieht er von der Insel und hindert den Verurteilten und den Soldaten daran, mit ihm zu kommen. Er will mit der ganzen Sache nichts mehr zu tun haben.
Der Erzähler ist in dieser Erzählung ein Er-Erzähler. Außensicht und Innensicht wechseln sich ab.
Allerdings ist die Erzählhaltung eher sachlich und distanziert, mit vielen emotionslosen Bemerkungen über die Exekution, so dass sie sehr gut zur Haltung des Reisenden passt.
Insgesamt kann man sagen, dass die rationalistische Kälte der Gedanken des Reisenden beinahe unmenschlicher ist als der Fanatismus des Offiziers. Sein Verhalten ist also äußerst problematisch, da er nicht für die Menschenrechte, deren er ja ein Vertreter zu sein scheint, eintritt, aus Angst, Sitten und Gebräuche eines anderen Landes zu verletzen. Allerdings darf so etwas meiner Meinung nach nicht geschehen. Gerade bei einer solch grausamen, unmenschlichen Sache, darf man nicht unbeteiligt zusehen, sondern muss eingreifen!
Dass die sim 20. Jahrhundert aber oft genug nicht der Fall war, wissen wir alle.
Darauf möchte ich allerdings in 2) noch näher eingehen.
2) Ich denke, dass dieser Interpretationsansatz auf jeden Fall auf die Erzählung Franz Kafkas passt, allerdings glaube ich, dass er längst nicht alle Möglichkeiten der Interpretation umfasst, die die „Strafkolonie“ bietet.
Kafka selbst hat ja gesagt: „Kunst ist wie eine Uhr, die vorgeht“, man kann die Erzählung also als prophetische Vision der unvorstellbaren Grausamkeiten ansehen, die im 20. Jahrhundert von Menschen an Menschen verübt worden sind. Allerdings spricht ein zweites Zitat Kafkas -„Zur Erklärung dieser (..
.) Erzählung füge ich nur hinzu, dass nicht nur sie peinlich ist, dass vielmehr unsere allgemeine und meine besondere Zeit gleichfalls sehr peinlich war und ist“- dafür, dass die Interpretation sich nicht nur auf eine Zukunftsvision Kafkas beziehen darf, sondern auch innerhalb seiner Zeit ansetzen muss.
Meiner Meinung nach gibt es auf jeden Fall einen Zusammenhang mit dem ersten Weltkrieg, der ja im Jahre 1914 ausgebrochen ist. Dieser Krieg war geprägt von barbarischer Gewalt, viele neue Maschinen und Techniken wurden entwickelt und angewandt. Die Einstellung des Offiziers „Die Schuld ist immer zweifellos“ ist auch im Krieg die Einstellung eines jeden Kämpfenden. Denn wie könnte man sonst einen anderen Menschen töten, der einem nichts getan hat, außer, dass er nicht der eigenen Armee angehört?
Kafka war entschieden gegen den Krieg.
Im Jahre 1914 schrieb er in einem Brief: „Ich entdecke in mir nichts als Kleinlichkeit, Entschlussunfähigkeit, Neid und Hass gegen die Kämpfenden, denen ich mit aller Leidenschaft alles Böse wünsche“.
Alleings kann man die „Strafkolonie nicht als Anti-Kriegs-Parabel verstehen, denn bei näherem Hinsehen fällt auf, dass Gewalt nicht das Hauptthema ist, sondern vielmehr die Teilnahmslosigkeit des Reisenden gegenüber dieser Gewalt. Auch dies umfasst der gegebene Interpretationsansatz, der vom Versagen der „europäischen Humanität“ spricht. Der Reisende repräsentiert den typischen Mitläufer.
Zwar analysiert er das Geschehen und kommt zu dem Ergebnis, dass er auf jeden Fall gegen die erklärte Verurteilungs- und Hinrichtungsmethode ist, greift aber –sei es aus Angst, andere oder sich selbst zu verletzen oder aus bloßer Unfähigkeit zu handeln- nicht ein.
Der Reisende repräsentiert außerdem die Werte der Aufklärung, auf die Europa ja so stolz ist.
Allerdings kapituliert er vor der technologischen Welt und versucht nicht, die Barbarei zu stoppen.
Aber wie ich schon gesagt habe, kann man sich nicht nur auf die Interpretation, die auf den Krieg und das „neue Europa“ eingehen, beziehen.
Auch biographische Ansätze sind möglich. Zum Beispiel war im Jahre 1914 auch Kafkas Verlobung mit Felice Bauer, mit der er nicht zufrieden war ( „(...
)war gebunden wie ein Verbrecher. Hätte man mich mit wirklichen Ketten in einen Winkel gesetzt (...) und hätte mich nur auf diese Weise zuschauen lassen, es wäre nicht ärger gewesen.“):
Außerdem arbeitete er in einer Arbeiter-Unfall-Versicherung, hatte also ständig mit Menschen zu tun, die durch Maschinen verstümmelt worden waren.
Und letztendlich war das Schreiben für ihn eine körperliche Folter, selbst wenn es für ihn notwendig war ( „(...) dass mein Leben mit seinen immer tiefer ins Detail sich uniformierenden Tagen den Strafarbeiten gleicht, bei denen der Schüler (...
) zehnmal, hundertmal oder noch öfter den gleichen Satz schreiben muss, nur dass es sich bei mir um die Strafe handelt, bei der es heißt: ‚So oft, als du es aushältst’“). Hier ist also eine Verbindung zu dem „eigentümlichen Apparat“ aus der „Strafkolonie“ zu sehen.
In der Erzählung Kafkas ist es noch relativ leicht vom Versagen des Reisenden zu sprechen. Denn eigentlich hatte er ja nichts zu verlieren und hat trotzdem nicht eingegriffen. Ich denke aber, dass es in der Realität nicht so einfach ist. Klar sagen wir jetzt alle, dass die Menschen zum Beispiel im 2.
Weltkrieg hätten eingreifen müssen, um die Judenvernichtung zu stoppen.
Aber wir wissen nicht, wie sehr die meisten in die „Maschinerie“ Hitlers eingebunden waren, wie verführt sie waren, was für Gehirnwäschen sie hinter sich hatten und letztendlich, was sie zu verlieren hatten.
Eigentlich sollte dies alles aber keine Rolle spielen. Wenn man etwas mitbekommt, was ganz klar gegen die Menschenrechte verstößt, muss man eingreifen. Nur haben wir jetzt den Vorteil, dass wir wissen, was passieren kann, wenn man nur Mitläufer ist und NICHT seine Meinung sagt. Das hatten die Menschen damals nicht.
Man kann also sagen, dass die europäische Humanität versagt hat, aber die Frage, inwiefern jedem Einzelnen eine Schuld oder Verantwortlichkeit zugewiesen werden kann, ist äußerst schwierig zu beantworten.
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