Überblick
Überblick
Themen:
Extrem negative Gegenstände, Bruch von Tabus (Leichenöffnung, Wahnsinn, Selbstmord, Hinrichtung, Verwesung, usw.) – Wunsch nach ,Aktion’ – Ich-Zerfall (Ineinanderübergehen von Mensch und Umwelt, Übermacht der Dinge über das Individuum, Angst vor der urbanen Zivilisation) – Leben in der Großstadt (Döblin), Kritik an der wilhelminischen Gesellschaft (H. Mann), menschliche Beziehungslosigkeit, Ohnmacht des Individuums gegenüber verborgenen, aber allgegenwärtigen Mächten (Kafka)
Gattungen:
Zunächst ist Lyrik die führende Gattung, dann das expressionistische Drama, später gewinnt die aus dem Expressionismus hervorgegangene erzählende Prosa epochale Bedeutung
Literarische Technik:
Lyrik: Ästhetik der Hässlichkeit (schockierende Bilder, präzise Wiedergabe grauenhafter Wirklichkeit) – Parodistische Verwendung traditioneller literarischer Formen und Elemente – ,Reihungsstil’: Verbindung disparater Elemente
Prosa: Simultanstil (Montagetechnik, innerer Monolog, filmische Erzählweise: Döblin) – Montage zu satirischen Zwecken (H. Mann) – Realistische Erzählweise absurder Vorgänge und Zustände (Kafka)
Autoren:
Lyrik: Georg Heym, Georg Trakl, Gottfried Benn
Prosa: Heinrich Mann, Alfred Döblin, Franz Kafka
Werke:
Georg Heym: Der ewige Tag. Gedichte (1911)
Georg Heym: Gedichte (1913)
Gottfried Benn: Morgue und andere Gedichte (1912)
Heinrich Mann: Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen (später: Der blaue Engel). Roman (1905), Der Untertan.
Roman (1918)
Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf. Roman (1929)
Franz Kafka: Das Urteil. Erzählung (1913), Die Verwandlung. Erzählung (1915), In der Strafkolonie. Erzählung (1919)
Kurt Pinthus (Hg.
): Menschheitsdämmerung. Symphonie jüngster Dichtung. Sammlung expressionistischer Lyrik (1920)
Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
In allen Lüften hallt es wie Geschrei,
Dachdecker stürzen ab und gehen entzwei
Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.
Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.
Jakob von Hoddis: ,Weltende’
Die literarische Epoche des Expressionismus
Expressionismus: zunächst Verwendung des Begriffs als eine einprägsame Sammelbezeichnung für die gegen Naturalismus und Impressionismus gewandten Stiltendenzen verschiedener Gruppen von jungen Malern vor dem ersten Weltkrieg. Dazu gehörten z.B. die Künstlervereinigung ,die Brücke’ in Dresden (1905; Nolde, Kirchner, Pechstein), die Gruppe ,Les Fauves’ (=die Wilden) in Paris (1905; Matisse, Braque, Picasso) oder die Künstlergemeinschaft ,Der Blaue Reiter’ in München (1911; Kandinsky, Marc, Klee). à Entstehung des Kubismus (würfelförmiger Bildaufbau). Zeitlich muss man den Beginn des Expressionismus zu Anfang des 2.
Jahrzehnts des 20.Jahrhunderts sehen, der sich daraufhin zu einer relativ intensiven aber auch schnell abklingenden Blütezeit erhob.
Der Begriff Expressionismus wurde 1911 von der Kunst auf die Literatur übertragen. Oft wurde er gleichbedeutend mit Moderne gebraucht. Der Kabarettist und Schriftsteller Hugo Ball (1886- 1927) hielt 1916 in der Züricher Galerie Dada einen Vortrag über Kandinsky, in welchem er das Selbstverständnis der ,expressionistischen Generation’ darstellt:
à die Auflösung der tradierten Weltbilder, wie sie im christlichen Glauben und dem Denkgebäude der abendländischen Philosophie vorliegen. Dadurch entsteht ein geistiges und moralische ,Chaos’, eine kulturelle ,Anarchie’ und eine Verachtung des Menschen.
à die Auflösung der einheitlichen physischen Weltbilder im Fortgang der experimentellen Naturwissenschaften. Der Mensch ist nicht mehr fähig, sich von der Natur ein Bild zu machen und sich in ihr zu orientieren, vielmehr sei ihm die Welt nun „unheimlich“ geworden.
à Untergang des sich seiner selbst bewussten, eigenverantwortlichen Einzelmenschen in den anonymen Machtstrukturen seiner sozialen und politischen Umgebung auf Grund der Ausbildung der Massengesellschaft. Daraus entsteht als allgem. Lebensgefühl die Angst vor der wissenschaftlich-technischen Zivilisation als einer „Welt abstrakter Dämonen“, gegen die der Einzelne machtlos sei. Kunst und Wirklichkeit passen nicht mehr zusammen, der Künstler sieht sich einer Welt gegenübergestellt, in der er nur „Zufall, Unordnung, Disharmonie“ wahrnehmen könne und so werde sein Leben zum „Kampf mit dem Irrsinn“.
Den Ersten Weltkrieg erlebten die Expressionisten als eine kulturelle Katastrophe.
Neue Wahrnehmungsweisen
Das Gedicht ,Weltende’ von Hans Davidsohn (1887-1942), der sich Jakob von Hoddis nannte, gilt als das meistzitierte Beispiel für die neue Perspektive, in der dem expressionistischen Dichter die „Erscheinungswelt“ als Inbegriff von „Zufall, Unordnung, Disharmonie“ begegnet. Das Gedicht verbindet disparate inhaltliche Elemente und Stilmittel miteinander. Sowohl in der bildlichen Ebene als auch auf der Ebene des Stils herrscht Zusammenhangslosigkeit. Das Gedicht wird zur Groteske.
Diese poetische Collage-Technik zeigt die Wahrnehmungsveränderungen auf, die sich im Zuge der Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse entwickelten.
Die Entstehung der Großstädte führten zu einer Auflösung der Einheit einer Person in lauter wechselnde Rollen-Ichs. Man spricht von einer allgemeinen Ich-Dissoziation. Die Lyrik beschreibt mit diesem ,Reihungsstil’ eine neue Wahrnehmungsform, die in der Gleichzeitigkeit des nicht Zusammengehörigen in der raschen Folge wechselnder Bilder besteht.
Katastrophenstimmung
Zu diesen Veränderungen kommt eine kollektive Stimmungslage, in der die Leute das Gefühl haben, dass eine Katastrophe in der Luft liegt. Die Bevölkerung ganz Europas befand sich in Panikstimmung, da man, als der Komet Halley wiedergesehen wurde, eine stellare Katastrophe befürchtete. Man rechnete damit, dass es beim Durchgang des Kometenschweifs zu weltzerstörenden Explosionen kommen könnte.
In der Realität lag eine politische Katastrophe, der Erste Weltkrieg, jedoch näher als diese kosmische. Die jungen Leute hatten jedoch noch keine Erfahrung des Krieges.
Zivilisationskritik
Die Autoren des Expressionismus erlebten durch die relative Stabilität der Verhältnisse eine Sinnleere und Beziehungslosigkeit. Darum lehnten sie die Welt, in der sie lebten ab. Die Menschen sehnten sich nach „Aktion“, die durchaus auch im Krieg oder in einer Revolution zu finden sei. Man entwickelte eine moderne Bewusstseinserfassung, welche die Leute daran hinderte, eine Lebensperspektive zu entwickeln.
Merkmale dieser modernen Bewusstseinserfassung sind, wie es sich in Georg Heyms Gedichten äußern, das Gefühl der Monotonie, der Sinnlosigkeit des Daseins, Angst als Befindlichkeit und Furcht vor der Übergewalt der modernen Zivilisation. Es zeigt sich eine „pubertäre Unruhe, welche die ganze Welt in Trümmern sehen möchte, damit das Ich sich rauschhaft erleben kann.“
Ich-Zerfall
Das Großstädtische Leben ist ein Hauptthema des Expressionismus. Besonders Elendsstätten wie Irrenanstalt, Bettlerasyl, Bordell, Leichenschauhaus u.a. spielen eine zentrale Rolle.
Das traditionelle Subjekt-Objekt-Verhältnis wird umgekehrt. Das Ich steht nicht mehr der Welt anschauend gegenüber, vielmehr ist die Aktivität auf die Dinge übergegangen, während das passive Ich, sozusagen ausgebrannt, die Orientierung verliert. Der Mensch steht nicht mehr über den Dingen, sondern die Umwelt dringt aggressiv auf ihn ein, gefährdet seine Selbstbestimmung. Der Expressionismus stellt die Großstadt als Ort der Ich-Zerstörung dar.
Vorliebe für das negative Extrem Im Expressionismus gilt nicht mehr die Flüchtigkeit des menschlichen Daseins (Vergänglichkeit), wie z.B.
in der Barocklyrik, als poetischer Gegenstand, sondern das Bewusstsein, dass dem Menschen ein baldiger Tod bevorsteht, da der gesamten Zivilisation Katastrophe und Untergang droht. Die Ästhetik des Hässlichen steht besonders im Vordergrund. Es wird sehr genau und detailgetreu geschrieben.
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