Die novelle
Die Novelle
Begriff und Definition
Der Begriff „Novelle“ ist etymologisch abzuleiten vom italienischen „novella“, Neuigkeit. „Novella“ wiederum geht zurück auf das lateinische „novellus“, die Verkleinerung von „novus“, neu. „Novella“ bedeutet also die kleine Neuigkeit.
Die Novelle als Gattung in der Literatur
Bei einer Novelle handelt es sich um eine Erzählung von ein bis zwei Seiten bis zu einem mittleren Buchumfang, die in sehr konzentrierter Form eine bedeutende, ungewöhnliche Begebenheit darstellt. Häufig steht in ihr ein krisenhafter Konflikt im Zentrum, der durch eine überraschende Entwicklung des Geschehens entschieden wird. Dieser sogenannte „Wendepunkt“ gehört zu den typischen Merkmalen vieler, aber nicht aller Novellen.
Dasselbe gilt für einen anderen Begriff, das „Dingsymbol“. Damit ist ein Gegenstand gemeint, welcher in Novellen eine ungewöhnliche Rolle spielt. Jede Novelle besitzt etwas Hervorspringendes, eine Spitze, eine scharfe Pointe und davon abgesehen einen dem Drama verwandten Aufbau – weshalb die Gattung aber nicht unbedingt eine ernste ist: Es existieren heitere und tragische Novellen, rein unterhaltende und sittlich schwerwiegende. Die Verknüpfung von Schicksal und Charakter ist ebenfalls zu erwähnen.
Die Entstehung der Novelle und Boccaccios „Falke“
Im 13. Jahrhundert entsteht die Gattung der Novelle, aber sie wird erst im 14.
Jahrhundert populär, und zwar mit der Entstehung eines Werkes des Italieners Giovanni Boccaccio – eines Novellenzyklus, welcher den Titel „Il Decamerone“ trägt.
In Boccaccios „Decamerone“ fliehen sieben Damen und drei Kavaliere, so erfährt man in der Rahmenhandlung, vor der Pest in Florenz aufs Land und vertreiben sich die Zeit mit dem Erzählen. An zehn Tagen werden jeweils zehn Geschichten vorgetragen (insgesamt 100), die teilweise die Sittenlosigkeit dieser Zeit widerspiegeln und von der Kirche als sittengefährdend eingestuft wurden.
„Der Falke“ ist die bekannteste Geschichte aus dieser Novellesammlung. Sie wurde zum Vorbild und Muster neuzeitlicher Novellenkunst.
Die Novelle erzählt von Federigo, einem jungen Edelmann aus Florenz, der sich in eine schöne, verheiratete Adelige, Monna Giovanna, verliebt.
Um ihre Liebe zu gewinnen scheut er keine Ausgaben und verfällt innerhalb kurzer Zeit in Armut. Nur ein kleines Bauerngut und ein besonders kostbarer Falke bleiben ihm.
In der Zwischenzeit stirbt Monna Giovannas Ehemann und sie zieht mit ihrem kleinen Sohn ebenfalls aufs Land hinaus. Das Kind sieht den Falken Federigos und wünscht sich seither nichts mehr als dieses Tier zu besitzen. Als der Knabe schwer erkrankt, will ihm seine Mutter seinen Wunsch danach erfüllen und sie begibt sich deshalb auf das Gut Federigos und kündigt sich zum Mittagessen. Arm wie Federigo ist, will er der geliebten Dame etwas würdiges servieren lassen und findet deshalb keinen anderen Ausweg, als seinen Falken schlachten zu lassen und ihn ihr vorzusetzen.
Als er erfährt, weshalb sie zu ihm gekommen ist, ist er untröstlich. Monna Giovanna aber weiß die Größe seiner Gesinnung zu schätzen. Das Kind stirbt kurz darauf und die Brüder der Adeligen drängen sie, sich erneut zu vermählen. Sie kennt nun aber Federigos Edelmut und wählt ihn zu ihrem Gatten.
„Der Falke“ ist eine Geschichte von kaum vier Seiten. Es gibt keine breite Milieuschilderung, die Vorgeschichte ist nicht sehr lang.
Eine ungewöhnliche Begebenheit liegt insofern vor, als nicht jeden Tag jemand aus Liebe verarmt und auch noch sein letztes für diese Liebe opfert. Der Falke, das kostbare Tier, spielt deshalb auch eine so große Rolle, weil er sowohl für Federigo als auch für Monna Giovanna etwas Wertvolles darstellt. Für Federigo ist der das Letzte kostbare Gut aus besseren Zeiten, für die Frau steht er für das Leben ihres Kindes. Er ist somit das „Dingsymbol“, das zum Wendepunkt hinführt: Als Zeichen seiner Liebe setzt der junge Ritter seiner angebeteten Dame das Letzte und Liebste, das er noch hat, seinen Falken, zum Essen vor. Sie erkennt nun, wie sehr er sie liebt und wendet sich zu ihm. Schicksal und Charakter sind insofern miteinander verknüpft, als ein weniger freigiebiger Mensch nicht verarmt wäre und ein weniger edelmütiger Charakter niemals so uneigennützig sein Liebstes geopfert hätte.
Federigo wird aber für diese Eigenschaften letzten Endes belohnt.
Das „Dekameron“ hatte viele Nachahmungen. Eine berühmte Novellensammlung entstand Ende des 14. Jahrhunderts und stammt von dem Engländer Chaucer. In seinen „Canterbury Tales“ treffen sich in London Pilger auf einer Wahlfahrt nach Canterbury. Der Grund für das Treffen war, dass Thomas Beckett in London in einer Kirche wegen einem Streit mit dem König ermordet wurde.
Novellen in Deutschland
Die Novelle zur Zeit des Rokoko, der Klassik und Nachklassik
a)Goethes „Erzählungen deutscher Ausgewanderten“
1795 erschienen in Friedrich Schiller literarisch Monatsschrift „die Horen“ in sechs Folgen Johann Wolfgang Goethes „Unterhaltung deutscher Ausgewanderten“, eine Reihe von Geschichten, die als der erste Novellenzyklus in der deutschen Literatur gilt. Bei der Betrachtung der Rahmenhandlung, in welche sechs Novellen (und das von ihnen abgesonderte Märchen) eingebettet sind, wird klar ersichtlich, wie sehr Goethe auf dem Gebiet der novellistischen Novellenwerk Boccaccios orientiert. Wo nämlich im Dekameron eine Gruppe junger Adeliger vor der in Florenz ausbrechenden Pest auf eine außerhalb der Stadt gelegenes Landgut flüchtet und einander zum Zeitvertreib Geschichten erzählt, flieht in den „Unterhaltung deutscher Ausgewanderten“ eine ebenfalls aristokratische Gesellschaft vir der französischen Revolutionsarmee vom linken auf das rechte Rheinufer, um auf sicherem Terrain den Schrecken der politischen Ereignisse auszuweichen; und hier, auf dem Landsitz, unterhalten sich Goethes Geflüchtete ebenso wie bei Boccaccio mit im geselligen Kreis dargebotenen kleinen Erzählungen. Anders als im Dekameron dauert die Zeitspanne, die die erzählten Geschichten oder Unterhaltungen umfasst, nicht zehn oder überhaut mehrere Tage, vielmehr endet die Rahmenhandlung bereits nach dem ersten Erzähltag, was darauf zurückzuführen ist, dass Goethe, entmutigt vom negativen Leserecho, seinen ursprünglichen Plan aufgab, einen weit umfangreichen Novellereigen auszuarbeiten.
b) Heinrich von Kleists „Marquise von O..
.“
Der Dichter hat in seine kurzen Leben (1777 – 1811) insgesamt acht Novellen geschrieben, die zunächst in Zeitungen erschienen, ehe sie 1810 und 1811 in zwei Buchbänden gesammelt veröffentlich wurden. Der erste Band umfasst „Das Erbeben in Chili“, „Die Marquise von O...“, und „Michael Kohlhaas“; Band zwei enthält „Das Bettelweib von Locarno“, „Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik“, „Der Findling“, sowie „Der Zweikampf“.
„Die Marquise von O...“ zählt zu den bekanntesten Novellen der Weltliteratur. Dabei geht der Kern ihrer Fabel, die unwissentliche Empfängnis einer Frau, auf ein ebenfalls.
„Die Marquise von 0.
..“ zählt zu den bekanntesten Novellen der Weltliteratur. Dabei geht der Kern ihrer Fabel, die unwissentliche Empfängnis einer Frau, auf ein ebenfalls berühmtes spanisches „Vorbild“ zurück, auf Cervantes' „Die „Macht des Bluts“. Das Motiv der rätselhaften Schwangerschaft verband Kleist mit dem Motiv der Zeitungsanzeige.
Zu Beginn dieser Novelle zieht Marquise von 0.
.. auf Wunsch ihrer Mutter mit ihren zwei Kindern zurück in ihr Elternhaus, nachdem ihr geliebter Mann bei einer Reise ums Leben gekommen ist. Der Vater ist Befehlshaber einer Festung zum Schutz der Stadt M...
, wo sie die Jahre nach dem Tod ihres Mannes sehr einsam verbringt und sich nur ihrer Familie widmet. Als dann ein Krieg ausbricht, wird die Festung, die der Vater verteidigen muss, von den Feinden angegriffen und Feuer zwingt die Marquise, ihre Mutter und Kinder, das Haus zu verlassen. Sie wird von einem Trupp feindlicher Scharfschützen in einen Hinterhof gezerrt und dort misshandelt, doch der Graf von F ..., ein russischer Offizier, rettet der Marquise das Leben und bringt sie in Sicherheit, wo sie jedoch vor Schreck ohnmächtig wird.
Nachdem sich ihr Vater ergeben hat und das Fort eingenommen ist, erfährt er, durch wen seine Tochter aus ihrer gefährlichen Lage befreit wurde und die ganze Familie ist dem jungen Grafen sehr dankbar. Niemand weiß, dass der so anständig wirkende Russe die Marquise während ihrer Ohnmacht vergewaltigt hat. Die Marquise von 0... zieht nun mit ihren Eltern und ihren Kindern in ein Haus in der Stadt.
Bald tauchen bei ihr einige Anzeichen einer Schwangerschaft auf, doch sie kann sich nicht erklären, wie sie ein Kind erwarten könnte und meint deshalb krank zu sein. Eines Tages besucht der Graf von F... das Haus der Familie und will sich unbedingt mit der Marquise vermählen. Er versucht alles, um sein Ziel zu erreichen und stiftet dadurch einige Verwirrung bei der Frau, die nicht recht weiß, ob sie zustimmen soll.
Allerdings muss der Graf noch einmal einrücken und während er fort ist, bringt die Marquise ein gesundes Kind zur Welt. Doch da ihr niemand glaubt, dass sie nicht weiß, wer der Vater ist, wird sie von der Familie verstoßen. Sie kehrt nun auf ihren alten Landsitz und nach einiger Zeit versucht sie, den Vater ihres Kindes zu finden. Ein sonderbares Mittel füllt ihr dazu ein: Sie gibt eine Zeitungsannonce auf und fordert darin den Vater ihres Kindes auf, sich zu melden. Der Graf, der ja der Vater des Jüngsten der Marquise ist, kommt nach seiner Rückkehr aus dem Krieg zu ihr und hält nochmals um ihre Hand an, doch sie lehnt ab und schickt ihn weg. Nachdem der Russe durch den Bruder der Marquise von der Zeitungsannonce erfahren hat, antwortet er ebenfalls in der Zeitung, dass sie sich an einem bestimmten Morgen im Haus ihres Vaters treffen sollen.
So will er alles ins Reine bringe. Als schließlich der in der Zeitung bekannt gegebene Tag kommt und der Graf von F... erscheint, ist die Marquise sehr böse auf ihn, stimmt nun aber einer Heirat aus gesellschaftlichen Gründen zu. Im Laufe der Jahre verliebt sie sich dann doch in ihren Mann und sie werden glücklich.
Die Vorgeschichte darf in einer Novelle nur knapp erwähnt werden. Genau das geschieht hier auch, denn die drei Jahre, die zwischen dem Tod des Marquis von 0. ..und dem Kriegsausbruch liegen, werden in 10 Zeilen zusammengefasst. Diese Geschichte erzahlt insofern von einer „unerhörten Begebenheit“, als das Schicksal der Marquise wirklich nicht als alltäglich anzusehen ist.
Auch ihre Reaktion auf die Schwangerschaft ist es nicht. Das Dingsymbol ist nicht so einfach zu erkennen wie bei Boccaccios Novelle „Der Falke“. Man könnte aber die Schwangerschaft, die die Handlung vorantreibt, als solches bezeichnen. Mehrere kleine Wendepunkte lassen sich finden, z.B. das Erkennen der Schwangerschaft und die Reaktion der Eltern darauf, der Umzug auf das Landgut oder die Hochzeit mit dem Grafen.
Als wichtigsten Wendepunkt sehe ich aber die Aufgabe des Zeitungsinserates an, denn damit schafft sie es, ihrem Leben doch noch die entscheidende Wendung zum Guten zu geben. Eine Verknüpfung von Schicksal und Charakter wird beim jungen Grafen sichtbar, als er durch den Drang seiner Männlichkeit in eine missliche Lage kommt. Er kann sich aber auf Grund seines Gefühls für Anstand daraus wieder befreien. Der Graf erscheint als tapferer russischer Offizier und Gentleman, doch dass er die Ohnmacht der Marquise ausnützt, um sie zu vergewaltigen, beweist eher, dass er doch nur Opfer seiner Triebe ist. Letztendlich beweist er aber Charakterstärke, indem er offen zugibt, der Vater des Kindes zu sein, sich der Marquise und ihrer Familie stellt und auch bereit ist, die Konsequenzen seines unüberlegten Handelns zu tragen. Die Marquise hätte bestimmt einsam und von der Gesellschaft gemieden ihr Leben gefristet, wenn sie nicht so mutig gewesen wäre und sich zu dem Zeitungsinserat entschlossen hätte.
Sie ist vorerst, wie fast alle Frauen des 19. Jahrhunderts, vor allem auf Anstand, Moral und Wahrung ihrer Ehre bedacht und sehr, sehr unsicher. Erst als sie von ihren Eltern verstoßen wird, lernt sie ihr Leben selbständig zu regeln und muss das erste Mal auf eigenen Füßen stehen. Langsam entwickelt sie Selbstbewußtsein - und das rettet sie.
Kleist übernimmt als Erzähler die Rolle des objektiven Berichterstatters. Er hält sich an die von außen sichtbaren Fakten und spricht nur selten über die inneren Vorgänge seiner Figuren.
Für den Leser wirkt die Geschichte dadurch ein wenig wie ein Kriminalrätsel, das er zu lösen hat. Die Novelle ist nicht chronologisch aufgebaut. Sie setzt mit der Zeitungsanzeige, durch die die Marquise den ihr unbekannten Vater ihres Kindes sucht, ein. Erst in der Mitte der Erzählung wird daran wieder angeknüpft. Dazwischen wird in Form eines Rückblicks über den Sturmangriff und das unerwartete Auftauchen des Grafen, seinen Heiratsantrag, die Schwangerschaft und das Zerwürfnis mit den Eltern berichtet. Von den Namen der Personen, der italienischen Orte und Städte werden immer nur die Anfangsbuchstaben genannt.
Das erweckt den Anschein, als würde eine wahre Begebenheit erzählt. Die Ereignisse sind aber nicht historisch. Als Ort der Handlung ist das nördliche Italien am Anfang des 19. Jahrhunderts vorstellbar. Den Stil dieses Werkes kann man als kompliziert bezeichnen. Kleist verwendet viele Gliedsätze und lässt einen Satz oft erst nach einer Viertelseite enden.
Außerdem verwendet er gerne aus dem Französischen übernommene Ausdrücke.
Die Novelle im Zeitalter der Romantik
Die Novelle erlebt zwischen 1789 und 1830, der Zeit der „Romantik“, in .Deutschland, sowohl auf dem Gebiet der Theorie als auch der poetischen Produktion, eine Blüte. Was die Gebrüder Schlegel und Tieck für diese Gattung im Zeitalter der Romantik vorschrieben, wird in einer Vielzahl von Novellen umgesetzt, nur im poetischen Realismus werden davon mehr verfasst. Das Bizarre, Eigensinnige, Phantastische, Wunderbare, Unwahrscheinliche sind die Charakteristika der neuen Novellen, auch wenn schon Goethes „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“ kleine Spuknovellen enthalten oder in Kleists „Bettelweib“ ein ganz real wirkendes Gespenst vorkommt. Doch der massenhafte Aufmarsch der Gespenster, Geister und Erscheinungen findet erst in der romantischen Novelle statt.
Jetzt strömt das Irreale, das Märchenhafte, das Traumhafte und auch das Schauerliche in die Geschichte ein. Die wichtigsten Novellenschreiber der deutschen Romantik sind Achim von Arnim, Clemens Brentano, E. T .A. Hoffman, Joseph von Eichendorff und Ludwig Tieck.
Die Novelle des Biedermeier
Im 19.
Jahrhundert beginnt das Zeitalter des bürgerlichen Realismus. Dessen Anfang wiederum markiert die Restauration durch Fürst Metternich und die Epoche des Biedermeier, eine Zeitspanne von etwa 1820 bis 1850, die als Art Übergangszeit zwischen dem Ausklang der Romantik und dem Durchbruch des Realismus in der zweiten Jahrhunderthälfte begriffen werden kann. Wohl entfernt sich die Biedermeiernovelle erkennbar von der romantischen Phantasie- und Stimmungspoesie, doch ihre Hinwendung zum Realistischen Alltäglichen vollzieht sich nicht rein und eindeutig. Franz Grillparzer, Jeremias Gotthelf, Annette von Droste-Hülshoff und Adalbert Stifter sind die Hauptvertreter der Biedermeiernovelle im deutschen Sprachraum.
Franz Grillparzers „ Armer Spielmann
Franz Grillparzers „Armer Spielmann“ Aus Franz Grillparzers Erzählwerk sind die Künstlernovelle „Der arme Spielmann“ und die dramatische Ehebruchsnovelle „Das Kloster bei Sendomir“ hervorzuheben. „Der arme Spielmann“ wurde 1831 von Grillparzer begonnen und 1848 abgeschlossen.
Angeregt wurde Grillparzer durch einen armen Geigenspieler mit besserer Schulbildung, den er jahrelang in einem Gasthaus traf. Auf Grund dieser Bekanntschaft entstand das Porträt eines einfältigen, aber edlen Menschen, dessen wahrer Wert erst mit seinem Tod für andere zu Tage tritt.
In der Rahmenerzahlung berichtet der Erzähler von seinem Zusammentreffen mit einem merkwürdigen Spielmann auf dem Brigittenauer Volksfest, der ihm auf seine Bitte bei einem Besuch sein Leben erzählt. und vom Tod und dem Begräbnis des Bettelmusikanten.
Der arme Spielmann Jakob ist der Sohn eines einflussreichen Hofrates, der aber ohne Verständnis für seinen früh der Mutter beraubten, schwerfälligen und lebensuntüchtigen Sohn ist. Nachdem Jakob in der höheren Schule vor den Abschlussprüfungen versagt hat, steckt ihn der Vater als Abschreiber in eine Kanzlei.
Völlig vereinsamt, tröstet ihn nur seine Geige. Da hört er eines Tages in seinem Hinterstübchen auf dem Nachbarhof ein Lied singen. Die Sängerin ist die Tochter eines benachbarten Greißlers und Kuchenverkäuferin in der Kanzlei Jakobs. Er überwindet seine Schüchternheit und bittet sie um die Noten zu dem von ihr gesungenen Lied. Nach Wochen geht sein Wunsch in Erfüllung. Es spinnt sich ein zartes Liebesverhältnis an, das aber der Vater trennt, als er davon erfährt.
Da stirbt der Hofrat plötzlich, und Jakob erbt 11.000 Gulden. Er nähert sich wieder dem Mädchen, das Barbara heißt und bereit ist, gemeinsam mit ihm einen Putzladen zu eröffnen. Doch als Barbara erfährt, dass er in vertrauensseliger Weltfremdheit übereilt dem Sekretär seines verstorbenen Vaters sein Vermögen anvertraut hat und von diesem darum geprellt worden ist, reicht sie einem tüchtigen Fleischer die Hand. Jakob aber sinkt zum Bettelmusikanten herab.
Während einer Überschwemmung rettet er Hausrat und Spargroschen seiner Wirtsleute und zieht sich dabei eine tödliche Krankheit zu, an der er bald nachher stirbt.
Jakob, die Hauptperson, ist einfaltig, weltfremd, lebensuntüchtigt und so selbstlos, dass er sogar sein Leben für andere Menschen opfert. Er glaubt an das Gute im Menschen. Gottergeben akzeptiert er die Ordnung der Gesellschaft, die sozialen Spielregeln, die ihn zum Verlierer machen und sucht die Schuld für alles, was ihm widerfährt, nur bei sich.
So ist das Adjektiv „arm“ im Titel ist nicht nur im Sinne von Geldmangel zu verstehen. Arm ist der Spielmann vor allem deshalb, weil er, der Hilflose, schamlos ausgenutzt wird und weil seine Liebe zur Greißlertochter Barbara unerfüllt bleibt.
Die Selbsttäuschung macht er zum Grundprinzip seines Lebens.
Anstatt der Wirklichkeit ins Auge zu blicken, macht er sich stets etwas vor. Er belügt sich nicht nur in Hinsicht auf die Qualität seines Geigenspiels, er redet sich auch ein, Barbara werde glücklich mit dem Fleischhauer. Barbara steht im krassen Gegensatz zu Jakob. Sie ist lebenstüchtig und Realistin. Sie wäre eine große Hilfe für ihn, aber er ist längst zu weltfremd um die Chance zu nutzen und sie zu heiraten.
Als Merkmal der Novelle gilt die Verknüpfung von Schicksal und Charakter.
Da Jakob zu gutgläubig ist, wird er betrogen und muss in Armut leben, weil er ein Zauderer ist, bekommt er Barbara nicht.
Das Dingsymbol, das Symbol der Kontaktlosigkeit, ist das nach eigenen Gesetzen durchgeführte, für die Außenwelt unverständliche, stümperhafte Geigenspiel. Schon als Kind ist er in der Familie der Unverstandene. Er bleibt sein ganzes Leben lang allein, nur die Geige begleitet ihn. Ein einziges Mal bietet sich ihm die Gelegenheit, sein Leben mit jemandem zu teilen, aber die verspielt er.
Ein kleiner Wendepunkt im Leben Jakobs ist bereits das Scheitern beim Examen an einer höheren Schule, denn damit ist die Hoffnung auf eine berufliche Karriere zu Ende.
Zwei Wendepunkte aber sind wirklich wichtig in dieser Novelle. Als Jakob Barbara kennen lernt, keimt in ihm die Hoffnung auf, dass er doch noch ein erfülltes Leben im Kreise geliebter Menschen finden könnte. Die zweite große Wende entsteht, als er sein Erbe und damit auch Barbara verliert und nun wieder alleine dasteht.
Dass ein Mensch alles verliert - sowohl sein Vermögen als auch seine Geliebte - ist eine außergewöhnliche Begebenheit.
Die ausführliche Schilderung der Brigittenau zu Beginn entspricht jedoch nicht den Gesetzen der Novelle.
Die mimosenhafte Gestalt Jakobs hat viel von Grillparzer selbst und verkörpert sein Gefühl der Unzulänglichkeit gegenüber den Vorbildern.
Das verhängnisvolle Examen hat Grillparzer selbst erlebt. Auch haben seine Brüder ein ähnliches Schicksal gehabt wie die Jakobs. Seine häufigen Zweifel an seinem Talent lassen es als möglich erscheine~ dass er sich als zwar unfähigen, aber selbstzufriedenen Spielmann sah.
Die „kleine Neuigkeit im Realismus
Die Novellenkunst erreicht in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in quantitativer Hinsicht einen in ihrer Geschichte einmaligen Höhepunkt. Zu keiner Zeit hat sich diese Gattung eines derartigen Ansehens, nicht nur in Deutschland, sondern auf der ganzen Welt, erfreut.
Überall schreibt man Novellen, sie gerät geradezu in den Rang einer literarischen Mode.
In Deutschland steht sie in dieser Epoche als epische Form sogar über dem Roman. Auch aus qualitativer Sicht erreicht die Novelle zwischen 1850 und 1890 ein hervorragendes Niveau. Die Zeiten der Romantik und des Biedermeier sind weitgehend vorbei. Im bürgerlichen oder poetischen Realismus wird die objektive und nüchterne Schilderung des Daseins dem Schriftsteller wichtig. Die Wirklichkeit, der Alltag, die Gesellschaft, das Fühlen Denken und Leiden des bürgerlichen Menschen sind die jetzt die vorherrschenden Themen der Novelle.
Das Wunderbare und die Phantastik der Romantik haben abgedankt, und während noch in der Biedermeiernovelle der einsetzende Realismus mit mehr oder minder starken romantischen Überresten durchzogen war, setzt er sich vollkommen durch.
Im deutschen Sprachraum tritt Gottfried Keller mit seinen Novellenzyklen „Die Leute von Seldwyla“ und „Züricher Novellen“ hervor, schreibt Konrad Ferdinand Meyer die klassisch gewordenen Novellen „Der Schuss von der Kanzel“ und „Das Amulett“, veröffentlicht Wilhelm Raabe die berühmte „Schwarze Galeere“. Aber die bedeutendsten Schriftsteller der realistischen Novelle in Deutschland sind Theodor Storm und Theodor Fontane. Von Storm stammt „Der Schimmelreiter“, von Fontane unter anderem die Kriminalnovelle „Unterm Birnbaum“.
Die Novelle im Naturalismus
Die Grenze zwischen dem Realismus und dem Naturalismus ist oft unscharf und fließend. Der Naturalismus erhebt den Anspruch, den Realismus an echter Erfassung und Abbildung der Realität entscheidend zu übertreffen.
Er will, als eine Art gesteigerter, verschärfter, radikalisierter Realismus die äußere Wirklichkeit in bisher nicht praktizierter Offenheit in seinen Werken darstellen. Die naturalistische Kunst will sämtliche menschliche Leidenschaften und Handlungen und deren verborgene Antriebe, eben das Leben, wie es ist, rücksichtslos analysieren. Sie ist, gleichgültig gegenüber Moral und Sitte, nur der Wahrheit verpflichtet. In Deutschland treten auf dem Gebiet der naturalistischen Novellistik neben Gerhart Hauptmann (Bahnwärter Thiel) vor allem Arno Holz und Johannes Schlaf mit ihrer novellistischen Skizzensammlung „Papa Hamlet“ hervor. In Russland können einige Novellen des Realisten und Naturalisten Leo Tolstoi der Novelle zugerechnet werden, in Frankreich ist es Emile Zola, der sie im Zeitalter des Naturalismus hauptsächlich vertritt.
Die Novellistik der Jahrhundertwende
Im letzen Jahrzehnt des 19.
Jahrhunderts, zu einer Zeit, da der Naturalismus in der europäischen Literatur seinen Durchbruch erlebt hat und in voller Blüte steht, existieren bereits literarische Richtungen, die sich nicht nur gegen den Materialismus und Positivismus (beschränkt sich auf das Wirkliche und die Erfahrung) der naturalistischen Kunst, sondern in gewisser Hinsicht gegen die gesamte realistische Entwicklung in der Literatur des 19. Jahrhunderts stellen. „Neuromantik“, „Neuklassik“, „Impressionismus“; „Symbolismus“, „Jugendstil“: unter diesen Begriffen treten die neuen literarischen Schulen auf und bezeichnen zusammen die Epoche „um die Jahrhundertwende“, die sich etwa bis 1920 hinzieht. Obwohl die verschiedenen antinaturalistischen Strömungen nicht alle rigoros Abstand vom Naturalismus und vom Realismus nehmen und zum Teil durchaus die realistische Erzähltradition bzw. die naturalistisch -mikroskopische Betrachtung der Wirklichkeit fortführen, wenden sie sich doch von der Beschäftigung mit der äußeren Realität ab. Das Hauptaugenmerk dieser Literatur gilt dem einzelnen Individuum und dessen Innenwelt - seiner psychischen Verfassung, seinen Stimmungen, Träumen und Leiden.
Nun steht die Erkundung menschlicher Seelenzustände im Zentrum des Interesses, die gesellschaftlichen Verhältnisse treten in den Hintergrund. Hand in Hand hiermit geht ein mehr oder weniger starker neuromantischer Hang zum Irrationalen, zu Musik und Metaphysik, der sich aber häufig mit realistischer Rationalität vermengt.
Schließlich prägen die Literatur der Zeit die typischen Elemente der „Fin -de - Siecle“ -Stimmung: Langeweile, Pessimismus, höchste Sensibilität, geistige Faszination durch das Erotische, abgrundtiefe Schwermut und Dekadenzgefühle, Lebensmüdigkeit, Todessehnsucht und Todesverherrlichung.
Was die Novelle anbelangt, so lebt sie um die Jahrhundertwende auf, nachdem sie im Naturalismus ein wenig im Schatten anderer Gattungen (z.B. : des Dramas) gestanden ist.
Die psychologische Novelle herrscht vor, aber auch andere Typen der Novelle lassen sich finden.
Beachtlich ist in diesem Zeitraum die Zahl der deutschsprachigen Novellenautoren -aber viele von ihnen sind heute kaum noch bekannt. Berühmt sind die Novellen Thomas Manns. Er ist in Deutschland der herausragende Novellist der Jahrhundertwende. In Österreich sind es Arthur Schnitzler und Stefan Zweig.
b.
) Thomas Mann
Thomas Mann hat die Mehrzahl seiner Novellen zwischen 1894 und 1912, dem Erscheinungsjahr der Künstler-Novelle, „Der Tod in Venedig“, verfasst. Zwar folgen in seinem Gesamtwerk danach noch in jeweils größeren zeitlichen Abständen einige weitere novellistische Texte (darunter auch die poetische Novelle „Mario und der Zauberer“); aber Manns typische Beiträge für die Geschichte der Novelle sind seine Frühnovellen „ Tonio Kröger“ oder „ Tristan“. Er folgte einem realistischen Erzählprinzip, wobei er es jedoch durch satirische Ironie erweitert und bereichert hat. Dabei sind seine Novellenhelden fiberwiegend traurig - tragische Gestalten, einsame Sonderlinge, verlorene Randfiguren der Gesellschaft, die in der Konfrontation mit der gesunden, ein wenig banalen, ein wenig dummen bürgerlichen Lebensfrische stets zum Unterliegen verurteilt sein müssen. Immer aufs neue variiert Thomas Mann den Gegensatz zwischen starker „gewöhnlicher“ Normalität und schwacher Individualität, zwischen dem Geist und dem geistlosen grausamen Leben.
Stefan Zweigs „Schachnovelle“
Stefan Zweig hat einige berühmte Novellen geschrieben.
1910 ist „Angst“ entstanden, weiters ist auch „Verwirrung der Gefühle“(1927) zu nennen. Die Schachnovelle, eine seiner bekanntesten Novellen, ist erst in der Emigration in Brasilien entstanden. Sie ist 1941 geschrieben worden, aber noch vor Stefan Zweigs Tod, erschienen. Sie hat als zeitlichen Hintergrund den Zweiten Weltkrieg und prangert die Brutalität des faschistischen Regimes und dessen Terrormethoden an.
Die „Schachnovelle“ ist eine Rahmennovelle, die sich in einen äußeren Rahmen und eine Binnenerzählung gliedert. Sie umfasst folgende drei Teile: Rahmenhandlung – Binnenerzählung – Rahmenhandlung.
Schauplatz der Novelle ist ein großer Passagierdampfer der Linie New York – Buenos Aires, die Hauptpersonen sind der Chronist (als Ich-Erzähler), ein gewisser McConnor (Tiefbauingenieur, der in Kalifornien zu Wohlstand gekommen ist), Mirko Czentovic (legendärer Schachweltmeister), und Dr. B. (ehemaliger Vermögensverwalter eines österreichischen Klosters und Ex-Gestapohäftling).
RAHMENHANDLUNG:
An Bord des Luxusdampfers wird der Chronist von einem mitreisenden Bekannten darauf aufmerksam gemacht, dass sich der legendäre Schachweltmeister Czentovic ebenfalls auf dem Schiff befindet. Er beschließt, den Schachweltmeister „näher unter die Lupe zu nehmen“, da „alle Arten von monomanischen, in eine einzige Idee verschossenen Menschen“ ihn zeitlebens angereizt haben (S.19).
Jedoch gestaltet sich das schwieriger als erwartet, da Czentovic trotz seiner „abgründigen Beschränktheit“ die „große Klugheit besitzt, sich keine Blößen zu geben“ (S.20), und somit niemanden an sich heranlässt. Schließlich gelingt es ihm mit Hilfe eines Tricks doch. Mit einigen Schachinteressierten veranstaltet er so etwas wie einen Schaukampf, und tatsächlich tritt der Schachweltmeister hinzu, beobachtet kurz das Spiel, zeigt dann aber kein weiteres Interesse, das Spiel der Dilettanten zu verfolgen und entfernt sich wieder. McConnor, einer der Mitspieler, kommt schließlich auf die Idee, ein Spiel um Geld gegen den Schachweltmeister auszuhandeln. Es gelingt ihm, Czentovic gegen eine Gage von 250 Dollar zu einer Beratungspartie zu überreden, an der auch ein knappes halbes Dutzend Schachspieler teilnehmen, Czentovic aber hoffnungslos unterlegen sind.
Der ehrgeizige McConnor ist derartig über diese Niederlage verärgert, dass er den Weltmeister zu einer Revanche-Partie herausfordert. Doch auch in der zweiten Partie scheinen die Herausforderer schon fast besiegt, bis sich ein bis dato Fremder einschaltet, der - trotz seiner offensichtlichen Ahnungslosigkeit über die Theorie des Spiels – die bereits verloren geschienene Partie noch einmal offen gestalten kann und Czentovic ein Remis abzwingt. Die Folge ist allgemeines Erstaunen und der geschlagene Weltmeister fordert einen dritte Partie, doch der Unbekannte lehnt heftig ab und zieht sich auffallend erregt zurück. Als sich herausstellt, dass der Unbekannte Österreicher ist, wird der Chronist als sein Landsmann aufgefordert, ihn zu der erneuten Revanche-Partie zu überreden. Nachdem der Chronist den Unbekannten auf dem Promenadendeck gefunden hatte, erfährt er, dass der Name des Unbekannten Dr. B.
ist, der aus einer sehr angesehenen österreichischen Familie entstammt. Angesichts der Tatsache, dass Dr. B. gerade gegen einen echten Schachweltmeister gespielt hat, zeigt er sich erfreut, und willigt ein, eine weitere Partie zu spielen, jedoch nicht ohne zu betonen, dass er seit seiner Jugend keine Schachfigur mehr berührt habe. Er räumt ein, sich theoretisch und unter „ganz besonderen, ja völlig einmaligen Umständen“ mit dem Schachspiel beschäftigt zu haben (S.48).
Er bittet den Chronisten, sich zu ihm zu setzen, um ihm eine „ziemlich komplizierte Geschichte“ zu erzählen, die „allenfalls als kleiner Beitrag zu (unserer) lieblichen großen Zeit“ gelten könnte (S.48).
BINNENERZÄHLUNG:
Dr. B. hat eine unauffällige Anwaltspraxis, die in Wirklichkeit die Rechts- und Vermögensverwaltung großer Klöster übernommen hat, dies aber streng geheim tut. Denn seit der Machtergreifung der Nationalsozialisten gelten Verbindungen zu Klerus und Adel, und die daraus entstehende Beziehung zur kaiserlichen Familie als sehr gefährlich.
Lange Zeit gelingt es Dr. B., diese Verbindungen geheim halten, bis bei ihm trotz aller Vorsicht ein Spitzel eingeschleust wird, und er durch diesen denunziert und schließlich von der Gestapo verhaftet wird. Dr. B. kommt, wie viele andere auch, von denen die Gestapo wichtiges Material und Geld erpressen zu können glaubte, in „Sonderbehandlung“, d.
h. in die Isolierhaft eines Hotelzimmers, abgeschlossen von der Außenwelt. Er hat nichts als sich allein und lebt „wie ein Taucher unter der Glasglocke im schwarzen Ozean des Schweigens, außerhalb der Zeit, außerhalb der Welt“ (S.57). Nach 14 Tagen beginnen die Verhöre, welche die Gefangenen ungeheuersten psychischen Belastungen aussetzen. Nach etwa 4 Monaten zeigen die Verhöre bei Dr.
B. ihre Wirkung, er verliert die geistige Klarheit und seine Widerstandskraft. Er wird bereit auszusagen. Während einer ausgedehnten Wartepause vor einem weiteren Verhör entdeckt Dr. B. in einer Manteltasche ein Buch, und er schafft es, trotz aller Gefahr das Buch zu stehlen und in sein Zimmer zu bringen.
Dort stellt sich heraus, dass das Buch ein Schachbuch, genauer ein „Schachrepetitorium, eine Sammlung von hundertfünfzig Meisterpartien“ war (S.71). Obwohl Dr. B. sehr enttäuscht darüber ist, da er nicht über die Kunst des Schachspiels verfügt, beginnt er, das Buch zu lesen und seine zunächst rätselhaften Zeichen zu entschlüsseln. Die beschriebenen Partien spielt er zunächst auf seinem karierten Bettuch (Betttuch?) nach, doch nach ca.
drei Monaten steht er erneut vor einem Vakuum – er hat alle Partien durchgespielt und kann jeden Zug, ohne vorher darüber nachzudenken. Von nun an versucht Dr. B., die Paradoxie eines „Doppeldenkens“ zu entwickeln (S.44), d.h.
er versucht, gegen sich selbst zu spielen. Durch diese Partien, die einer Art Bewusstseinsspaltung gleichkamen, spielte sich Dr. B. in einen Wahn, und er war nahe dran, den Verstand zu verlieren. Ihm war es nicht mehr möglich, an etwas als die nächste Schachpartie zu denken. In diesem Wahn griff er eines Tages einen Wärter an, verletzte sich und verlor auf dem Weg zu einem Arzt das Bewusstsein.
Als er wieder aufwachte, befand er sich in einem angenehmen Krankenzimmer, wo er sich schnell erholt. Nach schier endlosem Papierkrieg war er endlich frei und auf dem Weg, sich selbst eigentlich erst auf dem Schiff wieder näher zu kommen.
RAHMENHANDLUNG:
Durch diese Geschichte wird dem Chronisten auch klar, weshalb Dr. B. im Schachspiel gegen
Czentovic so glänzen konnte. Dr.
B. erklärt sich bereit, das Spiel gegen den Weltmeister anzunehmen, aber nur als „Probe“ um zu sehen, ob er überhaupt eine „normale Schachpartie, eine Partie auf einem wirklichen Schachbrett mit faktischen Figuren und einem lebendigen Partner“ spielen kann (S.94).Allerdings betont er, nur eine einzige Partie zu spielen, da er der Gefahr einer erneuten „Schachvergiftung“ aus dem Weg gehen wolle (S:95). Als es schließlich zum Spiel kommt, gibt sich Dr. B.
heiter und unbeschwert, und gewinnt das Spiel mit Leichtigkeit. Czentovic fordert eine erneute Revanche, die Dr. B. mit einer, wie dem Erzähler scheint, „unangenehmen Begeisterung“ annimmt (S.102). Er reagiert sehr heftig auf die Mahnungen seiner Mitspieler, es bei einer Partie zu belassen, und fordert Czentovic auf, schneller zu spielen.
Doch der Weltmeister bleibt ruhig und setzt seine Figuren „boshaft langsam“ (S.104). Er hat erkannt, dass diese Langsamkeit den Gegner ermüdet und irritiert. Im Verlauf des Spiels wird Dr. B.s Verhalten immer aggressiver und nervöser, er scheint sich in der Vergangenheit zu befinden und muss zu jedem Zug in die Gegenwart zurückgerufen werden.
Gedanklich offenbar ganz in eine andere Partie vertieft ruft er völlig unvermittelt: „Schach! Schach dem König!“ (107). Als sich Dr. B. seiner Verfassung bewusst wird, zieht er sich unter vielen Entschuldigungen schnell zurück. Niemand der Anwesenden, mit Ausnahme des Erzählers, kann sich die Vorgänge erklären. McConnor lässt seiner Enttäuschung mit einem kräftigen Fluch freien Lauf, und Czentovic hat seine Sicherheit wiedergewonnen und verlässt mit einer großmütigen Floskel über das Können seines Kontrahenten den Spieltisch.
Personencharakterisierung:
Dr. B., österreichischer Emigrant, befindet sich auf dem Passagierschiff von New York nach Buenos Aires. Nach dem ersten Drittel der Novelle tritt Dr. B. zum ersten Mal in der Handlung auf.
Er wird als 45 jähriger Mann mit schmalem, scharfem Gesicht von kreidiger Blässe beschrieben. Der Leser erfährt nicht seinen Namen, nur seine Herkunft. Er gehört einer altösterreichischen hochangesehenen Familie an. Sein Vater war Mitglied in der klerikalen Partei und hatte Verbindung zum Klerus und zum österreichischen Kaiserhaus. Dr. B.
führte diese Familientradition fort und arbeitete in seiner Rechtsanwaltskanzlei in der Vermögensverwaltung der Klöster und der kaiserlichen Familie. Im Rahmen dieser Tätigkeit gelang es ihm, den Klöstern und dem Hof beträchtliche Beträge vor der Habgier der Nationalsozialisten in Sicherheit zu bringen. Der Leser lernt Dr. B. als überaus vorsichtigen Juristen kennen. Trotz aller Vorsicht gelang es den Nazis, einen Spion in seine Kanzlei einzuschleusen, dem Dr.
B. seine baldige Verhaftung zu verdanken hatte. Im Hotel Metropole wurde Dr. B. in raffinierter Isolationshaft gehalten, um Informationen über die verschwundenen Gelder zu erzwingen. Dem „psychologisch mörderischen System des Hotelzimmers“ konnte Dr.
B. einige Zeit standhalten, doch bald zermürbte ihn die „völlige Leere“, die ihn umgab. In dem Hotelzimmer wartete er immer nur auf das, was seine Peiniger mit ihm vorhatten und was er aussagen sollte. Sein Geist arbeitete angespannt, es fehlt jedoch die Abwechslung. In dieser Situation gelingt es ihm, ein Buch mit 150 Meisterschachpartien zu stehlen. Das Nachspielen der Schachpartien - ohne Brett - schult seine Vorstellungskraft und die Technik des Vorausdenkens und Kombinierens.
Nach einigen Monaten langweilte ihn das Nachspielen, sodass er auf die Idee kam, als Spieler Weiß gegen Spieler Schwarz zu spielen. Dies führte zu seinem geistigen Zusammenbruch. Mit der Bewußtseinsspaltung konnte sein Geist nicht umgehen. So wurde er mit Nervenfieber ins Krankenhaus eingeliefert. Von dort wurde er als geheilter Mann entlassen. Der Arzt warnte ihn jedoch vor Schachspielen.
Die Schachpartie, in die Dr. B. als „rettender Engel“ eingreift, bedeutet für ihn ein Test, ob er vom Wahnsinn, der ihn in der Isolierhaft ergriffen hatte, völlig genesen ist. Die erste Schachpartie, in der er gegen den Schachweltmeister gewinnt, zeigt schon Ansätze seines wiederkehrenden Wahnsinns. Wider alle Vernunft stimmt er einer zweiten Partie zu. Er kann jedoch der Hinhaltetaktik des Weltmeisters nicht standhalten.
Sein Geist fängt wieder fieberhaft zu arbeiten an. Er ist schon längst in einem anderen Spiel. Bevor sein völliger Zusammenbruch kommt, wird er von einem Mitreisenden, wie aus einer Trance wachgerüttelt. Nach einiger Zeit hat Dr. B. wieder Kontrolle über sich gewonnen.
Er ist wieder der kultivierte, höfliche Mann, den der Leser kennengelernt hat. Schach wird er nie wieder spielen.
Mirko Czentovic ist der Sohn eines armen Donauschiffers, der bei einem Schiffsunglück ums Leben kam. Der Ortspfarrer hatte den Zwölfjährigen aus Mitleid aufgenommen und sich sehr um seine Bildung bemüht. Er wird als „maulfaules, dumpfes, breitstirniges Kind“ beschrieben, und sein Gehirn arbeitet nur schwerfällig. Willig verrichtete er häusliche Arbeiten, aber mit „totaler Teilnahmslosigkeit“.
Abends, wenn der Pfarrer mit dem Polizisten Schach spielte, saß Mirko scheinbar schläfrig daneben. Sein Können, Schachpartien zu spielen, stellte sich heraus, als der Pfarrer zu einer Kranken gerufen wurde, und Mirko für den Pfarrer die Partie gewann. In der Nachbarstadt stellte Mirko seine Fähigkeit, Schach zu spielen, im Schachclub unter Beweis, von dessen Mitgliedern seine Karriere gefördert wurde. So wurde aus dem geistig zurückgebliebenen Schiffersohn der Schachweltmeister. Ihm fehlt jedoch die Gabe, „blind“ zu spielen. Er muß immer das Schachbrett vor sich haben.
An seiner „zähen und kalten Logik“ sind viele intelligentere und ihm an Phantasie überlegene Champions gescheitert. Er ist immer der beschränkte, maulfaule Bauernjunge geblieben. Seine Habgier erregt großen Ärger bei seinen Kollegen, weil Mirko nur gegen Geld spielt. So ist es auch auf dem Passagierschiff, weil er gegen den schottischen Tiefbauingenieur McConnor nur gegen Honorar spielt. Hier wird Mirko als „unmenschlicher Schachautomat“, der nur einen „flüchtigen Blick“ aufs Schachbrett wirft und die Gegner von oben herab behandelt, beschrieben. Auf dem Schachbrett hat er Erfolg, doch im Leben ist er eine „groteske, beinahe komische Figur“.
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