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  Die taube

Die Taube    Der Autor Patrick Süskind wurde am 25.03.1949 in Ambach am Starnberger See (in der Nähe von München) geboren. Sein Vater, Wilhelm Emanuel Süskind war ein berühmter Publizist und schrieb unter anderem auch für die Süddeutsche Zeitung. Süskind wuchs im bayrischen Holzhausen auf, wo er zuerst die Dorfschule und anschließend das Gymnasium besuchte. Nach dem Abitur und Wehrersatzdienst studierte Süskind von 1968 bis 1974 in München und Aix-En-Provence(Frankreich) Geschichte und verdiente seinen Lebensunterhalt mit verschiedenen Gelegenheitsarbeiten.

Schon während des Studiums begann Süskind zu schreiben. Der große Durchbruch gelang ihm 1981 mit dem Ein-Personen-Stück „Der Kontrabass“, das bis in die neunziger Jahre hinein eines der meistgespielten Stücke auf deutschsprachigen Bühnen blieb. Sein erster Roman, „Das Parfüm“ (1985), ist einer der erfolgreichsten deutschsprachigen Romane dieses Jahrhunderts und wurde in 33 Sprachen übersetzt. Daneben verfasste Süskind zahlreiche Drehbücher mit dem Regisseur H. Dietl, u.a.

für die Fernsehserien „Monaco Franze“ und „Kir Royal“, sowie für den Kinofilm „Rossini - oder die mörderische Frage, wer mit wem schlief (1996)“. Heute lebt Süskind abwechselnd in München oder Frankreich. Er wird wegen seines zurückgezogenen Lebensstils und der Hartnäckigkeit beim Ablehnen von Interviews und Statements zu seinen Werken von der Presse das „Phantom der Deutschen Unterhaltungsliteratur“ genannt.     Der Roman „Die Taube“(1987) handelt von einem Mann mit dem Namen Jonathan Noel, der nichts mehr liebt als die alltägliche Eintönigkeit, und nichts mehr hasst als Menschen bzw. Tiere, die ihn in dieser Eintönigkeit, die er sich mit den Jahren so mühselig „erarbeitet“ hat, stören.   Jonathan hat eine schwere Kindheit hinter sich.

Seine Eltern wurden 1942 während des Krieges verschleppt, und er und seine Schwester mussten ihre Jugend bei einem Onkel auf einem Bauernhof verbringen und auf den Gemüsefeldern arbeiten. Dann verpflichtete sich Jonathan auf Verlangen des Onkels für drei Jahre zum Militärdienst. Er wurde nach Indochina verschifft und verbrachte dann den größten Teil des letzten Jahres mit einem Beinschuss in einem Lazarett. Als er zurückkam, verlangte der Onkel, dass sich Jonathan mit einer ihm fremden Frau vereheliche. Diese brannte jedoch schon vier Monate nach der Hochzeit mit einem Anderen durch.   Dieser ganzen Vorkommnisse wegen, zog Jonathan den Schluss, dass auf die Menschen kein Verlass sei und dass es besser sei, wenn man sie sich vom Leibe hielte.

Er zog nach Paris und bekam durch Zufall sofort einen Posten als Wachmann bei einer Bank und eine Unterkunft, ein schäbiges kleines Zimmer. Und obwohl das Zimmer dürftig eingerichtet war, verliebte sich Jonathan sofort in seine Bleibe, denn er wollte nur eines, seine Ruhe und seine Einsamkeit. So verbrachte er Tag um Tag, ständig die gleiche Arbeit verrichtend, ständig in derselben Umgebung. Mit den Jahren baute er sich sein kleines Heim zu einer attraktiven Behausung aus und, obwohl er sich inzwischen ein attraktives Appartement hätte leisten können, kaufte er der Eigentümerin, Madame Lassalle das Zimmer ab. Das war der Stand der Dinge, bis zu einem Freitagmorgen im August 1984, als ihm die Sache mit der Taube widerfuhr.   Jonathan steht wie jeden Morgen auf, um das Etagenklo aufzusuchen.

Er legt zuerst das Ohr an die Tür und lauscht, ob sich jemand auf dem Gang befindet. Es wäre ihm zu peinlich, im Pyjama einem Mitbewohner zu begegnen. Dieser unangenehmen Situation war er auch erst einmal, im Sommer 1959, ausgesetzt. Seitdem unternimmt er dieses prophylaktische Lauschen. Er will also zur Türe hinaus und über die Schwelle treten, als er plötzlich eine Taube erblickt. Sie steht nicht weit von seiner Türe auf dem Flur und glotzt ihn für ein paar Sekunden an.

Voller Entsetzten stürzt Jonathan zurück in sein Zimmer. Sein Herz klopft wie verrückt und er denkt, dass er in den nächsten Augenblicken einen Herzanfall erleiden wird. Er braucht eine ganze Weile, um sich wieder zu fangen. „Du bist am Ende!“, denkt er sich. „Du lässt dich von einer Taube zu Tode erschrecken!“. In seiner Verzweiflung betet er, die Taube solle wieder verschwinden.

Und zu allem Unheil bekommt er jetzt auch noch den Drang, auf die Toilette zu gehen. Doch die Angst vor der Taube auf dem Gang zwingt ihn dazu, seine Notdurft in seinem eigenen Waschbecken zu verrichten, wonach er sich schrecklich elend fühlt.   Erst jetzt kommt ihm in den Sinn, dass er sich beeilen muss, wenn er nicht zu spät zum Dienst erscheinen will. Und da er denkt, dass er die Taube nicht wieder so schnell los wird, packt er seinen Koffer und beschließt, sich ein Zimmer in einem Hotel zu nehmen. Aus Angst, mit der Taube körperlich in Kontakt zu geraten, zieht er einen dicken Wintermantel, Pelzstiefel und Lederhandschuhe an und vermummt sich mit einem Wollschal. Zusätzlich nimmt er noch einen Regenschirm in die Hand.


So ausgerüstet, späht er zum Gang hinaus und sieht, dass die Taube den ganzen Gang bekleckert hat. Er spannt den Regenschirm auf, nimmt den Koffer und will die Türe hinter sich zusperren. Dann hört er jedoch plötzlich ein Flattern hinter sich und stürzt panisch hinaus. In diesem Augenblick ist er sich sicher, nie wieder in sein Zimmer zurückkehren zu können.   Als er die Stiegen hinabgeht, zieht er schnell die Wintersachen aus, um nicht von einem Nachbarn gesehen zu werden. Im Hinterhof trifft er dann auf Madame Rocard, die Concierge.

Er erzählt ihr von dem Vorfall mit der Taube, und sagt, dass er in Eile sei und darum keine Zeit gehabt habe, den Vogel zu vertreiben. Die Concierge sagt darauf, sie werde sich um die Sache kümmern. Jonathan jedoch ist skeptisch und denkt, dass sie nichts dergleichen tun wird, dass sie den Vorfall spätestens am Nachmittag wieder vergessen haben wird.   Zu seinem Glück erscheint Jonathan noch pünktlich bei der Arbeit und stellt sich wie jeden Morgen seit 30 Jahren auf die Marmorstiege vor der Bank. Doch heute scheint alles anders zu sein. Der Vorfall bringt ihn völlig durcheinander und ihm ist es unmöglich, seine Ruhe zu finden.

Es juckt ihn am ganzen Körper, er schwitzt wie im Hochsommer und alles scheint vor seinen Augen zu verschwimmen. In seinem Kopf herrscht wilder Gedankenwirrwarr. Zu allem Übel überhört er dann auch noch zum ersten Mal seit seinen 30 Jahren Dienstzeit den Wagen des Direktors. Dieser muss erst einige Male hupen und winken, bevor Jonathan aus seinem Taumel erwacht und zum Tor eilt um es ihm zu öffnen. In diesem Moment fühlt er sich so schwach wie nie zuvor und schämt sich. „Du hast versagt“, sagt er sich selber, „du taugst nicht mehr zum Wachmann“.

  In der Mittagspause nimmt Jonathan seine Sachen und mietet sich das billigste Zimmer in einem nahegelegenen Hotel. Da er sich nicht wie sonst üblich etwas Warmes zubereiten kann, kauft er sich eine Packung Milch und eine Rosinenschnecke und setzt sich auf eine Bank in einem Park. Er sieht einen Penner auf einer anderen Parkbank sitzen, der ebenfalls seine Mittagsmahlzeit zu sich nimmt. Dieser Penner ist Jonathan bekannt, denn auch er lebt seit jeher in dieser Gegend. Und als er ihn auf dieser Parkbank sitzen sieht, kommt ihm ein Vorfall in den Sinn, der sich Mitte der sechziger Jahre vorgetragen hat und ihn zutiefst angeekelt hat. In der Verzweiflung über das, was ihm heute widerfahren ist, malt sich Jonathan abermals die schrecklichsten Sachen aus.

Für einen Moment denkt er, er werde früher oder später so enden wie eben dieser Penner. Und das nächste Unheil lässt nicht lange auf sich warten, denn als Jonathan den Park verlassen will, reißt er sich bei einer Schraube der Parkbank ein Loch in seine Diensthosen. Er eilt zu einer Schneiderin bei einem Lebensmittelladen um die Ecke und bittet sie, ihm die Hose zu flicken. Diese meint aber, es werde ca. drei Wochen dauern, da sie zu viel Arbeit vor sich habe, und Jonathan muss sich eine Rolle Tesafilm besorgen um das Loch provisorisch zuzumachen. Er kehrt zu seiner Arbeit zurück, jedoch wird der Nachmittag für ihn zur Hölle.

Alles, was ihm im Laufe des Tages zugestossen ist, kommt noch einmal in ihm hoch. Dazu noch die Hitze, der Schweiß, das Jucken am ganzen Körper. Jonathan ist voller Zorn und Hass. Er hasst die Kellner auf der gegenüberliegenden Strasse, er hasst die Gäste in dem Cafe, die vorbeilaufenden Leute, er hasst die Autofahrer und die ganze Welt, und er hasst sich an diesem Nachmittag selber.   Erst nach Dienstschluss kommt er langsam wieder zur Ruhe. Und anstatt direkt sein Hotel aufzusuchen läuft er bis spät abends durch unzählige Strassen, Gassen und Parks.

Auf dem Heimweg kauft er dann noch ein paar Sachen in einer Gemischtwarenhandlung und geht in sein Zimmer. Dann isst er genüsslich sein Abendessen. „Morgen bringe ich mich um“, sagt er noch, bevor er einschläft.   In der Nacht gibt es ein schreckliches Gewitter. Ein furchtbarer Knall reißt Jonathan aus dem Schlaf. Er bekommt Angst, denn er ist alleine und es ist stockfinster.

Er weiß nicht mehr wo er sich befindet und denkt für einen Augenblick, dass er noch ein kleines Kind ist. Ein kleines Kind im Keller seines Elternhauses. Und draußen herrscht Krieg denkt er. Er könnte auf der Stelle losschreien und merkt plötzlich, wie einsam er in Wirklichkeit ist und wie sehr er doch die anderen Menschen um sich herum braucht.   Dann hört er auf einmal, wie es draußen anfängt zu regnen. Zusammengekauert lauscht Jonathan eine Weile, zieht sich dann an, nimmt seine Sachen und macht sich im Regen auf zu seinem „einstigen“ Heim.

Und er patscht durch die Pfützen wie ein kleines Kind, als hätte er die Chance bekommen, ein neues Leben anzufangen. Als er den Gang zu seinem Zimmer betritt, sieht er, dass die Kleckse am Boden weg sind. Da ist nur noch ein Putzlumpen, der zum Trocknen aufgehängt ist. Keine Federn, kein Dreck, keine Taube mehr.

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