Glücksbegriff in johann wolfgang von goethes " dichtung und wahrheit"
Glücksbegriff in Johann Wolfgang von Goethes „ Dichtung und Wahrheit“
Teile 1 und 2
Bücher 1 bis 10
Vorwort
Im folgenden soll der Glücksbegriff in Johann Wolfgang von Goethes Autobiographie „ Dichtung und Wahrheit“ erläutert werden. Schon allein aufgrund des Umfangs des Gesamtwerkes beschränke ich mich auf die Teile 1 und 2: Angefangen von des Dichters Kindheit bis zu seiner Zeit in Straßburg, des Kennenlernens Johann Gottfried Herders und Goethes erster ernsthaften Beziehung zu Frederike Brion. Diese Abhandlung stellt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Ich hatte die Intention Situationen herauszugreifen, in denen Goethes Glücksbegriff evident wird, sie näher zu erläutern. Der Mensch nimmt zum Glück selektiv wahr, betrachtet nicht alles mit der gleichen Aufmerksamkeit. Ich hoffe dieses Faktum schmälert die Aussage dieser Arbeit nicht.
Zudem erfahren wir in Goethes Autobiographie in vielen Passagen mehr über sein Umfeld und seinen Umgang als über seine Gefühlswelt.
1. Buch
Das erste Buch beginnt glücklich. Goethe wird am 28.8. 1729 in Frankfurt am Main geboren: „ Am 28sten August 1749, kam ich in Frankfurt am Main auf die Welt.
Die Konstellation war glücklich: Jupiter und Venus blickten sich freundlich an....“(S.15) Er empfindet also die Konstellation der Sterne, die Voraussetzungen, die Gegebenheiten seiner Geburt, die nicht in seinem Ermessen liegen, als glücklich .
Zwar verläuft selbige mit einigen Komplikationen, doch das Umfeld des kleinen Dichters ist wahrlich als vorteilhaft zu bezeichnen. Er wächst mitsamt seiner jüngeren Schwester, Vater, Mutter, Großeltern und Hauspersonal (Köchin etc.) in einem eigenen Haus in großbürgerlichen Verhältnissen in Frankfurt auf.
Feinsinnig beschreibt Goethe die Lokalitäten , besonders häufig hält er sich im Gartenzimmer auf, „weil man daselbst durch wenige Gewächse vor dem Fenster den Mangel eines Gartens zu ersetzen gesucht hatte. Dort war, wie ich heranwuchs, mein liebster, zwar nicht trauriger, aber doch sehnsüchtiger Aufenthalt.“ Hier erkennen wir Goethes Affinität zur Natur, zum von Natur aus Schönen, Symmetrischen und Ästhetischen, eben nicht zur Leistung des Geistes, des Intellekts oder einer normativen Tugend.
Die familiäre Situation prägt seine Entwicklung nachhaltig, sein Vater sei überhaupt lehrhafter Natur, erklärt er auf Seite 20. Er, Jurist und Schultheiß, orientiert sein Handeln an übergeordneten Tugenden- oberster Primat ist das Wissen und sein Weitergeben. Auch ist er ein ziemlicher „Knochen“, autoritär führt er die Familie und erwartet von allen Mitgliedern, besonders den Kindern, disziplinierte Rezeption seiner Ideale. Trotz allem genießt er die schönen Künste, besitzt eine Gemäldesammlung, liebt Italien und die Musik. Diese Welt versucht er seinen Kindern ebenfalls zu vermitteln. Hat Goethe genug von der Strenge seines Vaters, flüchtet er sich in den Schoß der „stets froh und heiteren“ Mutter oder in die Wohnung der Großmutter väterlicherseits, die ohne Murren „Spiele bis an ihre Sessel“ (S.
17) gewährt. Wir können vermuten, dass sich Goethes Geisteswelt sehr am Vater orientiert, zwar mit anderen Schwerpunkten, nämlich dem Hang zu den schönen Künsten, dass aber sein Verhalten und soziale Kompetenzen, durch die liebevolle „ Frauenfraktion“ des Goetheschen Hauses geprägt wird.
Nach dem Tod der Großmutter verwirklicht der Vater seinen lang gehegten Plan das Haus zu renovieren. Währenddessen überlassen die Eltern die Kinder „wohlwollenden“ Freunden und schicken sie in eine öffentliche Schule. Goethe, aufgewachsen in einer bürgerlichen Traumwelt, sieht sich mit der Realität konfrontiert: „Dieser Übergang hatte manches Unangenehme: denn indem man die bisher zu Hause abgesondert, reinlich, edel, obgleich strenggehaltenen Kinder unter eine rohe Masse von jungen Geschöpfen hinunterstieß, so hatten sie vom Gemeinen, Schlechten, ja Niederträchtigen ganz unerwartet alles zu leiden, weil sie aller Waffen und Fähigkeiten ermangelten, sich dagegen zu schützen.“(S.
22).
Doch hat diese Konfrontation auch ihr Gutes, er wird seiner Heimatstadt „gewahr“(S.20). „Mit munteren Gespielen“ stromert er durch die Gassen und erkennt, dass auch in der Identifikation mit dem einfachen, einer Stadt, Glück liegen kann.
Als kaisertreue Familie zelebriert man die Krönung des deutschen Kaisers. Ganze Monate verbringt die Stadt in Feierlaune und der junge Goethe hat das Privileg dem Festakt im Römer beizuwohnen.
Der Prunk, die Herrlichkeit und Erhabenheit des Aktes faszinieren ihn, machen ihn glücklich. Die Frage nach der Armut außerhalb des Römers und des präsentierten Reichtums vermag er nicht zu stellen. Goethe schaut nicht hinter die Kulissen oder hinterfragt kritisch, ihm reicht der Schein, will vielleicht gar nicht mehr sehen- seine Bedürfnisse sind befriedigt. Über deren Beschaffenheit denkt er jedoch nicht nach.
Fasziniert tritt er über den Vater in Kontakt mit Frankfurts kontemporären Künstlern. Goethe hört von einem Unglück- am1.
November ereignet sich ein Erdbeben in Lissabon (S.36). Einen Verantwortlichen findet er schnell: den lieben Gott, weitere Überlegungen gibt es dazu nicht. Der Vater will dem Sohn den seinigen Lebensweg aufoktroyieren, zum Zwecke dieses Projektes beginnt er ihn schon früh zu unterrichten. Goethe lernt schnell: „Durch schnelles Ergreifen, Verarbeiten und Festhalten entwuchs ich sehr bald dem Unterricht, den mir mein Vater und die übrigen Lehrmeister geben konnten..
.“(S.39). Daraufhin erhält er privaten Gruppenunterricht mit den Nachbarskindern, doch „die Lehrer gingen ihren Schlendrian, und die Unart, ja manchmal die Bösartigkeit meiner Gesellen brachten Unruh, Verdruß und Störung in die kärglichen Lehrstunden“(S.41). Das vermittelte Faktenwissen unterfordert ihn und missfällt dem Knaben.
„Mich hatte sie schon früh ergriffen, als ich es lustig fand, von der rhethorischen Behandlung der Aufgaben zu der poetischen überzugehen.“(S.41). Jeden Sonntag treffen sich die Jungen und produzieren kleine Gedichte, der talentierte Goethe „kann seine immer für die besseren halten“ (S.41). Die Literatur interessiert ihn früh, er widmet seine Zeit Gottfrieds „Chronik“ und Fénelons „Telemach“.
2.Buch
Als siebenjähriger merkt Goethe wie öffentliche Ereignisse im Privaten korrelieren. „Friedrich der Zweite, König von Preußen, war mit 60 000 Mann in Sachsen eingefallen....
“(S.54) Dies führt zu innerfamiliären Konflikten. Großvater, die Mutter und andere Verwandte sind auf der Seite Österreichs, der Vater jedoch, den Zeiten unter Karl dem Siebten nachtrauernd, ergreift Parole für die Preußen. Immer wieder kommt es zu Streitigkeiten zwischen den divergierenden Fraktionen und Goethe wird sich gewahr, dass das Leben nicht nur eine wie ihm bisher bekannte Idylle ist, sondern dass es auch Fragen gibt, die es auszutragen gilt. Diese Situation mag ihm gar nicht in den Kram passen. Er steht nämlich seinen Vorstellungen von Glück, die auf dem Kontemplativen, der Idylle, Schönheit und Konfliktfreiheit basieren, diametral entgegen.
Er findet keine Freude am Streit oder Diskurs.
Seine künstlerische Aktivität kann die familiäre Situation nicht unterdrücken. In einem Nebenzimmer baut man ein Puppenspiel auf, der junge Goethe gibt den Nachbarskindern Vorstellungen. „Zu solchem Ende hatte man das von der Großmutter hinterlassene Puppenspiel wieder aufgestellt , und zwar dergestalt eingerichtet, dass die Zuschauer in meinem Giebelzimmer sitzen, die spielenden und dirigierenden Personen aber, sowie das Theater selbst vom Proszenium an, im Nebenzimmer Platz und Raum fanden“ (S.57)
. Des Vaters Bildung kommt auch nicht zu kurz, Goethe konstatiert „.
..... vielmehr zeigte sich der innere Ernst, mit dem ich schon früh mich und die Welt betrachtete“.
Ein hochgegriffene, auf Einbildung fußende Aussage, die sich leicht etwa mit seinem Hang zum Vergnüglichen (Kaiserkrönung) widerlegen läßt. Sicher; Goethe hat rein intelektuell gegenüber seinen Altersgenossen erhebliche Vorteile, doch sein Lebenshorizont der Erfahrungen, der Verhaltensweisen, der Selbstständigkeit steckt in den Kinderfüßen: Andere müssen weit mehr Verantwortung tragen, die Familie miternähren, dafür sorgen, dass die Goethesche Familie weiterhin in Saus und Braus Leben kann, des einen Glücks und Unabhängigkeit und das eigene Unglück und die eigene Abhängigkeit produzieren. Seine Gesellen bestrafen seine überhebliche Art. Sie empfehlen ihm, er solle doch, wie der Pfau auf seine Füße, so auf seinen Großvater väterlicher Seite hinsehen, welcher Gastgeber zum Weidenhofe sei und wohl an die Thronen und Kronen keine Anspruch mache. (S.79)
Sein Umfeld gereicht ihm weiter zum Vorteil, die aristokratische Elite geht bei Goethes ein und aus, gern unterhält sie sich mit dem Knaben, er kann seinerseits seinen Horizont erweitern.
3. Buch
Im Jahre 1759 stationieren sich französische Heere in Frankfurt. „Der Neujahrstage 1759 kam heran, für uns Kinder erwünscht und vergnüglich wie die vorigen, aber den älteren Personen bedenklich und ahnungsvoll. Die Durchmärsche der Franzosen war man zwar gewohnt und sie ereigneten sich öfters und häufig, aber doch am häufigsten in den letzten Tagen des vergangenen Jahres“(S.94). Die Frankfurter mussten den Franzosen Obdach bieten und so kommt es, dass der französische Feldherr Graf Francois Comte de Thoranc samt Gefolgschaft im Goetheschen Haus einzieht.
„ .. man quartierte bei uns den Königslieutnant....
....Er war Graf Thoranc, eine lange, hagere , ernste Gestalt, das Gesicht durch die Blattern sehr entstellt, mit schwarzen, feurigen Augen und von einem würdigen, zusammengenommenen Betragen“(S.96).
Zwar ist der Streit mit dem auf österreichischer Seite stehenden Vater, der sich dann schließlich nach einiger Zeit nach einer Schlacht entlädt und ihm fast Kopf und Kragen kostet, von Anfang vorprogrammiert, doch arrangiert sich die Familie gut mit dem Grafen. Er ist wie Goethes Vater Kunstliebhaber, was zu angeregten Gesprächen und Unterhaltungen führt.
Goethe hat Glück: Mit dem Dolmetscher des Grafen paukt er Französisch. Es sind also auf ein neues die vorteilhaften Umstände, die ihn glücklich machen. In ganz Frankfurt zieht ein französisches, künstlerisches Klima ein. Dem jungen Goethe gefällt dies sehr und er widmet sich nun dem Theater.
„Was meine Besuche auf dem Theater sehr erleichterte, war daß mir mein Freibillet, als aus den Händen des Schultheißen, den Weg zu allen Plätzen eröffnete und also auch zu den Sitzen im Proszenium“(S.106). Ja, Ja die Umstände....
...Fast jeden Abend besucht Goethe ein Theaterstück etwa Scapins Streiche von Molière oder Diderots Hausvater. Die Handlungen im Theater setzt er beim nachmittäglichen Spielen mit seinen Freunden gleich in ähnliche Fantasiehandlungen um. Ganz Frankfurt gleicht einem Tollhaus, „nun fehlte es von dem ersten Tage der Besitznehmung unserer Stadt, zumal Kindern und jungen Leuten, nicht an immerwährender Zerstreuung, Theater und Bälle, Paraden und Durchmärsche zogen unsere Aufmerksamkeit hin und her“(S.
110). Goethe entpuppt sich als Hedonist, das kurzfristige Vergnügen, die banale Zerstreuung sind für sein Glück konstitutiv. Angeregt durch die gewonnenen Eindrücke, entwickelt Goethe eigene Ideen für Theaterstücke. Er sieht, seine Pièce an den Ecken der Straßen und Plätze mit großen Buchstaben angeschlagen(S.122). Ein in der Theorie des Dramas bewanderter Freund zerpflückt ihm eines seiner Erstlinge; für Goethe Grund sich mit Originalquellen der Dramatheorie auseinanderzusetzen.
Er studiert zum Beispiel Corneilles „Abhandlung über die drei Einheiten“ (S.123). Der Graf wird versetzt und so endet auch diese Phase der Goetheschen Kindheit.
4 .Buch
Der Vater zwingt seinen Kindern Klavierunterricht auf. „Um diese Zeit ward auch der schon länger in Beratung gezogene Vorsatz, uns in der Musik unterrichten zu lassen, ausgeführt“.
(S.131) Zwar erscheint Goethe sein Klavierlehrer nicht als pädagogisch kompetent, doch stellt er fest, dass ihm „ der Weg zu zwei Künsten früh genug eröffnet, bloß auf gut Glück, ohne Überzeugung, daß ein angeborenes Talent mich darin weiter fördern könne.“(S.132) Und er erkennt diesmal selber, dass es die Umstände, hier der Wille des Vaters ,sind , die ihm Wege eröffnen und die er sich nicht selber schafft.
Aus Gefälligkeit hilft der junge Goethe seinem Vater bei der Seidenzucht. „ Eine besondere Liebhaberei meines Vaters machte uns Kindern viel Unbequemlichkeit.
Es war nämlich die Seidenzucht..“.(S.136). Die Gegenleistung erhält er prompt, nach Unterricht in Französisch, Lateinisch wird jetzt „ein englischer Sprachmeister engagiert, welcher sich anheischig machte“(S.
138). Goethe vertieft seine Sprachkenntnisse mit Hilfe eines fiktiven Briefwechsels von sechs bis sieben Geschwistern, die überall in der Welt verteilt leben und sich jeweils in der Sprache ihres Landes schreiben. „....
.und erfand einen Roman von sechs bis sieben Geschwistern, die, voneinander entfernt und in der Welt zerstreut, sich wechselseitig Nachricht von ihren Zuständen und Empfindungen mitteilen“. (S.139). Daraufhin kommt Goethe zum Schluss, dass ihm Kenntnisse im Hebräischen fehlten (S.140).
Doktor Albrecht, Rektor eines Gymnasiums, wird mit der Aufgabe betraut dem Jüngling die Sprache zu erlernen. Es folgt eine dezidierte Beschäftigung mit der Bibel und dem christlichen Glauben, die wenig kritisch, rein affirmativ stattfindet. Die Metaphysik vermag Goethe insgesamt zu faszinieren, ist sie doch fiktiver, abgeschlossener, symmetrischer als rationale Erkenntnismethodologie.
Der angehende Dichter beschäftigt sich auch mit dem latent vorhandenen Antisemitismus der damaligen Zeit: Die Juden wohnen in einer eigenen „Judenstadt“, die „Judengasse“ genannt wird, in der die von der Öffentlichkeit diskriminierte Glaubensgemeinschaft ihr Dasein fristet. Goethe kritisiert die christlich- orthodoxen Hardliner seiner Zeit und relativiert: „Außerdem waren sie ja auch Menschen, tätig, gefällig und selbst dem Eigensinn, womit sie an ihren Bräuchen hingen, konnte man seine Achtung nicht versagen. Überdies waren die Mädchen hübsch und mochten es wohl leiden, wenn ein Christenknabe, ihnen am Sabbat auf dem Fischerfelde begegnend, sich freundlich und aufmerksam bewies.
“(S.168) Zwar reflektiert er den Umgang mit Juden kritischer als die kontemporären Machthaber, doch eine radikale Ablehnung der unmenschlichen Isolationspolitik kommt ihm nicht in den Sinn. Er frönt nicht dem dialektischen Denken, er sieht immer nur eine Seite der Medaille und akzeptiert sie trotz sanfter Kritik. Der zweite Satz jedoch offenbart die Virulenz des Emotionalen in Goethes Aussagen. Es sind weniger die Werte, Tugenden und Verhaltensweisen der Juden, sondern die Sympathie zu deren Mädchen, die ausschlaggebend für seine Entscheidung sind. Für ihn zählt der Schein, die Oberfläche und es fehlt an Tiefe der Argumentation.
Seine Intelligenz und sein Geschick beweist er gerade in der Rezitation von Texten: „Ich hatte von Kindheit an die wunderliche Angewohnheit, immer die Anfänge der Bücher und Abteilungen eines Werkes auswendig zu lernen, zuerst die fünf Bücher Mosis, sodann der „Äneide“ und der „Metamorphosen““.(S.177) Prompt folgt das Lob der Eltern und Freunde: „Wir wurden mehr gelobt, als wir verdienten und glaubten es noch besser gemacht zu haben, als wie wir gelobt wurden. So stand ich mit dieser Familie im besten Verhältnisse und bin ihr manches Vergnügen und eine schnellere Entwicklung schuldig geworden“. Es ist schon wieder das Umfeld, das ihn motiviert.
5.
Buch
Die Wichtigkeit seines gesellschaftlichen Seins unterstreicht Goethe am Anfang des fünften Buches. Natur, Erziehung, Umgebung, Gewohnheit hätten ihn von allem Rohen abgesondert und obgleich er mit unteren Volksklassen, besonders den Handwerkern, öfters in Berührung gekommen sei, so sei daraus kein Verhältnis entstanden. Diese Feststellung steht in Kontinuität zu Goethes Verhaltensmustern. Übte er Solidarität mit den „unteren Volksklassen“, müsste er sein gesamtes Weltbild überdenken, die Legitimation seines glücklichen Seins in Frage stellen und mit ihm brechen. Die bequeme Tour ist ihm am liebsten: Ich bin so fein erzogen, dass ich die Unterdrückten nicht verstehen kann- borniert.
In Goethe erwachen die Kräfte der Pubertät, er will an seine Grenzen gehen und sie kennenlernen.
Mit seinem Freund, im Buch Pylades genannt, schließt er sich einer Clique von Jugendlichen an, die jedoch nicht alle seinem gesellschaftlichen Status entsprechen. Sie machen sich Goethes Begabung zu dichten zu Nutze und besorgen ihm Auftragsarbeiten von Jünglingen, die ein Gedicht für ihre Geliebte benötigen. Sie führen den jungen Goethe, der begeistert, dass sein Talent gefordert, den Wünschen der Freunde entspricht, hinter das Licht. Denn das Geld, das sie mit den Gedichten verdienen, behalten sie selber. Zwar schreibt Goethe es nicht, doch würde ich vermuten, dass er der Jüngste, das Nesthäckchen der Gruppe, ist. Die nun folgende Zeit wird durch andauernd stattfindende Lustpartien (ein altertümliche Mischung aus Ausflügen und Sauftouren bis in die Morgenstunden) geprägt.
Des Morgens schleicht sich der Jugendliche nach Hause in der Hoffnung niemand bemerke sein Wegbleiben.
Bei einer solchen Lustpartie, auf einer Feier im Heim eines Cliquenmitglieds verliebt sich Goethe maßlos in ein Dienstmädchen: „....allein statt derselben trat ein Mädchen herein von ungemeiner und, wenn man sie in ihrer Umgebung sah, von unglaublicher Schönheit“.
(S.187) Gretchen ist ihr Name und ihre Gestalt sowie die Lustpartien sind gefundenes Fressen für Goethes nach Liebe, Vergnügen und Empfindungen lechzenden Geist, dessen Bedürfnisse zu Hause unter der Aufsicht des Vaters mit Lesen und Lernen nicht zu befriedigen sind. Er ist hoffnungslos verschossen, schmeißt sich jeden Abend an Gretchen ran und nach einiger Zeit fruchten seine Versuche. Man kann sagen, dass sich etwas Beziehungsähnliches zwischen den beiden entwickelt. Durch die Auftragsarbeiten des angehenden Dichters kommen die Jugendlichen mit der bürgerlichen Upper-Class Frankfurts in Kontakt, werden zu ihren Festivitäten geladen und lassen keine aus.
Der Partymarathon geht weiter mit der im Jahre 1763 stattfindenden Wahl und Krönung eines Römischen Königs, Joseph dem Zweiten(S.
202). Die Stadt stürzt in ein einmonatiges Fest, der Adel wird wie eine Popgruppe beäugt und bejubelt. Für den Hedonisten Goethe, der derzeit im Feiern sein Glück und seine Befriedigung findet, moralische Bewertungsparameter nur am Rande benennt, eine vortreffliche Lage. Er nimmt das einfache Dienstmädchen an die Hand und sie kann aufgrund Goethes guter Beziehungen zu den Machthabern allen Festlichkeiten beiwohnen. Der Dichter hat zwar immer Angst mit einer unstandesgemäßen Partnerin gesehen zu werden, aber sie zeigt sich so fasziniert, dass sie „von manchem gar zu gern wisse, wie es sich verhält.“(S.
208) Goethe kann sich nun als Gelehrter aufspielen, ihr die Regeln der autoritären Gesellschaftsordnung erklären, sie ist wissbegierig, „.....sie setzte sich bestimmt vor, Unterricht im Französisch zu nehmen.
.....(S.
209) und wenn sie ein Knabe sei, so wolle sie auf der Universität etwas Rechtes lernen. (S.209)
Die Krönungsfeierlichkeiten halten an, Goethe beschreibt die für ihn glückliche Lage: „Eine politisch-religiöse Feierlichkeit hat einen unendlichen Reiz. Wir sehen die irdische Majestät vor Augen, umgeben von allen Symbolen ihrer Macht, aber indem sie sich vor der himmlischen beugt, bringt sie uns die Gemeinschaft beider vor die Sinne. Denn auch der einzelne vermag seine Verwandschaft mit der Gottheit nur dadurch betätigen, dass er sich unterwirft und anbetet.“(S.
225) (Anmerkung des Autors: Zur Gegendarstellung sei auf das 1866 entstandene „Bundeslied“ hingewiesen). Goethe ist also ein konformer Geist, die Frage der Legitimation dieser Herrschaft von Gottes Gnaden erörtert er nicht. Auch ohne das Ergebnis einer solchen Untersuchung antizipieren zu wollen, bleibt doch die Frage, ob er seine Aussagen überhaupt reflektiert oder sie nachschwätzt.
Die Clique sieht sich nun bald dem Verdacht unredlichen Handelns ausgesetzt. Und tatsächlich stecken einige der Mitglieder in kriminellen Verwicklungen- Goethe hat keinen blassen Schimmer. Sein Umfeld hält ihn für beteiligt, sein Vater ist stinksauer, doch kann Goethe in einem Gespräch mit einem Bekannten die erhobenen Vorwürfe aus seiner Sicht widerlegen.
Während dieses Gesprächs redet er sich so in Rage, dass er die Namen der anderen Gruppenmitglieder ausplaudert, die den Behörden bis dahin nämlich nicht bekannt sind. Diese stellen daraufhin Forschungen an und finden die Schuldigen tatsächlich unter den genannten Namen. Goethe fällt in eine tiefe Depression, er schämt sich, die anderen, wenn auch unbewußt, verpfiffen zu haben und sehnt sich nach seiner Freundin. Das Psychische korreliert im Physischen und so tritt „ eine körperliche Krankheit mit ziemlicher Heftigkeit ein“. (S.240)
6.
Buch
Der junge Dichter wird rund um die Uhr beaufsichtigt und sinniert über das, was sich außerhalb seines Hauses abspielt. „Ich vermutete daher, dass Pylades, ein Vetter oder wohl gar Gretchen selbst den Versuch mochte gemacht haben, mir zu schreiben, um Nachricht zu geben oder zu erhalten.“(S.245) Nach einer Lockerung der häuslichen Überwachungsmechanismen erfährt er über Pylades, ein Originalzitat Gretchens, das ihn in tiefes Unglück stürzt. „Ich kann es nicht leugnen, daß ich ihn oft und gern gesehen habe; aber ich habe ihn immer als ein Kind betrachtet und meine Neigung zu ihm war wahrhaft schwesterlich.“(S.
247) Das kränkt den jungen Dichter sehr, wie ein Kleinkind reagiert er jähzornig. Er spreche nicht mehr von ihr, nenne ihren Namen nicht mehr(S.247), verkündet er vollmundig. Zwei Hauptgründe spielen bei seiner Verletztheit mit. Als erstes fühlt er sich in seiner erwachenden Männlicheit blessiert, ist die Orientierung an klassischen Rollenbildern doch Gang und Gebe. Zweiter Grund ist die Art des Unglücks in das er sich stürzt, es ist ein emotionales, nicht rational erfassbares Unglück, das für den feinsinnig empfindenden Goethe eine der schlimmsten Enttäuschungen seines Lebens darstellt.
Er kehrt Frankfurt den Rücken zu, will sich in „einem Sinne auf die Akademie vorbereiten“(S.248)
Zu Hause bleibt die Zeit sich mit Wissen zu bereichern. Er beschäftigt sich intensiv mit der Philosophie, kann ihr jedoch wenig abgewinnen: Alles beruht ihm zu stark auf Konflikten, radikalen Fragestellungen und Versuchen rational zu antworten, ihm fehlt das Phantastische, Übersinnliche, die harte Welt schön malende Element. „Weder die Schärfe des Aristoteles noch die Fülle Platons fruchteten bei mir im mindesten. Zu den Stoikern hingegen hatte ich schon früher einige Neigung gefaßt..
..“ Die Nähe zu den Stoikern konvergiert mit seinem hedonistischen Glücksbegriff.
Er genießt in dieser Zeit das Alleinesein, das Besuchen von „Lustörtern“. Insgeheim schmerzt sein Herz noch heftig. „Mein Herz war jedoch zu verwöhnt, als dass es sich hätte beruhigen können: es hatte geliebt, der Gegenstand war ihm entrissen; es hatte gelebt und das Leben war in ihm verkümmert.
“ Goethe definiert sein Sein als emotionales, in der emotionalen Krise hat er keine übergeordneten Tugenden an denen er sich heraufziehen vermag, er ist am Boden zerstört, hat Nichts und lechzt nach Gefühlen, die er nicht bekommt. Einziger Ausweg in dieser Situation ist die Beziehung zur Schwester, die in dieser Zeit ihren Zenith an Intensität der Zuneigung erreicht. Ebenfalls verbessert sich die Beziehung zur Mutter wieder. Die weite Welt hat ihn enttäuscht, er misst sich nicht mit ihr, findet sein Glück in der Überwindung von Schwierigkeiten, sondern krabbelt in den Bauch der Mutter zurück. Bald ist die Schwester mit einem Engländer liiert, die Beziehung zu ihrem Bruder löst sich zusehends.
Goethe schließt sich wiederum einer Gruppe von jungen Leuten an, die, wie soll es anders sein, Lustpartien veranstalten.
Doch innerhalb der Gruppe kriselt es, das Konstrukt der Pärchenbildung ist ein Stein im Weg des Gruppenerlebnisses. Ein Freund schlägt einen Partneraustausch vor, der jedem Gruppenmitglied eine Partnerin zuordnet. Der Vorschlag wird angenommen. Goethe ist begeistert, entpuppt sich als Freund des Kindlichen, des Albernen.
Nach Gretchens Viertel kommt er jedoch nie, nicht einmal in die Gegend. (S.
270). Die Zeit des Studiums muss anbrechen, der Vater wählt die Rechtswissenschaften als das Studienfach seines Sohnes aus; der Ort soll Leipzig sein. Dass dieser sich lieber der Poesie als den Verordnungen widmet, ist hoffentlich in diesen Ausführungen klar geworden. „Als ich in Leipzig ankam, war es gerade Meßzeit, woraus mir ein besonderes Vergnügen entsprang...
...“ Sein Glücksbegriff wird in Leipzig weitergeschrieben, das leibliche Wohl, eine emotionale Kategorie, als Bewertungsparameter einer Lokalität. Eine Wohnung ist ihm zu eigen, doch häufiger besucht er die Gasthöfe, in denen sich Leipzigs Intelligenzia von Studenten bis Professoren trifft. Natürlich lebt er zuerst vereinzelt, er kennt fast niemanden.
Für jemanden wie Goethe, der sein Glück im (gemeinschaftlichen) Amusement findet, ein unzumutbarer Zustand.
Christian Fürchtegott Gellert ist sein erster Professor, mit dem er auch privat in Kontakt steht. Lange denkt Goethe über die Art sich zu kleiden nach, necken ihn seine Kommilitonen doch mit Anspielungen auf seine Kleidung, die nicht ganz der Leipziger Mode entspricht. „Auf eben diesem Wege hatte man auch meine Garderobe, die ich mit auf die Akademie nahm, zustande gebracht: sie war recht vollständig sogar ein Tressenkleid darunter.“ (S.281) Sein Umfeld teil die Begeisterung nicht, Goethe offenbart sich als Opportunist und kauft sich Kleidung, die mit den Vorstellungen der Leipziger konvergiert.
Die Heimatverbundenheit spielt eine große Rolle in seinem Denken. „Jede Provinz liebt ihren Dialekt: denn er ist doch eigentlich das Element, in welchen die Seele ihren Atem schöpft.“ Immer stärker beginnt Goethe zu denken und sich mit wissenschaftlichen Werken auseinanderzusetzen, was an seinem Glücksbegriff , das beweisen die genannten Beispiele,wenig ändert.
7. Buch
Das Leben in Leipzig setzt sich fort wie es angefangen hat: Häufige Besuche in Gasthäusern und Beschäftigung mit den Werken zeitgenössischer Schriftsteller. Gemeinsam mit seinen Freunden Johann Georg Schlosser und Johann Christoph Gottsched kehrt er im „Goldenen Bären“ (S.
300) ein, besondere Sympathien entwickelt Goethe zur Tochter des Hauses, Käthe Schönkopf. „.....
als mir die Tochter vom Hause, ein gar hübsches, nettes Mädchen, sehr wohl gefiel und mit die Gelegenheit ward freundliche Blicke zu wechseln, ein Behagen, das ich seit dem Unfall mit Gretchen weder gesucht noch zufällig gefunden hatte.“(S.302). Eine nächste Beziehung bahnt sich also an, seine Relation mit Gretchen bezeichnet er zwischenzeitlich als Unfall. Insgesamt bewertet Goethe vieles mit mehr Abstand und Rationalität, die allerdings in seiner Verliebtheit Gefahr läuft verloren zu gehen. Er braucht Liebe sowie Zuneigung: „ Meine frühe Neigung zu Gretchen hatte sich nun auf Ännchen (Käthe) übertragen, von der ich nicht mehr zu sagen wüßte, als daß sie jung, hübsch, munter, liebevoll und so angenehm war, daß sie wohl verdiente, in dem Schrein des Herzens eine Zeit lang als kleine Heilige aufgestellt zu werden, um ihr jede Verehrung zu widmen, welche zu erteilen oft mehr Behagen erregt als empfangen.
“(S.317) Diese Beziehung ist nicht gefühlsintensiv, Goethe fühlt sich vom leichten, lockeren Wesen angezogen, tiefere Beweggründe für seine Liebe vermag er nicht zu nennen. Goethe will Gefühle geben und empfangen; Käthe ist ganz einfach die erste, die ihm halbwegs zuspricht. Außerdem scheint sie als Tochter eines Wirts ähnlich wie Gretchen dem Studenten Goethe geistig maßlos unterlegen.
So wie Gretchen mit ihm emotional gespielt hat, springt er jetzt mit Käthe um, kann seine Überlegenheit geltend machen. „ Durch unbegründete und abgeschmackte Eifersüchtelein verdarb ich mir und ihr die schönsten Tage.
“(S.318) Goethe gefällt dieses Spiel, es ist der Streit, der ihn reizt, dem er nicht mehr ausgeliefert ist, sondern den er kontrollieren kann, bis Käthe keine Lust mehr hat sich den Launen des angehenden Künstlers auszuliefern, die Bindung aufkündigt und Goethe, noch voller Leidenschaft, sitzen läßt. Die Beziehung zu Käthe scheint für den Leser als Versuch im Streit Harmonie zu finden, Goethe kennt ihn, den Streit, nicht, kann ihn nicht rational steuern, sondern übertreibt ihn und „verrennt sich“ in ihn.
Es ist die einzige Beziehung, die er nur oberflächlich, in einigen Sätzen, beschreibt, mit schlechtem Gewissen, denn er weiß, dass sein Verhalten seinem Naturell, dem Lieben, Harmonischen, nach dem Schönen strebenden, diametral entgegensteht. Im Anschluss inauguriert er eine für ihn neue Erkenntnis: „Religion, Sitte, Stand, Verhältnisse, Gewohnheit, alles beherrscht nur die Oberfläche des städtischen Daseins. Die von herrlichen Häusern eingefaßten Straßen werden reinlich gehalten, und jemand beträgt sich daselbst anständig genug; aber im Inneren sieht es öfters um desto wüster aus, und ein glattes Äußeres übertüncht, als ein schwacher Bewurf, manches morsche Getrümmer, das über Nacht zusammenstürzt.
...“ Wahrscheinlich erkennt er langsam, vielleicht durch seine Studien, den scheinheiligen Charakter des Bürgertums und die Ambivalenz zwischen Sein und Schein- eine durchaus richtige, aber gar nicht in die Geisteswelt des angepaßten Goethe passende Feststellung. Wieder einmal vermag er nicht seine Kritik zu differenzieren und in die Tat umzusetzen, sich zeitweise im Konflikt mit seinem Umfeld zu befinden, das ihn zu dem gemacht hat, was er jetzt ist. Seine Einschätzung tangiert nur die Oberfläche; eigentlich gefällt es ihm auch, Bürger zu sein.
Mit den unteren Klassen hat er, wie bewiesen, eher weniger am Hut, die Genüsse, das Aumsement, die Besuche in Gasthöfen möchte er nicht missen.
Er ergreift die Flucht in eine intensive Beschäftigung mit der Religion, die in der damaligen Zeit durch aufklärerische „Umtriebe“ in Gefahr gerät. Seinen Hang zum Kindlich-Albernen lebt er mit seinem Freund Behrisch aus. „Er hieß Behrisch und befand sich als Hofmeister bei dem jungen Grafen Lindenau.“(S.332)
8.
Buch
Goethe tritt in Kontakt mit Adam Friedrich Oeser, hochschweifende Diskussionen über Kunst, Kultur und Geschmack folgen. Es kommt sogar zu kleineren Streitigkeiten zwischen den beiden, Goethe als Freund des von Natur aus gewachsenen, kritisiert, dass Oeser in seinen Zeichnungen von den Gesichtern und Körpern mehr die Ansichten als die Formen, mehr die Gebärden als die Proportionen zeige.(S.329) Ein Zeichen für Goethes Affinität zum Ursprünglichen, das Gesellschaftliche, die Gebärden, die aus dem Ursprünglichen entwachsen, interessieren ihn nicht: Sie sind viel zu konfliktbeladen, zu real und unästhetisch,. die kontemplative Scheinwelt stellt die seinige dar.
Die Lustpartien enden nicht, auf einem Ausflug nach Dresden sucht er einen Schuster und findet ihn bald in einer Vorstadt(S.
357). Der Handwerker ist überzeugter Christ, hoch intelligent, zudem kunstinteressiert und besitzt eine eigene Galerie. Goethe lädt sich dort häufiger zum Essen ein, führt mit ihm lange Gespräche. Wieder in Leipzig bemerkt der angehende Dichter: „...
...denn die Wahrheit jenes alten Wortes „Zuwachs an Kenntnis ist Zuwachs an Unruhe“ hatte mich mit ganzer Gewalt getroffen...
..“(S.368) Das Denken führt zu unangenehmen Erkenntnissen, die die bürgerliche, rosa Welt zum Wanken bringen. Goethe stellt sich ihnen nicht, sondern vergräbt sich in seiner poetischen Idylle, höchstens im fiktiven Streit eines Dramas, denn er hat die ökonomischen Bedingungen glücklich zu leben mit seiner Geburt empfangen.
Gemeinsam mit Bernhard Christoph Breitkopf verlegt er ein Buch mit Vertonungen seiner eigenen Liedtexte.
Er widmet sich den Radierungen und beweist außerordentliches Geschick. Ein neuer Schock trifft ihn schwer: „Indem ich nun aber Winckelmanns (sein Lehrer in Sachen Radierungen) Abscheiden grenzenlos beklagte, so dachte ich mich bald in dem Falle befinden würde, für mein eigenes Leben besorgt zu sein: denn unter allem diesen hatten meine körperlichen Zustände nicht die beste Wendung genommen. Schon von zu Hause aus hatte ich eine gewissen hypochondrischen Zug....
......
.“(S.368) Das Versterben seines Lehrers, ein emotionales Ereignis stürzt ihn in eine tiefe Krise. Wieder korreliert das Psychische im Physischen und er erkrankt stark. Das ganze Studentenleben ist ungesund, das Mersburger Bier verdüstere sein Gehirn und der Kaffee paralysiere seine Eingeweide (beides S.369).
Eines Nachts erwacht er mit einem heftigen Blutsturz. Die Genesung erfolgt jedoch schnell. Er hat die Zeit sich Gedanken zu machen, die Religion ist integraler Bestandteil: „ Die christliche Religion schwankt zwischen ihrem eigenen Historisch-Positiven und reinem Deismus..“. (S.
373) Gespickt mit kritischen Untertönen, ward die Aussage schnell wieder vergessen, die Beschäftigung mit der aufkommenden kritischen Bewegung blieb damals aus.
Er flieht sich in den Schoß der Mutter, kehrt nach Frankfurt zurück, ein Geschwulst an seinem Halse wird wegoperiert. Der Genesungsprozess dauert lange, woraufhin ihn der Vater für eine Schlappschwanz hält -doch Goethe braucht die Idylle seiner Familie. An sein Bett gefesselt philosophiert er über den Menschen: „...
und bei der Verschiedenheit der Lebensart und Genüsse von der anderen Seite doch ein Wunder ist, dass das menschliche Geschlecht sich schon lange aufgerieben hat“.(S.389) Goethe kapriziert sich mal wieder eindeutig auf die Genüsse als konstitutives Element des Seins, der Hedonist wird offensichtlich.
9. Buch
Goethe wechselt mit seinem Studium nach Straßburg, dem Zentrum des „Sturm und Drang“ , später der liberalen Bewegung. Wie soll es anders sein steigt er als erstes im Wirtshaus „Zum Geist“ ab (S.
389) und besichtigt den Straßburger Münster. Eine kleine Wohnung gehört ihm und er hat das Ziel seine nächste Absicht im Auge zu behalten, sich examinieren zu lassen, zu promovieren und dann in die Praxis umzusteigen.
So stringent kann er sein Studium jedoch nicht fortsetzen: „ Doch war es an dieser Zerstreuung und Zerstückelung meiner Studien nicht genug, sie sollten abermals bedeutend gestört werden: denn eine merkwürdige Staatsbegebenheit setzte alles in Bewegung und verschaffte uns eine ziemliche Reihe Feiertage. Marie Antoinette, Erzherzogin von Österreich, Königin von Frankreich, sollte auf ihrem Wege nach Paris nach Straßburg kommen.“(S.404) Dass die „österreichische Hure“ einige Jahre später, gefesselt, mit Exkrementen beworfen, auf einem Karren durch Paris geführt wird und schließlich die Guillotine zu spüren bekommt, ist ihr damals noch nicht klar.
Die Zerstreuung, das Vergnügen hält Goethe ab, ein sich im Kontext seines Glücksbegriffs verhaltendes Problem.
Die französischen Mädchen haben es ihm angetan: „Die Mittelklasse der Bürgermädchen behielt noch die aufgewundenen, mit einer großen Nadel festgesteckten Zöpfe bei; nicht weniger eine gewisse knappe Kleidungsart, woran jede Schleppe ein Mißstand gewesen wäre; und was das Angenehme war diese Tracht schnitt nicht mit den Händen scharf ab: denn es gab noch einige vornehme, wohlhabende Häuser, welche den Töchtern sich vom Kostüm zu entfernen nicht erlauben wollten.“(S.410) Es sind die Äußerlichkeiten, die ihm auffallen, die er für wichtig befindet. Goethe genießt das französische Leben, das er schon in der Kindheit kennen und lieben gelernt hat.
10.
Buch
Der angehende Dichter trifft auf Johann Gottfried Herder: „Denn das bedeutendste Ereignis, was die wichtigsten Folgen für mich haben sollte, war die Bekanntschaft und die daran sich knüpfende Verbindung mit Herder“.(S.448) Goethe ist begeistert von seinem Schaffen, doch missfällt ihm die Schlichtheit und Rationalität seiner Werke. Sie haben nichts von der pompösen Bibel, es fehlt die fiktive Romantisierung von Handlungsabläufen, die die Realität nicht spiegeln, sondern verfälschen.
Mit Freunden auf einer Lustpartie unterwegs übernachten die Studenten in einem Pfarrhaus in Stresenheim. Dort lernt Goethe seine nächste große Liebe kennen: Friederike Brion, Pfaffentochter.
„...und da ging fürwahr an diesem ländlichen Himmel ein allerliebster Stern auf. Wie sich die Beziehung entwickelt, erfahren wir erst im dritten Teil.
Fazit
Johann Wolfgang von Goethes Glücksbegriff scheinen wir jetzt ein Stück näher gekommen zu sein: Es sind die großbürgerlichen Umstände, die ihm die Tore öffnen, ihn ein glückliches Dasein fristen lassen.
Durch sein gesellschaftliches Sein wird er maßgeblich geprägt. Es machen ihn immerfort die sinnlichen Genüsse glücklich, der Verstand, das Wissen bleibt sekundär. Zwar relativiert sich das Streben nach Genuss, dass sich mit zunehmender Bildung immer stärker im Rahmen der bürgerlichen Normen hält, in der Leipziger und Straßburger Zeit: Die Reflexion über Tugend und Sinn des Lebens findet statt, aber die Konsequenz sie zu verfolgen entwickelt Goethe nicht. Das Gesellschaftliche läßt ihn kalt, das Ursprünglich-Kontemplative, Ästhetische, Widerspruchslose ist sein Streben. Teile seiner Ausführungen lassen darauf hindeuten, dass gesellschaftliche Widersprüche ansatzweise erkannt, er aber vor ihnen wegläuft, weil gesetzt ihrer Auflösung, sein Leben an Beschaulichkeit verlöre, allein sein ökonomisches Privileg gefährde.
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