Andorra - max frisch
Andorra
Wie Millard Lampell in seinem Schauspiel Die Mauer greift Frisch in Andorra den Antisemitismus an; während jedoch Lampell sich auf eine Dokumentation des Schicksals der Juden im Warschauer Ghetto beschränkt, versucht Frisch, seinen Zeitgenossen die Judenfrage im Rahmen einer modellhaften Situation vor Augen zu führe: der des Outsiders, der sich einer in Ressentiments erstarrten Gesellschfat gegenübersieht. Das Problem des gesellschaftlichen Vorurteils ergibt sich aus einer vorgestellten politischen Situation; dem "weißen" Andorra droht die Aggression der "scwarzen". In diesem Andorra, das nicht zu tun hat mit dem Kleinstaat dieses Namens, wird dem jungen Andri auf Grund des Gerüchts, sein Pflegevater, der Lehrer Can, habe ihn als Judenkind vor dem Zugriff der "Schwarzen" gerettet und aufgezogen, das Schandmal der Andersartigkeit aufgeprägt (in Wirklichkeit ist er Cans unehelicher Sohn). Der Tischler, sein Lehrherr, wirft ihm Fehler vor, die offensichtlich ein anderer begangen hat: der Bürger unterdrückt die Wahrheit. Der Soldat, ähnlich dem Tamboumajor aus Büchners Woyzeck, misshandelt den Jungen: die Gewalt erschlägt das Recht. Der Arzt beleidigt ihn aus bornierter Eitelkeit: Klischeedenken verstellt die Einsicht.
Der Pater, eine dem Staatsanwalt in Frischs Roman Stiller verwandte Figur, hält Andri das Kierkegaard-Wort: "Du musst dich selber annehmen", entgegen, vermag ihm aber nicht zu helfen, da auch er sich an ein falsches Bild hält. Von einer Mauer des Vorurteils umgeben, klammert sich Andri an seine Liebe zu Barblin, der ehelichen Tochter seines Pflegevaters. Als ihm die Hand des Mädchens verweigert wird - da sie ja in Wirklichkeit seine Halbschwester ist -, bildet Andri eben jene Eigenschaften aus, die seine Umgebung ihm unablässig einzuhämmern versucht. Der Wahn seiner Umwelt wird zum Wunschbild seiner Existenz: "Ich will anders sein:" So ist das Verhängnis unausweichlich: in der großen Judenschau nach dem Einmarsch der "Schwarzen" wird er zur Liquidation abgeführt, der Vater erhängt sich, Barblin weißelt mit irrer Gebärde die Stadt und starrt auf die zurückgebliebenen Schuhe Andris, vergeblich hoffend, dass ihr Bruder heimkehren werde.
Frisch durchbricht das Illusionstheater, in dem er die Schuldigen zwischen den einzelnen Bildern den Zeugenstand treten, die Ereignisse in der Rückschau erörtern und alle, außer dem Pater, sich für nicht schuldig erklären oder die Achseln zucken lässt. Das Stück erweckt den Eindruck, als gehe es Frisch weniger um eine Bewältigung des Judenproblems unserer jüngsten Vergangenheit, das - seiner massenmörderischen "Endlösung" entkleidet - lediglich in einer Form von allgemeinem Antisemitismus als sozialem Vorurteil behandelt wird.
Judenproblem und Identitätsproblem werden auf eine verwirrende Weise vermengt (Andri ist nicht Jude, sondern wird für einen Juden gehalten). Ferner hat es den Anschein, als ob der Autor, der - wie sein Tagebuch berichtet - auf die Idee gekommen ist, die von Nichtjuden den Juden zu diktierten Eigenschaften (Geldgier etc. ) als einem Urbild zugehörig zu akzeptieren scheint. Der politische Rahmen mit seinem konkreten Zeitbezug verstellt die Absicht der modellhaften massenpsychologischen Studie, die das Resentiment aus der Ideologie und die Ideologie aus einem Mangel an Leitbildern ableitet, und verdrängt die ursprünglich aufgeworfene Frage der Abhängigkeit des einzelnen vom Bild seiner Umgebung - ein Grundproblem seit Pirandello - und der Suche des Menschen nach seiner Identität: Ionescos Thema. Das Stück löste durch die in ihm behandelten Probleme vor allem in Deutschland, wo es sogleich auf fast allen großen Bühnen gespielt wurde, aber auch in anderen europäischen Ländern heftige Diskussionen aus, während die New Yorker Aufführung auf Verständnislosigkeit stieß und nach kurzer zeit abgesetzt werden musste.
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