Die physiker
1. Vom Wesen und den Werken Friedrich
Dürrenmatts
Friedrich Dürrenmatt wird am 5.
Jänner 1921 in Konolfingen (Kanton Bern) als Sohn eines Pfarrers geboren. Sein Großvater
ist ein konservativer Nationalrat, der mit satirischen Gedichten Bürokratismus und
ähnliche Mißstände anprangert. Dieser erreicht mit seinen Gedichten etwas, um das ihn
Friedrich immer beneidet. Er muß nämlich für ein Gedicht ins Gefängnis.
Eine
"Ehre", die seinem Enkel nie zuteil wird. Im Gegenteil. Friedrich Dürrenmatt
erringt mit seinen gesellschaftskritischen Werken immer nur Ehrungen und Ehrentitel.
Trotz seiner Erziehung in einem Pfarrhaus
hat er zu Gott und Glauben ein eher distanziertes Verhältnis. Ursprünglich will
Dürrenmatt Maler werden und wird von seinen Lehrern mit den Naturwissenschaften bekannt
gemacht. Einem Wissensgebiet, zu dem Dürrenmatt auch später noch eine sehr enge
Beziehung hat und das auch Stoff eines seiner größten Werke wird.
Friedrich Dürrenmatt
besucht das Gymnasium mit mäßigem Erfolg und studiert anschließend Philosophie und
Germanistik, ohne jemals einen Abschluß zu machen.
Zu schreiben beginnt er während des
Zweiten Weltkrieges, den er, in der Schweiz lebend, durch Zeitungen und Rundfunk erlebt.
Seine ersten Werke haben eine apokalyptisch-phantastisch-schauerliche Note an sich.
"Ein Mensch erschlug seine Frau und
verwurstete sie (...
)" 1. So beginnt die Geschichte "Die Wurst". In
diesem Stück geht es um einen Mann, der seine Frau ermordet und sie zu Wurst verarbeitet
hat. Als er dann vor Gericht gestellt wird, wird er natürlich zum Tod verurteilt. Er hat
aber noch einen Wunsch: Er möchte die letzte verbliebene Wurst, die als Beweisstück im
Prozeß gedient hatte, essen. Seinem Wunsch wird stattgegeben.
Als die Wurst jedoch geholt
werden soll, stellt sich heraus, daß sie bereits der Richter vezehrt hat.
In seinem gesamten Schaffen der damaligen
Zeit sind derart makabere und absurde Begebenheiten zu finden. Auch die Motive seiner
Bilder sind in dieser Zeit meist Folterknechte, Scharfrichter, Skelette, Krüppel,
Menschentiere und Figuren aus seinen Geschichten.
Erste abendfüllende Dramen von Dürrenmatt
erscheinen nach dem Zweiten Weltkrieg. Allen diesen Stücken ist eine grausame und
machthungrige Hauptperson gemeinsam. Er versucht in diesen Stücken als einer der Ersten
die noch keine fünf Jahre zurückliegende Vergangenheit aufzuarbeiten und dem Trauma, das
der Zweite Weltkrieg bei allen Menschen hinterlassen hat, ein Ende zu bereiten oder doch
zumindest ihm Raum zu geben.
1 Goertz, Heinrich: Duerrenmatt, Reinbeck
bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH 1987, ISBN 3-499-50380-8, Seite 19
Dürrenmatt gerät 1949 durch seine
Zuckerkrankheit, der Geburt seines zweiten Kindes und einigen Mißerfolgen in finanzielle
Bedrängnis und beginnt 1950 für die Zeitung "Der Schweizerische Beobachter" an
einem Fortsetzungsroman zu schreiben. Der Roman mit dem Titel "Der Richter und sein
Henker" erscheint in acht Folgen und wird zu einem großem Erfolg.
Es ist der erste Kriminalroman
Dürrenmatts. Ein Roman voll überraschender Wendungen, aber auch voll von Satirischem
über das Genre des Kriminalromans, über die ganze Schweiz, die Polizei und über die
Gangster. Auch Dürrenmatts zweiter Kriminalroman "Der Verdacht", den er 1952
für die gleiche Zeitung schreibt, und der mehr oder weniger eine Fortsetzung des Ersten
ist, wird ein Erfolg.
Nach seinen Erfolgen als Kriminalautor
beginnt sich Dürrenmatt mehr mit Gesellschaftsproblemen zu beschäftigen.
Es entstehen
die wahrscheinlich wichtigsten Werke Dürrenmatts: "Der Besuch der alten Dame"
(1956) und "Die Physiker" (1962).
Ab 1966 beginnt eine neue Schaffensphase,
die Bearbeitung fremder (König Johann nach Shakespeare, Play Strindberg nach Strindbergs
Totentanz, Urfaust nach Goethe) und eigener Werke für die Bühne. Dürrenmatt nimmt eine
Zeitlang eine feste Stelle beim Theater an. Die historischen Stoffe treten nun in den
Hintergrund und die aktuellen Themen verstärken sich.
In den letzten Lebensjahren entwickelt sich
zwischen Dürrenmatt und seinem Publikum bzw. seinen Kritikern ein immer gespannteres
Verhältnis.
Friedrich Dürrenmatt stirbt am 14.
Dezember 1990 im Alter von 69 Jahren in seinem Haus in der Schweiz in Neuchatel.
2. Die Physiker
2.1. Inhalt
Die Handlung des Stücks spielt im Salon
der Villa eines privaten Sanatoriums, oder besser gesagt eines Irrenhauses.
Während im
südlichen, neu gebauten Teil des Sanatoriums prominente Gäste ihr Dasein zu horrenden
Preisen fristen, leben in der schon etwas verlotterten Villa nur mehr drei Patienten. Es
sind dies drei Physiker. Sie nehmen gemeinsam ihr Essen ein, diskutieren über
physikalische Probleme oder leben eingesponnen ihr eigenes Leben. Ihre drei Zimmer grenzen
direkt an den Salon an.
Leiterin und Gründerin des Irrenhauses ist
Fräulein Dr. h.
c. Dr. med. Mathilde von Zahnd. Einzig noch lebender Sproß einer einst
angesehenen und mächtigen Industriellenfamilie. Sie genießt einen Weltruf als
Menschenfreund und Psychiater.
Es ist kurz nach halb fünf Uhr
nachmittags. Aus einem der den Salon angrenzenden Zimmer dringt Geigenspiel mit
Klavierbegleitung. Auf dem Boden des Salons liegt die Leiche einer Krankenschwester. Im
Raum herrscht Unordnung. Um die Leiche bemühen sich mehrere Kriminalbeamte. Inspektor
Richard Voß befragt gerade die Oberschwester zur Person des Opfers und des Täters.
Über
den Täter muß er erfahren, daß es sich um Ernst Heinrich Ernesti handelt. Ernesti ist
einer der drei Physiker, er hält sich für Einstein.
Während der Inspektor auf die Leiterin des
Hauses wartet, betritt Herbert Georg Beutler den Salon. Beutler, der sich für Newton
ausgibt, erkundigt sich nach dem Lärm, der im Salon herrscht. Als Newton erfährt, daß
Einstein seine Pflegerin erdrosselt hat, wundert sich Newton, wie man nur eine
Krankenschwester erdrosseln kann. Der Inspektor entgegnet ihm, daß auch er, Newton, seine
Krankenschwester erdrosselt hat.
Newton erklärt dem Inspektor, daß es bei ihm ganz
anders gewesen sei. Seine Krankenschwester hatte sich in ihn verliebt, und er erwiderte
diese Liebe. Dieses Dilemma sei nur noch mit einer Vorhangkordel zu lösen gewesen. Allein
schon der Altersunterschied, er mußte doch jetzt schon über zweihundert Jahre alt sein,
wäre ein Hindernis gewesen. Außerdem, so vertraut er dem Inspektor an, sei er gar nicht
verrückt. Er tut nur so, damit Ernesti nicht verwirrt ist, denn Ernesti ist in
Wirklichkeit Newton und er ist Einstein.
Nach diesem verwirrenden Zwiegespräch
betritt die Leiterin des Hauses den Raum. Als ihr der Inspektor von seinem Gespräch mit
Newton erzählt, meint sie, daß er das jedem erzähle, daß er sich aber tatsächlich
für Newton halte, denn sie bestimme in diesem Haus für wen sich ihre Patienten halten.
Der Inspektor weist Frau Zahnd darauf hin,
daß der Staatsanwalt nach diesem zweiten Mord nun darauf besteht, daß starke männliche
Pfleger die Betreuung der drei Physiker übernehmen müssen. Nach einigem Zögern gibt sie
nach und sichert zu, daß sie hier von nun an männliche Pfleger einsetzen wird.
Nachdem der Inspektor verschwunden ist,
erscheint Frau Rose mit ihrem Mann und ihren Kindern. Sie ist die ehemalige Frau von
Johann Wilhelm Möbius, dem dritten Physiker.
Frau Rose hat den Missionar Rose geheiratet
und will sich nun von Möbius verabschieden.
Sie erkundigt sich nach dem Befinden, und
fragt ihn, ob ihm König Salomo noch immer erscheine. Möbius kann sich nur schwach an
seine Kinder erinnern, und beginnt den Irren zu spielen. Er schüchtert seine Familie ein
und wirft sie mit wüsten Beschimpfungen aus dem Raum.
Nachdem die Familie den Raum verlassen hat,
beruhigt Schwester Monika den aufgebrachten Möbius. Sie hat bemerkt, daß er gar nicht
verrückt ist.
Dabei gesteht sie ihm ihre Liebe und berichtet ihm, daß sie die Erlaubnis
habe, mit ihm das Irrenhaus zu verlassen und in einem kleinen Dorf eine neue Existenz
aufzubauen. Möbius ist das zuviel, und er erdrosselt sie. Nach diesem dritten Mord
erscheinen nun riesenhafte Pfleger, die Türen werden abgeschlossen und die Fenster
vergittert.
Beim Mittagessen überrascht Newton die
beiden anderen Physiker mit einem Geständnis. Er gesteht, daß er Alec Jasper Kilton ist,
der Begründer der Entsprechungslehre, und daß er sich in das Irrenhaus eingeschlichen
hat, um hinter das Rätsel um Möbius Verrücktheit zu kommen. Er sei Angehöriger eines
Geheimdienstes und hat seine Krankenschwester nur deshalb umgebracht, weil sie seine wahre
Identität erahnt hat.
Er hält Möbius für den größten Physiker aller Zeiten, hat alle
seine Dissertationen gelesen und muß ihn nun bewachen und notfalls entführen, falls sich
ein gewisser Verdacht bestätigt.
Nach diesem Geständnis gibt Einstein
ebenfalls zu, daß er nicht verrückt ist. In Wahrheit ist er Joseph Eißler, der
Entdecker des Eißler-Effekts. Auch er arbeitet für den Geheimdienst, und seine Aufgabe
ist es, Möbius zu bewachen.
Nun bekennt auch Möbius, daß er
eigentlich gar nicht verrückt ist. Weil er hinter das Geheimnis der Schwerkraft gekommen
ist und nun fürchtet, daß seine Entdeckung für die Menschheit verheerende Folgen
hätte, wenn sie bekannt würde, ist er ins Irrenhaus geflüchtet.
Newton entgegnet Möbius, daß Physiker
Pionierarbeit zu leisten hätten und daß die Erkenntnisse, die sie machen, der Menschheit
zugeführt werden müssen. Ob die Menschen mit diesen Erkenntnissen richtig umgehen, sei
nicht Sache der Physiker. Darauf meint Einstein, daß die Verantwortung des Physikers
nicht außer acht gelassen werden darf, und daß nur der Physiker entscheiden darf, was
mit seinen Erkenntnissen geschieht.
Beide Agenten bemühen sich um Möbius und
halten sich gegenseitig in Schach. Doch sie müssen sich eingestehen, daß nur Möbius
selbst entscheiden kann, welcher Seite er sein Wissen zur Verfügung stellt.
Da gesteht Möbius, daß er seine
Manuskripte bereits verbrannt hat.
Er begründet dies damit, daß er nicht in die
Abhängigkeit von Politikern kommen möchte. Es fällt der Kernsatz des Stückes: "Es
gibt Risiken, die man nicht eingehen darf: Der Untergang der Menschheit ist ein
solches"
Er hat sich daher entschlossen, sein Wissen nicht zu
veröffentlichen. Die Menschheit ist nicht reif genug für sein Wissen: "Wir
müssen unser Wissen zurücknehmen, und ich habe es zurückgenommen"
Möbius
bleibt im Irrenhaus. Nach diesem Geständnis entschließen sich auch Newton und Einstein,
ebenfalls im Irrenhaus zu bleiben, als vermeintlich Irre wollen sie weiterleben: "Verrückt,
aber weise. Gefangen, aber frei. Physiker, aber unschuldig.
"
Da erscheint die Leiterin des Irrenhauses
mit ihren Pflegern im Salon. Zur Überraschung der Physiker spricht sie sie mit ihren
richtigen Namen an. Aus ihrem Mund müssen die Physiker erfahren, daß sie ihr Bündnis
umsonst geschlossen haben. Seit Jahren hat die Anstaltsleiterin alle Manuskripte von
Möbius heimlich fotokopiert. In einem mächtigen, von ihr geschaffenen Trust wird sie
auch das System aller möglichen Erfindungen für den Weg zur Weltherrschaft ausnutzen.
Dies alles geschehe im Auftrage des goldenen Königs Salomo, der auch ihr erschienen sei.
Es zeigt sich, daß die Irrenärztin selber geisteskrank ist.
Die Lage der Physiker ist aussichtslos
geworden. Sie müssen, als gefährliche Geisteskranke zum Schweigen verurteilt, ihr Dasein
weiterhin im Irrenhaus fristen. In kurzen Schlußmonologen geben sie ihrer tiefen
Resignation Ausdruck.
2.2.
Interpretation
Dürrenmatt bezeichnet das Stück als
Komödie mit der Begründung, daß in der heutigen Zeit nur noch das Komische dem Realen
beikommt. Die klassische Tragödie kann die heutige Zeit nicht mehr darstellen. Die
klassische Tragödie verlangt einen Helden, der frei entscheiden kann und daher auch für
sein Schicksal selbst verantwortlich ist. In der heutigen Zeit ist dies jedoch nicht
möglich. Jeder ist eingeschlossen in einem Gesellschaftssystem, aus dem es für ihn kein
Entrinnen gibt. Er handelt nicht mehr nach freiem Willen, sondern muß sich dem Willen
vieler unterwerfen.
Diese Komödie ist ein beklemmendes Beispiel dafür.
2 Dürrenmatt, Friedrich: Die Physiker.
Zürich Diogenes Verlag 1980, ISBN 3-257-20835-9 Seite 73
3 Dürrenmatt, Friedrich: Die Physiker.
Zürich Diogenes Verlag 1980, ISBN 3-257-20835-9 Seite 74
4 Dürrenmatt, Friedrich: Die Physiker.
Zürich Diogenes Verlag 1980, ISBN 3-257-20835-9 Seite 77
Der Physiker Möbius entdeckt eine Formel,
die alle Probleme der Physik löst. Er erkennt, welche Macht in dieser Formel steckt und
opfert sein Leben als freier Bürger, nur um die Menschheit vor dem sicheren Untergang zu
bewahren.
Erst am Ende erkennt er, daß es umsonst war: "Was einmal gedacht wurde,
kann nicht mehr zurückgenommen werden" 5.
Die Geschichte des genialen Physikers
Möbius ist keineswegs eine Erfundene. Möbius steht in dem Stück stellvertretend für
Albert Einstein. Einstein legte mit seinen Erkenntnissen den Grundstein für den Bau einer
Atombombe und konnte, nachdem er die Gefährlichkeit seiner Erfindung erkannt hatte, die
Herstellung einer solchen nicht verhindern.
Wissen ist hier zu Macht geworden. Sie hat
dem Menschen Macht gegeben, sich selbst zu vernichten.
Das Stück ist ein Appell an die
Wissenschaft, manches Denkbare nicht zu denken.
5 Dürrenmatt, Friedrich: Die Physiker.
Zürich Diogenes Verlag 1980, ISBN 3-257-20835-9 Seite 85
3. Quellenverzeichnis
3.1. Primärliteratur
Dürrenmatt, Friedrich: Die Physiker.
Zürich Diogenes Verlag 1980, ISBN 3-257-20835-9
3.2. Sekundärliteratur
Goertz, Heinrich: Dürrenmatt, Reinbeck bei
Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH 1987, ISBN 3-499-50380-8
Kaestler, Reinhard: Erläuterungen zu
Friedrich Dürrenmatt, Die Pysiker, Hollfeld: Bange 1991, ISBN 3-8044-0360-3
Anmerkungen: |
| impressum | datenschutz
© Copyright Artikelpedia.com