Der stechlin
Autor
Theodor Fontane wurde 1819 in Neuruppin in
der Mark Brandenburg geboren. Er entstammt einer französischen Hugenottenfamilie, die
einst in Preußen Glaubensschutz gesucht hatte. Neuruppin und Swinmünde waren die ersten
Stationen seiner Jugend, Berlin, Dresden und Leipzig die Stationen seiner Berufsausbildung
zum Apotheker. Fontane schrieb in seiner Freizeit Gedichte und
schloss sich bald in Berlin
dem Dichterklub Tunnel über der Spree", dem auch Emanuel Geibel, Theodor Storm
und Felix Dahn angehörten, an. Er wandte sich dem Journalismus zu und nutzte eine Chance,
als offiziöser preußischer Berichterstatter nach England zu gehen. 15 Jahre lang von
1844 an hielt er sich immer wieder längere Zeit in England auf, bereiste das Inselreich
und ahmte seine literarischen Stimmungen nach.
Vor allem Schottland mit seiner
Heldenerinnerung regte ihn zu etlichen Balladen an. Von 1860 bis 1870 arbeitete er als
Redakteur für die Neue Preußische Zeitung", dem als Kreuzzeitung"
bekannten Blatt der Konservativen, das u.a. auch Bismarck 1848 unter seinen Mitbegründern
verzeichnete.
Seine Gedichte" enthalten
lyrische Klänge der reinsten und edelsten Art, aber seine Stärke liegt in seinen
Balladen und patriotischen Liedern. Das gründliche Studium seiner über alles geliebten
Heimat, dessen Ergebnisse er in seinen vortrefflichen Wanderungen durch die Mark
Brandenburg" niedergelegt hat, führte ihn auch zu seiner ersten Liedersammlung:
Männer und Helden", in denen er meist preußische Krieger aus Friedrichs d.
Gr. Zeit in volkstümlicher Weise besang. Sein mehrjähriger Aufenthalt in England und
Schottland gab seiner Muse eine zweite Richtung, die zuerst in dem Balladenzyklus: Von
der schönen Rosamunde", und weiterhin in zahlreichen Romanzen zum Ausdruck gekommen
ist. Die ruhmreichen Kriege unseres Volkes von 1864, 1866 und 1870 wiesen ihn aber mit
erneuter Macht auf Ausbildung und Betonung des patriotischen Elements" hin. Von
dem Tage von Düppel" bis zu dem Einzuge unseres Heeres am 16. Juni 1871 in
Berlin hat er in markigen volksmäßigen Rhythmen aus treuer deutscher Brust, doch ohne
jedwede ruhmsüchtige Überhebung, die großen Taten unseres Volkes gefeiert und damit der
patriotischen Dichtung einen neuen Schwung und Aufschwung gegeben.
Deutsche Literaturgeschichte, Robert König
Als patriotischer Dichter und Sänger der
Hohenzollern wäre Fontane im Gedächtnis der Literaturgeschichte geblieben, als
Repräsentant eines konservativ-national gesinnten Bürgertums, das die preußische
Einigung Deutschlands aus vollem Herzen bejahte und damit seine wesentlichen politischen
Ambitionen erfüllt sah. Man hätte ihn behalten als Autor, der die preußisch-nationale
Einigung Deutschlands durch Blut und Eisen" anschließt, wenn nicht der alte
Fontane sowohl von den Inhalten seiner Werke als auch aufgrund seiner unvermindert
anhaltenden Schaffenskraft das Publikum überrascht hätte. Erst am Ende der siebziger
Jahre, Fontane ist nun Theaterkritiker der Vossischen Zeitung" - eine
staatliche Stellung gab er aus Gründen der geistigen Freiheit wieder auf - erst am Ende
der siebziger Jahre begann der patriotische" Autor, seine stattliche Zahl von
historischen Romanen und Mileuromanen der Gegenwart zu veröffentlichen. Erst als
sechzigjähriger fand Fontane zu jenem Ton, der Kritik und Ironie mischte, der den Mensch
ehrte und nicht den Stand. Aus Fontanes Romanen sprach menschliches Verständnis, auch
Wehmut und Resignation und ein Hauch Endzeitstimmung, der so gar nicht zu dem doch jungen
Deutschen Reich passen wollte.
Fontane gewann die Verehrung der jungen,
politisch aktiven, naturalistischen Schriftsteller.
Es gab sogar Verbrüderungsszenen
zwischen den jungen Autoren und dem alten Schriftsteller, obwohl dieser doch in seinem
Stil die Distanz zu den Dingen pflegte und nicht die naturalistische Aufdringlichkeit der
Elendsschilderung. Das einigende Band des Verständnisses bestand darin, daß sowohl
Fontane als auch die Naturalisten den herrschenden adeligen Kräften des Kaiserreiches
keinen zukunftsweisenden Elan mehr zumaßen.
Hauptwerke
Vor dem Sturm. Ein Roman aus dem Winter
1812 auf 13. (1878)
Grete Minde. Nach einer altmärkischen
Chronik.
(1879)
LAdultera (1880)
Schach von Wuthenow. Erzählungen aus der
Zeit des Regiments Gensdarmes. (1882)
Unterm Birnbaum (1885)
Irrungen, Wirrungen (1887)
Stine (1890)
Unwiederbringlich (1891)
Frau Jenny Treibel oder Wo sich Herz zum
Herzen findt. Roman aus der Berliner Gesellschaft. (1892)
Effi Briest (1894/95)
Der Stechlin (1897)
Werk
In der Grafschaft Ruppin liegen See und
Schloß Stechlin. Sein Besitzer ist der Major a.
D. Dubslav von Stechlin, 66 Jahre alt,
seit langer Zeit verwitwet. Sein Sohn Woldemar, 32 Jahre alt, unverheiratet, Rittmeister,
ist der Liebling seiner Tante Adelheid, Herrin des Stiftes Wutz. Ein kleiner Freundeskreis
geht in Stechlin aus und ein: der Oberförster Katzler, der Superintendent Koseleger und
Pastor Lorenzen, der Dorfschullehrer Krippenstapel und die Familie von Gundermann. Zu
einem Besuch des Vaters bringt Woldemar eines Tages seine beiden Freunde Assessor von Rex
und Hauptmann von Czako mit. Auf dem Rückweg wird auch Tante Adelheid besucht.
Kaum gibt
es größere Gegensätze als diesen Bruder und diese Schwester: der Stechlin ist ein
Original mit Humor und viel Selbstironie, menschenfreundlich, tüchtig und ohne jeden
Dünkel; Adelheid ist überheblich, engherzig und adelsstolz. In Berlin verkehrt Woldemar
in der Familie des Grafen Barby, der zwei Töchter hat: die ältere Melusine, nach kurzer
Ehe mit einem italienischen Grafen geschieden, und die jüngere, unverheiratete Armgard.
Um diese bewirbt sich Woldemar auf Wunsch seines Vaters, verlobt er sich mit ihr und wird
mit der Schwiegertochter auf Stechlin herzlich empfangen. Auch zwischen dem alten Stechlin
und Graf Barby bahnen sich freundschaftliche Beziehungen an; ihre gemeinsamen Gespräche
führen zu der Erkenntnis, daß eine neue Zeit demokratischer Weltanschauung anbreche.
Während der Hochzeitsreise Armgards und Woldemars stirbt mit der Ruhe eines alten
Philosophen Vater Stechlin; das junge Paar bezieht das Schloß.
Im Stechlin schildert Fontane das
gesellschaftliche Leben in Berlin und in der Mark Brandenburg.
In vielen, den Roman
durchziehenden Gesprächen steht der Konflikt zwischen Tradition und den Ideen einer neuen
Zeit.
Die Stechlins sind ein vierhundert Jahre
altes Adelsgeschlecht, das an der mecklenburgischen Grenze der Mark Brandenburg wohnt.
Stechlin ist auch der Name für einen kleinen See im Besitz der gleichnamigen
Adelsfamilie. Dem See sagt man nach, daß er zu brodeln beginnt, wenn auf der
anderen Seite der Welt" Katastrophen, Erdbeben und Revolutionen sich ereignen. Der
geheimnisvolle See gehört zu dem Gran spukhafter Umgebung, die eine Adelsfamilie der Zeit
auszeichnet.
Zur Zeit der Romanhandlung leben drei
Stechline": der alte Dubslav, inzwischen 66 Jahre, sein Sohn Woldemar und, noch
zehn Jahre älter als ihr Bruder Dubslav, Adelheid von Stechlin.
Sie steht einem
Damenstift auf Kloster Wutz als Domina (mit Majorsrang, wie sie betont) vor. Der alte
Dubslav hatte sich schon vor 30 Jahren als Major vom aktiven Militärdienst
zurückgezogen. Da seine Frau früh starb, hatte er fast die gesamte Zeit allein als
Privatier auf seinem Schloß gelebt. Woldemar ist Hauptmann bei den Gardedragonern in
Berlin.
Eine abwechslungsreiche Handlung gibt es in
dem Roman nicht. Fontane stellt Stationen und Bekanntenkreise einer Lebensweise dar, die
sich durch das Ausfüllen von Freizeit auszeichnet.
Als einzigen konsequenten Handlungszug
kann man vielleicht die Werbung Woldemars um Armgard von Barby mit dem Erfolg der
Vermählung bestimmen, denn nunmehr ist der Bestand des Stechlinschen Geschlechts nach dem
Tode Dubslavs gesichert. Die Art der Werbung entbehrt allerdings jedweder aktiven
Handlung. Sie erfolgt gewissermaßen im Vorbeigehen beim Erfüllen der Freizeitpflichten.
Jeder Person ist ein Zirkel anderer
Personen zugeordnet. Der Hauptfigur des Romans, Dubslav von Stechlin, sind als enger Kreis
der Dorfschullehrer Krippenstapel, Pastor Lorenzen, der Oberförster Katzler und der
Diener Engelke zugeordnet. Entfernter stehen die sich anbiedernden, neureichen
Mühlenbesitzer, die Gundermanns, der Geldverleiher Baruch Hirschfeld, Bürgermeister
Kuckhohn, Katzlers pflichtversessene Gattin Ermyntrud, die darunter leidet, durch ihre
Heirat ihren Adelstitel aufgegeben zu haben, der Superintendent Koseleger, der sich in der
märkischen Provinz als gleichsam strafversetzt fühlt, der Landarzt Dr.
Sponholz und am
Schluß des Romans Agnes, die auf dem Lande aufwachsende Tochter einer sich in Berlin als
Plätterin durchschlagenden Frau. Am Rande des Geschehens taucht die Galerie knorriger und
selbstbewußter märkischer Adeliger und Honoratioren auf. Nur noch als schemenhafte
Staffage erscheinen die Globsower Leute, die Armen der Gegend, die ihren kargen
Lebensunterhalt in Glashütten verdienen.
Woldemar von Stechlin mißt sich an
Hauptmann von Czako und an Assessor Rex, natürlich Offizier der Reserve. Der Hauptmann
von Czako ist ein gutmütiger, unkomplizierter Bursche, der mit loser Zunge schnell einmal
leicht anzügliche Reden führt. Der Assessor von Rex hat eine Stellung in einem
Ministerium.
Er beschreibt die Welt mit einer differenzierten Sprache. Vor allem hat er
ein feines Gespür für Rangunterschiede in der Gesellschaft. In seiner Sicht ist der Adel
des Hauptmanns von Czako nicht so hoch anzusetzen wie wirklich alter Adel, zudem verrät
der Name eine nicht so wertvolle" böhmische Abstammung. Darüber hinaus dient
der Hauptmann zwar schon in einem hervorgehobenen Garderegiment, aber noch lange nicht in
den feineren Kavallerie-Garderegimentern.
Einen geradezu grotesken Umgang pflegt
Adelheid von Stechlin als Domina des Klostergutes Wutz. Ihr Kloster findet schon seit
langem keinen Zuspruch mehr, so daß sich nur noch steinalte Nonnen dort befinden.
Gleichwohl wird immer, wenn sich die Gelegenheit ergibt, adelige Lebensart vorgekehrt. Das
Ergebnis der Abgeschiedenheit des Kloster ist eine skurrile Mischung aus Vornehmheit und
dem kindlichen Verhalten alter Jungfern. Adelheid bemerkt zu keiner Zeit die Überlebtheit
ihrer Klosterwelt. Im Gegenteil: Aufgrund ihrer Führungsfunktion und der Übung auch in
den Handarbeiten eines landwirtschaftlichen Betriebes wird ihr Selbstbewußtsein noch
gestärkt. Sie vertritt konservative Ansichten und beachtet die Rangstufen der
Gesellschaft am genauesten, wobei märkischer Adel im Mittelpunkt steht.
In den Zirkeln spielt sich das Leben in
immerwiederkehrenden Ausfahrten, Gesprächen, Plaudereien, gemeinsamen Mahlzeiten ab.
Stets geht man in gemessenem Ton miteinander um, ohne allerdings alles nur zu
beschönigen. Gegenüber diesem Lebensstil verblassen die brennenden Probleme der Zeit,
wie Arbeiterschaft, Liberalismus und Demokratie bzw. Sozialdemokratie. Zwar ignoriert man
keine der Tendenzen der modernen Zeit", aber in der Adelseinstellung den Dingen
gegenüber brechen sich die Turbulenzen der Welt wie in einer Milchglasscheibe.
Der Adel dokumentiert seine Haltung nicht
in Schroffheiten oder in derben Verteidigungen gegenüber den aufsteigenden
Gesellschaftsschichten. Adel beweist sich in kleinen Dingen.
Dubslav ist konservativ, er
fühlt sich in den bestehenden Verhältnissen wohl. Von Freunden gedrängt, kandidiert er
sogar als Konservativer für den Reichstag. Er hält es aber für unter seiner Würde, auf
Wahltournee zu gehen oder sich überhaupt Gedanken um ein politisches Programm zu machen.
Er unterliegt daher dem sozialdemokratischen Kandidaten Torgelow, für den die kleinen
Leute vom Lande und die Globsower die Mehrheit zusammenbrachten. Weil er sich nicht um
eine positive Wahlaussage bemüht hat, so berührt Dubslav die Niederlage nicht weiter.
Was er von dieser politischen Gegnerschaft noch wahrnimmt, ist der Umstand, daß Torgelow
im Reichstag außer durch eine dümmliche Wortmeldung in keinster Weise von sich reden
macht.
An die Verbesserung der Lebenslage der Globsower verschwendet Dubslav keine
Gedanken. Seine Abneigung gegen die Sozialdemokratie äußert sich vor allem dadurch, daß
er den Vertreter seines Hausarztes ablehnt, weil dieser anscheinend sozialdemokratischen
Gedanken nachhängt. Abstoßend beurteilt er auf der anderen Seite das anbiedernde
Verhalten der neureichen Gundermanns, die sich konservativer gebärden, als der Adel in
der Mark es tut.
Konservativ in seiner politischen
Grundeinstellung, nimmt Dubslav doch Stellung gegen jedwede Einseitigkeit, gegen Eiferer
und gegen hohle Titelsucht. Die Abneigung gegen die Titelsucht teilt er mit dem
märkischen Adel, der die volle Ordensbrust des Gymnasialdirektors Thormeyer naserümpfend
mißachtet. Mit Sorge verfolgt Dubslav die Bestrebungen des Superintendenten Koseleger und
der Oberförstersgattin Ermyntrud Katzler, eine strenggläubige Besserungsanstalt für
verwahrloste" Kinder zu errichten.
Schließlich äußert er sich abfällig
über das Denken in Titeln, Rängen und Familienalter, wie es seine Schwester Adelheid
unverbesserbar, als Versteinerung" - wie Dubslav es kennzeichnet - alter
Zeiten, tut.
Was bleibt, ist eine Betrachtung der
inneren Werte des Menschen. Hier mißt Dubslav mit mildem Herzen und ironischem Verstand
seine Umwelt. Leben und Lebenlassen" ist seine Maxime. Nicht das, was eine
Person zu sein vorgibt, zählt, sondern wie sie sich im Grenzfall verhält: Eigentlich
kommts doch immer bloß darauf an, daß einer sagt, dafür sterb ich. Und es
dann aber auch tut.
Für was, ist beinah gleich. Daß man überhaupt so was kann,
wie sich opfern, das ist das Große." Prinzipienreiterei" stößt bei
Dubslav auf äußerste Ablehnung: Ich gehöre zu denen, die sich immer den
Einzelfall ansehen."
Der alte Stechlin verarbeitet seine
Erlebnisse dadurch, daß es alles wegwitzelt". Dabei ist ihm das Witzeln oft
wichtiger als die Sache, mit der er sich auseinanderzusetzen hat. So waren etwa die Reden
der ungeliebten und stocksteifen Schwester Adelheid sehr unbequem gewesen, aber sie
besaß nebenher einen guten Verstand, und in allem, was sie sagte, war etwas, worüber
sich streiten und ein Feuerwerk von Anzüglichkeiten und kleinen Witzen abbrennen ließ.
Etwas, was ihm immer eine Hauptsache war. Dubslav zählte zu den Friedliebensten von der
Welt, aber er liebte doch andererseits auch Friktionen, und selbst ärgerliche
Vorkommnisse waren ihm immer noch lieber als gar keine."
Stets hat der alte Stechlin ein offenes Ohr
für Kritik. Kritik ist dabei keine Errungenschaft der modernen Zeit. Für sie gibt es
sichtbare Zeichen aus der Geschichte in der nächsten Umgebung des Stechlinschen
Besitzers: Schloß Rheinsberg. In diesem Schloß wohnte der Prinz Heinrich, der Bruder des
großen Preußenkönigs Friedrich.
Manche sagen, so weiß es Dubslav zu berichten, daß
der kritische Heinrich noch klüger als sein Bruder war.
Zeigt sich beim alten Stechlin hinter der
Fassade, die die Gewohnheiten des märkischen Adels geprägt haben, eine tiefe
Menschlichkeit durch ein subtiles System feinster Rangstufungen unterdrückt. Besonders
weit hat es in dieser Hinsicht das Militär gebracht.
Im Gespräch mit seiner Tante Adelheid
erläutert Woldemar die feinen Rangunterschiede beim Militär. Rex nämlich sei mehr als
Czako, weil er bei der Kavallerie sei, Offizier in der Brigade der Gardedragoner. Rex ist
aber Woldemar noch unterzuordnen.
Denn erstens ist er bei der Reserve,
und zweitens steht er bei den zweiten Dragonern. Macht das nen Unterschied?... Sieh,
als das zweite Garderegiment geboren wurde, da hatten die mit den Blechmützen schon den
ganzen Siebenjährigen Krieg hinter sich. Es ist damit, wie mit dem ältesten Sohn.
.. Er
...kann dümmer und schlechter sein als sein Bruder, aber er ist der älteste,.
.. und das
gibt ihm einen Vorrang."
Fein sind auch, wie schon angedeutet, die
kleinadligen Freunde Woldemars, Assessor Rex und Hauptmann Czako, zu unterscheiden.
Fontane markiert die Lächerlichkeit dieser Titel- und Ranggesellschaft, indem er Czako,
als dieser sich gegenüber dem Adel seiner Angebeteten, der Melusine von Ghiberti,
minderwertig fühlt, durch Assessor Rex auf die Idee bringt, dem Mangel der Geburt durch
eine exotische Schreibweise abzuhelfen: Italienisieren Sie sich und schreiben Sie
sich von morgen ab Ciacco. Dann sind Sie dem Ghiberti trotz seiner Grafenschaft dicht auf
den Hacken.
"
Sapristi, Rex, cest une
idée."
Die äußere Form ist es, die den
Lebenslauf der Romanfiguren stukturiert. Fontane belegt die Dominanz der Fassade der
Umgangsformen auch in den Situationen, die von ihrem Wesen her ganz der Stimmung und dem
Gefühl unterliegen:
Woldemar fühlt sich seit längerer Zeit zu
Armgard von Barby hingezogen. Im Hause des alten Botschaftsrates Barby trifft man sich
häufiger zu Plaudereien, bei denen vor allem Agnes ältere und erfahrenere
Schwester Melusine von Ghiberti durch Unterhaltungstalent glänzt. So findet Woldemar
keine Gelegenheit, Armgard seine Liebe zu erklären. Nach einer Gesprächsrunde, bei der
wieder die rassige Melusine im Mittelpunkt gestanden hatte, kommt die Verlobung gleichwohl
zustande: Stechlin ging.
Armgard gab ihm das Geleit bis auf den Korridor. Es war
eine Verlegenheit zwischen beiden, und Woldemar fühlte, daß er etwas sagen müsse.
Welche liebenswürdige Schwester Sie haben. Armgard errötete. Sie werden mich
eifersüchtig machen. Wirklich, Komtesse? Vielleicht.
.. Gute Nacht."...
...Eine halbe Stunde später saß Melusine
neben dem Bett der Schwester, und beide plauderten noch...
Was hast du, Armgard? Du bist
so zerstreut... ...
, Ich glaube fast, ich bin verlobt."
Verdeckt bei Woldemars Werbung die äußere
Form des geselligen Umgangs die großen menschlichen Gefühle, so kommen anläßlich der
Beerdigung des alten Stechlin hinter der Form der geistlichen Handlung die kleinen
menschlichen Schwächen doch noch zum Vorschein. Unter denen, die draußen auf dem
Kirchhof standen, waren auch von Molchow und von der Nonne. Jeder von ihnen wartete auf
seine Kutsche...
Beide froren bitterlich in der scharfen Luft, die vom See her wehte.
Ich weiß nicht, sagte von der Nonne, warum
sie die Feier nicht im Hause, wo sie doch heizen konnten, abgehalten haben; es war ja da
drin gar keine menschliche Temperatur mehr..." Die beiden schließen einen
Erfahrungsaustausch über Begräbnisse in zugigen Berliner Leichenhallen an, in denen
pustende Öfen einen betäubenden Lärm verursachen: ..
. Und der Geistliche kann
einem auch leid tun. Er spricht sozusagen für niemanden. Wer kann denn bei solchem Zug
und solchem Ofenpusten ordentlich zuhören?...
" Das Gespräch belegt sehr gut das
gesellschaftliche Durchschnittstrauermaß", mit dem die kleinadlige Welt ihren
verstorbenen Mitgliedern die letzte Ehre erweist.
Es ist klar, daß diese Gesellschaft, die
sich haupsächlich mit dem leiblichen Wohlbefinden und den kleinen Wehwehchen
beschäftigt, keinen Gestaltungswillen mehr aufbringt. Man lebt von der Erinnerung an
Preußens große Zeit. Friedrich der Große fällt den Menschen ein, dann bewegt bisweilen
noch die Erhebung von 1813 gegen Napoleon die Gemüter, und schließlich sind es die
Schlachten der Kriege von 1864, 1866 und 1870/71, die die Herzen höher schlagen lassen.
Aus der nun auch bald eine Generation dauernden Friedenszeit des Deutschen Reiches hat man
keine denkwürdigen Ereignisse oder Vorhaben im Gedächtnis bewahrt. Neue politische
Tendenzen erscheinen als Bedrohung, und selbst an den Erfindern und Entdeckern, an denen
die Zeit wahrlich reich ist, können sich die alten Familien nicht begeistern.
Völlig
ohne Ambitionen ist Woldemar, obwohl er von den Vorgesetzten mehrfach Zeichen des
Wohlwollens erhält. Er spürt bald die Stimme des märkischen Junkertums Die
Scholle daheim, die die Freiheit gibt, ist doch die beste". So demissioniert er und
zieht sich auf seinen abgelegenen Besitz zurück, bevor er die übliche, von seinem Vater
wenigstens noch erreichte Beförderungshürde der Majorsecke" erreicht hat.
In der Weltstadt" Berlin
erweitern die kleinen Adeligen ihren Bekanntenkreis um die literarische und künstlerische
Boheme. Aber man zwingt auch diese Kreise, die eigentlich schon in einer modernen
literarischen und malerischen Konsum- und Wegwerfgesellschaft leben, in die Umgangsform
der Plauderstündchen beim Nachmittagstee.
Fontane verleiht dem alten Botschftsrat von
Barby ähnliche Züge wie Dubslav von Stechlin.
Zu ihm und seinen Töchtern Melusine und
Armgard kommen die Freunde Woldemar, Rex und Czako sowie die Vertreter der Künstlerszene,
Dr. Wrschowitz, Dr. Pusch und Prof. Cujacius.
Der Musiker Dr. Wrschowitz ist Wagnerianer,
aber ansonsten sehr für Krittikk", die er durch eine prononcierte Aussprache
sehr warr" unterstreicht.
Dr. Pusch ist ein gescheiterter Jurist. Er kennt sich
in der Lieraturszene aus und verdeutlicht seine Verachtung für den Literaturbetrieb,
indem er eine Schreibanweisung für eine Normalnovelle" aus dem Stegreif
entwirft. So wie hier literarisches Leben zur literarischen Wegwerfgesellschaft wird, so
steht Prof. Cujacius für die Massenproduktionsgesellschaft in der bildenden Kunst. Der
dünkelhafte Cujacius malt seit 45 Jahren .
.. immer denselben Christus".
Trotz dieser nur in einer Weltstadt zu
erlebenden schillernden und unruhigen Künstlerpersönlichkeiten läßt sich der Barbysche
Salon vom Trubel nicht anstecken. Man gewinnt eher den Eindruck, daß es für den
Kleinadel im Rentnerstand egal ist, ob er in Berlin oder in der Mark Brandenbrug lebt.
Berlin ist für Fontane auch ein Anlaß,
die kleinen Leute darzustellen.
Dazu gehören die Immes. Er ist Barbyscher Kutscher, sie
war längere Jahre eine dienstbare Kraft im Hause der Barbys. Zum Kreis um die Barbyschen
Bediensteten gehört auch die junge Hedwig mit dem krausen, kastanienfarbenen Haar. Hedwig
eröffnet dem Leser die Kehrseite der feinen Gesellschaft. Hedwig arbeitet als
Hausmädchen. Ihre Erlebnisse als Freiwild der männlichen Herrschaften und die
menschenunwürdigen Unterbringungen lassen sie stets nach kurzer Zeit wieder in das
Elternhaus zurückkehren.
Hier berichtet sie dann ihre Erlebnisse, so die aus dem Haus des
nach außen so feinen Hofrats:
Eine Badestube ist ne
Rumpelkammer, wo man alles unterbringt, alles, wofür man sonst keinen Platz hat. Und dazu
gehört auch ein Dienstmädchen. Meine eiserne Bettstelle, die abends aufgeklappt wurde,
stand immer neben der Badewanne, drin alle alten Bier- und Weinflaschen lagen. Und nun
drippten die Neigen aus...
"
Die Vorherrschaft der gestuften
Plaudergesellschaft und der alten Familien drängt fortschrittlichere Menschen in komische
Positionen ab. Die Dorfschullehrer - Volksschullehrer gelten allgemein als aufmüpfig und
politisch unzuverlässige Elemente, zumal wenn sie jung sind - Krippenstapel etwa
konzentriert sich auf die Betrachtung der Bienenvölker und auf historische Heimatkunde,
die ihn zu ausgedehnten Korrespondenzen veranlaßt. Dem alten Stechlin hat er ein Museum"
märkischer Wetterfahnen eingerichtet.
Fortschrittliche Positionen vertritt der
Pastor Lorenzen. Er steht der Richtung Göhre" nahe und eröffnet in
Gesprächen mit Melusine und dem alten Dubslav seine Ansichten. Aber sein Ritt ins
Bebelsche" verbleibt Gedankenspiel und Gesprächsstoff.
Ansonsten arrangiert er sich
mit den alten Familien.
Fontane beschreibt eine Welt des
Kleinadels, die sich selbst genügt und gegenüber den Zeitläufen abschottet. Bedenkt man
die allgemeine Charakterisierung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, so hat man
schnell Etikette wie Demokratisierung, technischer Fortschritt, Aufbruch zu neuen Welten
im Sinn. Von hier aus sind die Zukunftserwartungen der Menschen vor hundert Jahren
hochgespannt. Die Adelswelt im Stechlin" zeigt, daß entgegen den
Erwartungshaltungen dominierender Zeitströmungen die Einstellungen und Lebensweisen der
Menschen noch tief im Historischen wurzeln und daß selbst über lange Zeiträume hinweg
in der Lebensführung wenig Änderungen eintreten.
In der Welt des märkischen Adels lehnt
man die moderne Zukunft ab, kaum daß man in der Gegenwart lebt. Endzeitstimmung macht
sich breit. Nicht nur der Tod des alten Stechlin setzt hier im Kunstwerk ein deutliches
Zeichen, auch Woldemars früher Rückzug ins Rentnerdasein beweist tiefsitzende
Elanlosigkeit.
Der letzte Roman des fast achtzigjährigen
Fontane hat die patriotischen und hochgemuten Veröffentlichungen des frühen Fontane
vollkommen hinter sich gelassen. Wo einst forscher Nationalismus die Feder führte,
sprechen nun aus dem Alterswerk Wehmut und Resignation. Es ist der Abgesang eines
nationalen Bürgertums, das seine politische Hoffnungen nach einem halben Jahrhundert der
Frustration mit der Schaffung des Bismarck-Deutschland schließlich erfüllt sah, für die
folgenden Jahrzehnte aber keine neuen Ziele mehr fassen konnte und sich damit begnügte,
Preußens große Männer und Schlachten zu memorieren.
Mit der Präsentation dieses
Bewußtseins schließt Fontanes letzter Roman tatsächlich ein Jahrhundert ab. Die neue
Zeit und die neuen Aufgaben erfordern einen neuen Menschen. Fontane hat ihn nicht mehr
gestaltet.
Die Handlung des Romans ist dürftig. Aber
was aufgrund der Handlungsarmut her langweilig, vom Inhalt her wehmütig und resignativ
erscheint, wird durch die Erzählweise, in der der Romanerzähler Fontane seinen Stoff
vorstellt, interessant und lesbar. So wie Fontane die Haltung der Hauptfigur, Dubslav von
Stechlin, als eine ironische Distanz zur Welt darstellt, so betrachtet er insgesamt die
Welt durch die Brille der Ironie und des Humors, etwa die Haltung der Konservativen nach
der Wahlniederlage gegen den Sozialdemokraten Torgelow: Im ganzen aber ließen beide
besiegten Parteien dies (die Niederlage) ruhig über sich ergehen; bei den Freisinnigen
war wenig, bei den Konservativen gar nichts von Verstimmung zu merken.
Dubslav nahm es
ganz von der heiteren Seite, seine Parteigenossen noch mehr, von denen eigentlich ein
jeder dachte: ,Siegen ist gut, aber zu Tische gehen ist noch besser. Und in der Tat,
gegessen mußte werden. Alles sehnte sich danach, bei Forellen und einem guten Chablis die
langweilige Prozedur (der Wahl) zu vergessen. Und war man erst mit den Forellen fertig,
und dämmerte der Rehrücken am Horizont herauf, so war auch der Sekt in Sicht. Im
,Prinz-Regenten hielt man auf eine gute Marke."
Fontanes Stärke liegt in der genauen
Kennzeichnung der Figuren durch ihre Redensarten.
Jeweils unterschiedlich sprechen und
denken der ironische Dubslav, der ernsthafte Lorenzen, die stocksteife und
familienbesessene Domina Adelheid Stechlin, die pflichtversessene Ermyntrud Katzler, der
anzügliche Reden liebende Hauptmann von Czako, die couragierte und schnippische Gräfin
Melusine sowie das bei den Barbys verkehrende Künstler- und Journalistentrio Dr
Wrschowitz, Dr Pusch und Prof. Cujacius.
Einige der Mecklenburger Dienstleute läßt
Fontane in ihrer plattdeutschen Mundart sprechen.
In der genauen Nachzeichnung der
unterschiedlichen Sprechweisen ist Fontane ein kritischer Realist. Obwohl die jungen
Schriftsteller seiner Zeit, Naturalisten zumeist, ihn als einen der ihren akzeptierten,
hielt sich Fontane von der typisch naturalistischen Elendsschilderung fern. Er deutet die
Wirklichkeit durch Reden und Gesten an, nicht durch das Eintauchen in die
Sachbeschreibung.
Eine spannungsvolle Verbindung der
Gegensätze gelingt Fontane im Stechlin", freilich um den Preis, den
Konfliktbereich von Ehe und Sexualität weitgehend auszuklammern, an dem seine
Gesellschaftsromane den Widerspruch zwischen Natur und Gesellschaft hauptsächlich
aufzeigen. Der Stechlin" ist ein politisches Testament, geschrieben im
Bewußtsein einer Zeitwende. Gegenüber seinen erstarrten und überlebten Standesgenossen,
die satirisch gezeichnet werden, vertritt der alte Dubslav den Adel, wie er sein
sollte": frei von moderner Heuchelei, aufgrund christlich-patriarchalischen
Fürsorgedenkens aber offen für die moderne Idee sozialer Gerechtigkeit. Ebenso wie der
Stechlinsee verspürt auch Dubslav in all seiner provinziellen Enge feinfühlig die
kommenden sozialen Umwälzungen, die alle Ordnung sprengende Gewalt der
Industrialisierung. Demgegenüber lebt er noch einmal vor, wie eine Verbindung alter
moralischer Ordnung mit moderner Wendung zum Einzelmenschen aussehen könnte: Er gehorcht
der Pflicht, im Dienst des Ganzen den persönlichen Egoismus zu überwinden; er lebt
zugleich nach der Devise, jeder einzelne müsse sich immer wieder erneut und ohne
Prinzipienreiterei fragen, welches Verhalten im einzelnen Fall das richtige sei. Doch ob
sein Vorbild in die Zukunft wirken wird, bleibt eher fraglich; der Tod des alten
Sonderlings prägt das Ende des Romans stärker als die Hochzeit seines Sohnes.
Fontane versteht es, Widersprüchlichkeiten
in Vielschichtigkeit zu verwandeln. Das geschieht vor allem in der Konversation mit ihrem
leichten Plauderton. Der Dialog, der zunehmend das äußere Geschehen verdrängt,
beleuchtet die Sachverhalte unter verschiedenen Aspekten. Indem die Figuren einander in
Gesprächen und Briefen unterschiedlich charakterisieren, relativieren sich ihre
Standpunkte. So wird der Leser von der einzelnen Figur zum Blick auf den größeren
Zusammenhang geführt, ohne daß sich dieser in einem abstrakten Begriff erschöpfen
ließe. Zugleich verspürt man unter dem Plauderton das Wirken des Schicksals.
Fontane
deutet es so an, indem er ganz alltägliche Dinge in wiederkehrende symbolische Chiffren
verwandelt. So vermag der Dichter, indem er seine widersprüchlichen Gefühle und
Erfahrungen literarisch fruchtbar macht, eine von tiefen Widersprüchen zerrissene Zeit
nicht nur in ihrer Erstarrung und Heuchelei zu kritisieren, sondern auch im
zusammenhängenden künstlerischen Bild zu spiegeln.
Setzt Der Stechlin"
bewußtseinsgeschichtlich einen Schlußpunkt zum 19. Jahrhundert, so öffnet er
literarisch gesehen in mancher Beziehung doch auch den Weg ins 20. Jahrhundert.
Literaturhinweise
Theodor Fontane: Der Stechlin (Reclam)
Theodor Fontane: Der Stechlin,
Erläuterungen und Dokumente (Reclam)
Wolf Wucherpfennig: Von den Anfängen bis
zur Gegenwart (Klett)
Brenner/Bortenschlager: Deutsche
Literaturgeschichte 1 (Leitner)
Heinrich Pleticha: Literatur-Lexikon (dtv)
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