Die merowinger oder die totale familie
Kurzbiographie von Heimito
von Doderer
Heimito von Doderer wurde am 5. September
1896 als Sohn eines Architekten in Weidlingau bei Wien geboren. Sein Stammbaum wurzelt
nicht nur in Österreich, sondern auch in Deutschland, Frankreich und Ungarn (entfernte
Verwandtschaft mit Lenau). Der Vater wurde bekannt als Erbauer von Gebirgseisenbahnen.
Doderers bestimmendes Jugenderlebnis, das in ihm den Schriftsteller weckte, war seine
Kriegsgefangenschaft in Sibirien (1916 - 1920). Nach der Heimkehr studierte er in Wien
Geschichtswissenschaften (1925 Dr.
Phil.). 1923 erschien sein erstes Buch, der Gedichtband
Gassen und Landschaft". Die Einberufung zur Wehrmacht im 2. Weltkrieg
unterbrach Doderers Tätigkeit als freier Schriftsteller. Er war von 1940 - 1946 Soldat.
Nach Kriegsende wieder in Wien, nahm er nicht nur die literarische Arbeit, sondern auch
das Studium der Geschichte wieder auf und wurde 1950 Mitglied des exklusiven Instituts
für Geschichtsforschung. 1952 verehelichte Doderer sich (mit einer Verwandten des
bayrischen Dichters Ludwig Thoma) zum zweitenmal; eine frühe Ehe war bald geschieden
worden. Seither lebte er abwechselnd in Wien und in Landshut. Am 23. Dezember 1966 ist
Doderer in Wien gestorben.
Werke (Auswahl)
Das Geheimnis des Reichs (1930)
Ein Mord den jeder begeht (1938)
Ein Umweg (1940)
Die Strudlhofstiege (1951)
Die Dämonen (1956 erschienen - 1.
Teil
bereits 1937 vollendet, aber aufgrund politischer Situation in Deutschland
zurückgehalten)
Die Merowinger oder Die totale Familie
(1962 erschienen; entstanden 1950 - 1962)
Die Wasserfälle von Slunj
Inhaltsangabe
Professor Dr. Horn, Direktor der
neurologischen und psychiatrischen Klinik, behandelt in seiner Privatordination an
heftigen Wutanfällen leidende Personen - darunter auch einen gewissen Freiherrn
Childerich von Bartenbruch (genannt Childerich III.). Im Gegensatz zu den meisten
Wutkranken liegen bei Childerich III. die Ursachen seines Leidens nicht in Amtsbesuchen
oder im Umgang mit Behörden, sondern sind familiärer Herkunft. Sein Ziel ist es eine
totale Familie" zu gründen, nach der Devise la famille - cest moi
dem Ein-Mann-Prinzip" zum Siege zu verhelfen und durch Heirat und Wiederheirat
(als Mann seiner Großmutter) sein eigener Großvater, (als Gatte seiner Stiefmutter) sein
eigener Vater und durch Adoption auch sein eigener Schwager, Oheim und Neffe (usw.
) zu
werden.
1. Handlungsstrang (Childerichs
Scheitern)
Nach drei Ehen, aus denen er stets als
Witwer herausgegangen ist, befindet er sich nun glücklich in der vierten und sieht sich
also gezwungen durch Adoptionen seine Pläne einer totalen Familie" zu
verwirklichen; zu diesem Zweck stellt er Graf Pippin von Landes-Landen als Majordomus ein.
Pippin jedoch ist nicht allein auf das Wohl seines Herrn bedacht, früh schon pflegt er
den Kontakt zu der dem Freiherrn feindlich gesinnten Verwandtschaft desselben, den Subkontisten".
Als nun Childerichs III. Wutanfälle sich aufgrund seiner glücklichen (4.
) Ehe
einstellen, sieht sich Pippin dazu veranlaßt, die harmonische Situation zu zerstören. Er
stattet daher Dr. Horn einen Besuch ab, um wirksame Maßnahmen für Wutsteigerung zu
erfahren; vor allem Horns Gehilfin Helga konnte dem Majordomus weiterhelfen. Derart
ausgerüstet gelingt es dem Franzosen tatsächlich Childerichs III. Zorn wieder zu
steigern und ihn zur erneuten Behandlung durch Dr. Horn zu zwingen.
Bei dessen folgenden
Arztbesuch aber, stößt der Freiherr auf ein gewaltiges Gemenge von sich prügelnden
Menschen in des Arztes Haus: Denn wie geplatzte Wurst-Därme ihren Inhalt
entlassen, so quoll hier ein vor Wut kochendes Magma aus den drei Ordinationen auf die
Treppen-Absätze und ergoß sich fuchtelnd und zappelnd, dreschend und tretend, brüllend
und kreischend die Stiegen hinunter." Schon rücken psychiatrische
Zellenwagen" an, deren Insassen, Zwangsjacken in Händen, die tobende Menge, auch
Childerich, mit sich zerren und in Narrenhäuser bringen.
Aber furchtbar ergromm Pippin,
weil Childerich III. aus der Klinik als geheilt entlassen war." So besetzt er mit
den Subkontisten und einigen Überläufern aus Childerichs Dienerschaft eine Hälfte des
Stadtpalais (in welchem Childerich zu dieser Zeit lebt) und grenzt seine Gebiete
gegenüber denen des Freiherrn mittels Möbelstücken unüberwindbar ab. Eine unerhörte
Frechheit, aber nie hätten Merowinger untereinander, [.
..] auch nicht gegen
Karolinger, die gesetzliche Macht des Staates in ihre Händel gezogen", so kommt
es nach einigen kleineren Auseinandersetzungen und Prügeleien schließlich zur
Vereinbarung einer großen Schlacht" auf einem öffentlichen Feld (Schlacht am
Windbühel). Mit Hilfe des eigens herangereisten Sohnes Childerichs III.,
Schnippedilderich, können die Merowinger diese Schlacht für sich entscheiden - trotzdem
geben die Karolinger nicht auf und besetzen weiterhin das halbe Stadtpalais. Letztendlich
müssen sowohl Schnippedilderich als auch Childerichs III.
Gattin abreisen, was zu einer
deutlichen Unterlegenheit der Merowinger führt und so den Freiherrn indirekt zwingt, den
Stadtpalais zu verlassen. Er zieht mit einigen treuen Untertanen (darunter Wänzrödl) in
ein anderes Anwesen der merowingischen Familie, Theuderoville. Der beinahe erwartete
Angriff der Karolinger läßt nicht lange auf sich warten und hat verheerende Folgen für
Childerich III., er wird entmannt und sein Haupt- und Barthaar komplett abrasiert.
Daraufhin zieht der Freiherr zusammen mit Wänzrödl in eine kleine bürgerliche Wohnung,
in der er den Rest seiner Tage verbringt, nie wieder das Stadtpalais betretend. Pippin
übrigens reist gleich nach gewonnener Schlacht nach Frankreich zurück.
2. Handlungsstrang (Dr. Horns Karriere)
Die Art, auf welche Dr. Horn seine
wutkranken Patienten behandelt ist eine äußerst brutale und für den Patienten
schmerzhafte. Die Therapie besteht darin, von sehr lauter Marschmusik begleitet, stampfend
Porzellanfiguren zu zertrümmern, während Dr. Horn selbst ständig mit Pauken- oder
Trommelschlögeln, Klöppeln, Klöpfeln oder hölzernen Hämmern den Hinterkopf des
Wütenden bearbeitet.
Kein Wunder also, daß sehr viele zur schmerzlosen, aber zumindest
ebenso wirksamen Methode des Regierungsdirektors Dr. Schajo, dem sogenannten
Beutelstechen, greifen. Dieser Tendenz versucht Dr. Horn mittels einer neuen Variation
seiner Behandlungsmethode entgegenzuwirken, er führt Reihenbehandlungen ein, bei denen
stets zehn Patienten zugleich (angeblich wirksamer als zuvor) behandelt werden. Für die
nötige Lautstärke der Musik sorgt nun ein eigenes Orchester im Nebenraum.
Diese neue Art der Behandlung stört jedoch
eine Firma namens Hulesch & Quenzel", die nun alles daran setzt, Horn an
der Ausübung seiner Heilübungen zu hindern.
Mit der Hilfe von Horns Gehilfin Helga
gelingt es ihr, die wutkranken Patienten aufeinander aufzuhetzen (so entsteht die oben
bereits beschriebene Schlägerei, in die auch Childerich III. gerät). Ihr Ziel Horn
endgültig lahmzulegen konnte Hulesch & Quenzel" aber nicht erreichen, da
der Doktor bereits ein neues Konzept für seine Methoden zur Wutbehandlung sich hat
einfallen lassen: das Wuthäuschen". Diese Wundermaschine läßt Zorn sogleich
schwinden - und das ohne den geringsten Lärm. Diese überaus einfache aber doch sehr
erfolgreiche Behandlungsart macht Dr. Horn berühmt, obwohl auch das Wuthäuschen"
nicht auf Hämmer und Schlegel verzichtet, die nun aber vollautomatisch den Kopf des darin
sitzenden Patienten bearbeiten.
Horn versucht sogar das Wuthäuschen"
in Form einer Wutbahn" zu übertreffen, aber seine Idee wird nie verwirklicht.
Vorliegendes Werk
Stoff
Die Merowinger und Karolinger, von welchen
im Roman die Rede ist, haben natürlichen nicht wirklich zu der angegebenen Zeit gelebt.
Aber wenn man etwa 1200 Jahre in der Zeit zurückgeht, trifft man durchaus auf lebende
Vertreter dieser beiden Geschlechter. Es geht sogar soweit, daß Doderer nicht einmal die
Namen der damals lebenden Menschen veränderte, sondern ihre Geschichte einfach in die
Gegenwart katapultierte, freilich mit einer der Zeit angepaßten Änderung der Umstände.
(Gegenwart natürlich auf die Entstehungszeit des Romans bezogen)
Chlodwig war ein Heerkönig aus dem
Geschlecht des Merowäus, des Stammvaters der nach ihm benannten Merowinger. In tiefer
Not, während eines Krieges gegen die Alemannen, schwor Chlodwig, ein Christ zu werden,
wenn der Gott der Christen ihm zum Siege helfe.
Schließlich gewann er die Oberhand, wurde
Christ, blieb aber nach wie vor ein roher und grausamer Barbar, der, um seine
Herrschsucht zu befriedigen, vor keinem noch so schändlichen Mittel, weder vor Heuchelei
und Hinterlist noch vor Mord, zurückschreckte." Nach seinem Tod wurde das
Frankenreich zwischen seinen vier Söhnen aufgeteilt; Chlotar I. überlebte seine Brüder,
vereinigte das Reich (das sich damals von den Pyrenäen bis zur Enns und Unstrut
erstreckte (558 - 561)) erneut, allerdings teilte man es nach seinem Tod wieder (diesmal
in drei Teile). Unter den Söhnen Chlotars wird die Geschichte der Franken ein
wüstes Chaos von Bruderkriegen und Greueltaten, in welchem zwei teuflische Weiber (...
)
ihre traurige Rolle spielen. Die fränkischen Könige waren von da an fast lauter sittlich
und geistig unfähige Menschen, die sich um die Regierung gar nichts kümmerten, weshalb
sie als rois fainéants, d. i. als königliche Faulenzer, bezeichnet
wurden."
Neben solchen Schwächlingen
wuchs der Einfluß ihrer Hofbeamten, sowohl der weltlichen, als auch der geistlichen, und
überwog zuletzt die monarchische Gewalt. Unter den Hofbeamten ragte von Anfang an der Major
Domus (Hausmeier, Hausältester), der königliche Palastmeister, dem die Oberaufsicht
über das Hofwesen, die Verwaltung der Krongüter und die Vergebung der Lehen übertragen
war, in besonderer Weise hervor.
Allmählich bekam er auch die Führung des Heeres und
zuletzt die ganze Regierungsgewalt in seine Hände, so daß er nicht mehr bloß erster
Diener (Minister) und Ratgeber des Königs, sondern in Wirklichkeit selbst König war.
Ursprünglich hatte jeder der drei
fränkischen Höfe seinen eigenen Hausmeister. Diese bekriegten sich nicht selten
gegenseitig. Endlich besiegte der austrasische Majordomus Pipin von Heristal die
neustrischen und burgundischen und schloß mit ihnen einen Vertrag ab, wonach er zwar dem
Merowinger Theuderich den Königstitel belassen, selbst aber Majordomus der drei Reich
zugleich sein sollte. Sodann nahm er den Titel Herzog und Fürst der Franken"
an und machte die Majordomuswürde in seiner Familie erblich. Pipin führte die Zügel der
Regierung mit kraftvoller Hand und schaffte im Innern und nach außen Ruhe und Ordnung.
Ihm folgte 714 sein Sohn Karl Martell, nach dessen Tod (741) eine Teilung der Gewalt unter
seinen Söhnen, Karlmann und Pipin. Als Scheinkönig setzten die beiden Brüder den
Merowinger Childerich III. auf den Thron.
Der friedliebende Karlmann legte nach
einiger kriegerischer Aufregung sein Majordomusamt in die Hände seines kräftigeren
Bruders Pipin nieder (747). Pipin der Kleine war nun alleiniger Majordomus, und er
zögerte nicht, seine Machtstellung auszunutzen. Was sein Vater noch nicht gewagt hatte,
tat er: mit einem kühnen Griff nahm er von der Königskrone Besitz.
Der entscheidende Akt
sollte der Weihe des geistlichen Oberhauptes der Christenheit, des Papstes, nicht
entbehren. Daher wandte er sich nach Rom mit der Anfrage, ob derjenige König"
zu heißen verdiene, der tatenlos daheim sitze, oder der, welcher die Gewalt in den
Händen und die Geschäftslast auf den Schultern trage. Die Antwort des Papstes Zacharias
lautete ganz, wie Pipin gewünscht und vorausgesehen hatte. Denn der Papst sah sich schon
längst nach einem kräftigen Beschützer seines Stuhles um und war überzeugt, ihn im
Beherrscher der Franken gefunden zu haben. Sofort (752) ließ sich Pipin vom Adel und der
Geistlichkeit als König der Franken" huldigen. Childerich III.
wurde sein
langes Haar abgeschnitten und seine Entthronung verkündigt. Der letzte
Merowinger" verbrachte den Rest seines Lebens im Kloster St. Andomari bei St. Omer.
Ein neues Königsgeschlecht, die Karolinger, begann emporzusteigen.
Doderer will jedoch nicht den Anschein
erwecken, daß sich all diese Geschehnisse erst im 20.
Jahrhundert (auf etwas andere
Weise) ereigneten, sondern schildert die Vorkommnisse seit der Machtübernahme der
Karolinger, eigens im Buch selbst. Nachdem die Merowinger 752 durch ihren letzten
Hausmeier vom Throne gestoßen und treulos verraten worden waren, so daß der König im
Kloster verschwinden mußte, blieb doch die Familie in mancherlei Seiten-Ästen erhalten,
die man nicht ausrotten konnte, und insbesondere im fernsten Südwesten, an den Pyrenäen
schon, haben sie sich fast so lange gehalten wie das karolingische Haus, das ja in
Frankreich auf dem Throne bis um das Jahr 1000 ausdauerte."
Thema
Die Geschichte der Merowinger und vor allem
ihre Machtablösung durch die Karolinger wird in das 20. Jahrhundert verlegt und in einem
dieser Zeit angemessenen Umfeld geschildert.
Motive
Leitmotiv: Aggression
Oh grenzenloser Grimm, der mich
erfaßt!
Am liebsten riss ich jemand etwas
aus,
doch weiß ich noch nicht was und auch
nicht wem.
Gewalt-Tat ist mir immer angenehm,
nur ohne Richtung übt sich solches
schwerlich -
und ein Objekt, es wird mir
unentbehrlich!" (Childerich III.
)
Das vorrangige Motiv des Romans ist das
Phänomen der Aggression, der großen Wut", die sich im Hauen und Verprügeln
äußert und darin zugleich ihr Heilmittel sieht.
Nicht nur Childerich leidet an
unkontrollierbaren Aggressionen und daraus resultierenden Brachialitäten, vielmehr ist es
schon eine Krankheit seiner Familie (und der mittelalterlichen Zeit). Bei dem Freiherrn
von Bartenbruch tritt sie zunächst deshalb so deutlich zutage, weil es gewissermaßen die Antwort auf eine gepeinigte Jugend [war]; und hatte man jener Knüppel oder
Stecken in den Weg geworfen, so waren daraus [...] Stämme geworden, mächtige Stämme
eines in seine rückwärtige Finsternis sich erstreckenden Waldes der Wut, sonor
rauschend, feierlich hingebreitet und hoch gekuppelt.
"
Dr. Horn versucht diese Krankheit durch
moderne wissenschaftliche Methoden zu heilen, scheitert daran jedoch (größtenteils sogar
bewußt, da er sonst eine Einnahmequelle verlieren würde).
Geld heilt alle Wunden"
Childerich zahlt den Opfern seiner
Wutausbrüche stets hohe Summen, worauf sie sogleich bereit sind, alles Vorgefallene zu
vergessen und dem Freiherrn sogar noch dankbar sind und ihn nicht selten lobpreisen.
Auch Dr. Horn zahlt aufgrund starker
Lärmbelastung regelmäßig einen Teil seines Einkommens an die unter ihm wohnenden Herren
Döblinger und Zilek (Zilek wohnt mit seiner Gattin unterhalb Döblinger)
Liebe des Vaters (Childerich III.) zu
seinem ersten Sohn (Schnippedilderich)
Keinem anderen Menschen bringt Childerich
III.
soviel Liebe entgegen, wie seinem ersten Sohn und Stammhalter Schnippedilderich,
dieser ist vielmehr der einzige, der fast nie Opfer der Wutausbrüche des Vaters wird. Ob
dies nun tatsächlich darin begründet liegt, daß ein innigeres Verhältnis den Freiherrn
an seinen Sohn bindet, oder ob Schnippedilderichs unermeßliche Kräfte die Ursache dafür
sind (die ihn gegen alle Gewaltakte des Vaters unempfindlich machen würden) kann nicht
gesagt werden. Vermutlich spielt beides in dieser Hinsicht eine Rolle - jedenfalls macht
es Schnippedilderich zur (vorerst) einzigen Person, die Childerich III. respektiert.
Überlegenheit des Adels nur scheinbar
und unbegründet
Die geschilderten Unzulänglichkeiten des
Geschlechts der Merowinger zeigen, daß (zumindest in diesem Fall) die höhere Stellung
selbiger nicht sinnvoll ist. Zwar fehlt es auch der Dienerschaft an Idealen, aber vom Adel
unterscheidet sie sonst nur noch die Abstammung.
Therapeutische Behandlungsmethoden im
entgegengesetzten Sinn
Sehr gesellschaftskritisch ist der Hinweis
darauf, daß die meisten Ärzte unserer Zeit nicht wirklich eine Heilung der Patienten
für erstrebenswert halten, sondern sich in denen möglichst unerschöpfliche
Einnahmequellen zu schaffen suchen. Dieser kapitalistische Gedanke springt auch auf Dr.
Horn über, der anfangs sogar versuchte, seinen Patienten wirklich zu helfen.
Egoismus und Streben nach Macht
Besonders stark treten bei Childerich III.
und Pippin der Egoismus und das Streben nach Macht hervor. Childerich versucht dem Ein-Mann-Prinzip"
in seiner Familie zum Sieg zu verhelfen, wobei niemand außer ihm an der Spitze stehen
dürfte und er keine Handlung, die ihm seinen Ziel näherbringt, sei sie noch so
verwerflich, unterläßt.
Seinen Kindern verwehrt er den Zugang zu den ihnen rechtmäßig
zustehenden Erbtümern so lange wie möglich und sieht in jedem (außer in seinem Sohn
Schnippedilderich) einen Schmarotzer und Ausbeuter. Diese Habsucht ist wohl auch der Grund
für seine immer ausgeprägteren und sich in Quantität und Heftigkeit stets
übertreffenden Wutausbrüchen.
Gleiches gilt für Pippin, auch er bedient
sich jeden Mittels, solange es zumindest für ihn vorteilhaft ist. Im Unterschied zu
Childerich läßt er seine Aggressionen nicht am nächstbesten Objekt aus, sondern schürt
all seine Wut, um sie auf den Freiherrn loszulassen.
Wissenschaftliche Weiterentwicklung
nicht immer Fortschritt
Am Beispiel der Weiterentwicklung der Hornschen
Behandlungsmethoden wutkranker Personen wird deutlich, daß eine wissenschaftliche
Weiterentwicklung nicht unbedingt mit einem Fortschritt für die Menschheit gleichzusetzen
ist. Vielmehr lockt in diesem Fall die scheinbare Neuerung mehr Kunden an, was
aber nicht bedeutet, daß die Methode wirksamer ist, als die vorangegangene, sondern
lediglich, daß dies positive Auswirkungen auf Dr.
Horns Einkommen haben wird.
Untreue, verräterische Dienerschaft
Mit Ausnahme Wänzrödls gibt es unter
Childerichs III. Dienerschaft kaum treue Untertanen. Teils vom Charakter Pippins gefangen,
teils durch unzählige Peinigungen Childerichs selbigen entfremdet und verfeindet,
schließen sie sich dem Karolinger an und helfen ihm, den Freiherrn zu besiegen.
Schauplatz (Milieu)
Stadtpalais:
Das viereckige Stadtpalais ähnelt sehr
stark einer Burg, nicht nur aufgrund der teilweise sehr hohen Tore und Türen und breiten
Korridore. Es besteht aus einem Weinkeller, dem Erdgeschoß und einem darüberliegenden
Stockwerk.
Im Erdgeschoß befinden sich der Dienerflügel und der Hauptflügel. Im
Dienerflügel sind Zimmer und Trinkstuben für die gesamte Dienerschaft vorhanden,
während der wichtigste Bestandteil des Hauptflügels der groß angelegte Speisesaal ist.
Im ersten Stock befinden sich sowohl die Schlafzimmer etwaiger Gäste, sowie das
Childerichs III. selbst und natürlich die seiner Familienangehörigen.
Privat-Ordination des Dr. Horn:
Diese Ordination befindet sich in einem
vierstöckigen Haus.
Auf der einen Seite waren diese [Stockwerke] durchwegs von
gewerblichen Betrieben besetzt: es gab da einen Damenschneider, eine Hutmacherei und noch
anderes. Gegenüber befand sich im ersten Stock das Lager einer Firma, die Drucksorten
aller Art erzeugte. Im zweiten Stock wohnte Zilek, über ihm Döblinger, und obenauf war
nun neuestens der Hornsche Paukboden etabliert, in beiden einander
gegenüberliegenden Wohnungen, die vereinigt worden waren. Es befanden sich sämtliche
Marschräume ob dem Haupte des Autors, der Empfang, das Arbeitszimmer des Professors,
Douche- und Ruheräume sowie ein Laboratorium über der Hutmacherei. Es mag wohl sein,
daß der Professor nach langem Wählen diesem Hause eben darum den Vorzug gegeben hatte,
weil es zum kleineren Teil Wohnungen, zum größeren jedoch Geschäfte und Magazine
enthielt."
Theuderoville:
Hinter diesem prunkvollen Namen, der
an merowingische Könige gemahnt, verbarg sich nicht etwa ein fester Platz oder ein
Schloß; sondern es war ein ganz bescheidenes, jedoch sehr reizvolles Haus, an einer Lehne
über der Stadt und schon weit außerhalb gelegen.
[...] Theuderoville, das durch viele
Jahre kaum benutzt worden war - es sei denn insgeheim von Schnippedilderich in seiner
ersten Jugendzeit für kurzangebundene und prügelreiche Liebesabenteuer - befand sich
damals auch nicht so ganz mehr in einem Zustand, der es als Quartier für eine hochadelige
Dame empfohlen hätte."
Als Childerich III. (beinahe zwangsweise)
einzog, wurde es alsbald durch einen Schwarm von Handwerkern [.
..] in Stand
gesetzt."
Theuderoville lag in Gärten. Ein
fernblickendes Haus, dessen Fensterscheiben an schönen Abenden weithin über die Stadt
blitzend leuchteten, denn die Front mit ihrem kleinen Säulenporticus sah nach Westen.
[.
..] Zum warmen Fließen des Abendlichts paßte des Hauses Farbton wie im Hinblick darauf
gewählt; es war ein helles Rot, und in der Lichtflut fast rosig. Die kleine Halle zeigte
über einem weißen Fries gereihte Wiedergaben pompejanischer Wandmalereien, teils
figuraler, teils mit Ornamenten des sogenannten dritten und vierten Stils. Auch die - bis
auf einen Speisesaal und den anliegenden Raum - verhältnismäßig kleinen Zimmer waren
mit ähnlichen Fresken geziert, und die Decken mit sehr schönen Stuccos."23
Milieu
Einerseits spielt sich ein Großteil des
Romans in adeligen Kreisen (der Merowinger und Karolinger) sowie in den derer Dienerschaft
ab, andererseits wird auch das bürgerliche Leben (etwa des pensionierten Oberlehrers
Zilek) und das in ärztlichen Praxen geschildert.
Figuren (Charaktere, Konstellation)
Die Merowinger
Der Roman schildert genau wie welche Heirat
Childerichs III. vor sich ging, wodurch sie ermöglicht wurde und wie sie endete. So wird
die Lebensgeschichte Childerichs III. von seiner Kindheit an bis zum Ende seiner dritten
Ehe erzählt. Ab diesem Zeitpunkt nimmt Pippin Einfluß auf Childerichs Bemühungen um
eine totale Familie", was letztendlich zum Scheitern des Freiherrn von
Bartenbruch führt.
Um nicht auf jede Einzelheit eingehen zu
müssen und doch einen einigermaßen guten Überblick schaffen zu können, habe ich die
Stammtafel des merowingischen Geschlechts (im 19.
Und 20 Jahrhundert) beigelegt... denn
die in verhältnismäßig kurzer Zeit, nämlich von 1915 bis 1939, also in nur
vierundzwanzig Jahren, entstandenen genealogischen Verfilzungen überschreiten beinahe
schon die Möglichkeiten einer klaren Evidenz."
Childerich III. (Freiherr Childerich von
Bartenbruch)
Obwohl er von den zahlreichen Brüdern
Bartenbruch der älteste ist wird er schon in jungen Jahren von seinen Geschwistern
häufig verprügelt.
Mit fünfzehn sah er aus wie ein trauriges Beutelchen. Das
Gesicht war alt, die Backen schlaff."
Obwohl klein von Wuchs (nie mehr als einen
Meter sechzig messend), hat er doch große Ziele. Nach all den Eheschließungen will er
seine gewaltigen Pläne familiärer Totalität durch Adoptionen verwirklichen, woran er
letztlich jedoch scheitert. Immerhin gelangt er durch seine Ehen zu großem Reichtum,
obwohl sämtliche unter seiner Verwaltung befindlichen und auf Subkonten liegenden
Erbteile zusammengenommen so gut wie nichts im Vergleich zu seinem gewaltigen
Eigenvermögen waren. Außerdem läßt sich [im ganzen] sagen, daß bei
Childerich III.
die totalitäre Tendenz gegenüber den finanziellen Beweggründen seiner
Eheschließungen immer mehr überwog." und er nicht am Gelde hing, wohl
aber jeder geringsten Minderung seiner Macht und zentralistischen Omnipotenz unbedingt
widerstrebte."26
Von seinen zehn eigenen Kindern sind zwei
aus der ersten Ehe, mit Witwe Paust, drei von Gräfin Cellé (darunter Stammhalter
Schnippedilderich, eigentlich Childerich IV.), zwei Töchter von der Ägypterin und drei
Kinder von seiner bürgerlichen Gemahlin Barbara Bein. Childerich III. sagt einmal:
In meinem Zeugungs-Grimm versinkt
die Sippe,
und ich allein bleib übrig in der
Mitte.
"
Besonders charakteristisch für den
Freiherrn sind dessen unkontrollierbare Wutausbrüche, die sich im Laufe der Jahre an
Heftigkeit und Häufigkeit enorm steigern. Bald benötigt er regelmäßige Behandlungen in
Dr. Horns Ordination. Childerichs Grimm [...
] aber war schon keine bloße Antwort
auf die Huntzungen in der Jugend mehr; dieser kam von weiterher; er war die Form, in
welcher sich einst der Vorfahren furchtbare Auftritte abgespielt hatten, dahinten in der
Ferne der Zeiten." Die Opfer seiner Wutausbrüche entschädigt der Freiherr stets
so großzügig, daß niemals von ihrer Seite irgendein Einwand oder Protest gekommen wäre
- im Gegenteil: für derartige Summen genoß man die Qualen beinahe. (vergleiche Motiv
Geld heilt alle Wunden")
Childerich IV. (Schnippedilderich)
Doch wir sind Menschen bloß.
Niemand ists zu verargen, daß er
sich entsetze
vor einem Ungeheuer, wies vor
achtundzwanzig Jahren
geboren ward aus Gräfin Claras
Schoß."
Er kommt schon als eine Art Riesenbaby von
weit über vier Kilogramm zur Welt, zeigt bereits im zarten Alter eine eiserne Gesundheit,
wächst zu unheimlicher Größe und Breite, hat starres, rotblondes Haar, zyanblaue Augen
und prügelt bald jedermann, ohne die Person zuvor eines Blickes zu würdigen.
Man sollte glauben, daß der Vater
über einen solchen starken Sproß sich herzlich freute; gewiß war das der Fall. Aber das
gewaltige Wachstum und die prangende Kraft und Gesundheit des Burschen streiften doch
schon an ein unheimliches Maß. Man mußte sich wirklich fragen, woher dieses Mannsbild
denn eigentlich komme, aus was für einer Zeit, von welchem urtümlichen Volke, und ob ein
derartiges Wesen unseren heutigen Verhältnissen im Leiblichen und Seelischen nicht
gänzlich unangemessen sei."
Seinen Beinamen Schnippedilderich"
leitet sich folgendermaßen her: Gefiel ihm eine Frau, dann grinste er zunächst
breit, zeigte sodann mit dem Finger auf sie, und schnippte gleich danach mit demselben
Zeigefinger in der Richtung der von ihm Begehrten."
Childerich IV., der 217 Pfund wiegt ohne
ein Gran überflüssiges Fett zu haben, reist öfters zu seinen Oheimen nach England und
steht bald als Freiwilliger bei den englischen Truppen in Indochina, kämpft mit
Auszeichnung gegen die Japaner und erreicht den Offiziersgrad.
Pippin oder Pépin (der Kurze)
Eines Tages war bei Childerich
III., draußen in Bartenbruch wie auch in der Stadt, ein Individuum aufgetaucht, das man
wohl dem Namen nach in der Familie gekannt hatte, als einen Seitenverwandten aus
Südfrankreich, kaum aber persönlich: Graf Pippin von Landes-Landen, welcher Name auf das
alte Aquitanien hinweist. Herr Pippin wurde französisch benannt, also Pépin; in dieser
Form haftet dem Namen (für deutsche Ohren) sehr zu Unrecht irgendetwas Lächerliches an,
und vielleicht blieb man eben darum gerne dabei, obwohl der Träger selbst während der
ersten Zeit seiner Anwesenheit in Franken wiederholt versuchte, sich Pippin zu nennen;
jedoch drang er damit nie ganz durch."
Der etwa fünfzigjährige Herr Pippin (er
hatte bisher in Frankreich Fabriken mit Erfolg geleitet und war so ein reicher
Junggeselle) war von elegantem, zartem Wuchs, seine Oberlippe zierte ein kleines,
schwarzes Bärtchen, die Zähne waren vom Zigarettenrauch gelb gefärbt; die tiefbraune
Haut, die feuchten, großgeschlitzten Augen, die weiche Baßstimme - das alles
vermochte mitunter in einer Weise zusammenzuspielen, die Unbehagen erzeugen, ja sogar eine
lebhafte Empfindung von Unappetitlichkeit hervorrufen konnte. Pépin le Bref - Pippin der
Kurze - hatte, bei aller Zurückhaltung und Undurchsichtigkeit, eine Art von organischer
Wärme, die ihm, zusammen mit viel schwarzem Haar, an den Handgelenken aus den Ärmeln und
Manchetten hervorzukommen schien." Seinen Brüdern und ihm gab man den Namen
Karolinger, nach deren Vater Karl.
Viele glaubten, die zunehmende
Unübersichtlichkeit der stark angeschwollenen Familie veranlaßte Childerich III., einen
Majordomus an sich zu ziehen, aber der wahre Hintergrund für das Auftauchen Pippins war
in der beim Freiherrn von Bartenbruch neu beginnenden Periode der Adoptionen zu suchen -
derartiges in die Wege zu leiten war die eigentliche und geheime Hauptaufgabe Pippins.
Wänzrödl
Von Wänzrödl war nicht einmal sein Alter
mit Sicherheit bekannt, von seiner Herkunft weiß man nur, daß er der Sohn eines
herabgekommenen Seitenverwandten war, welchen man in der Familie als Pelimbert den
Indiskutablen in undeutlicher Erinnerung hatte. Pelimbert gehörte zu jenen, die eines
Tages alles und jedes bis zum äußersten Überdrusse satt haben" (F. M.
Dostojewskij drückt diesen Zustand so aus), und von da an nur mehr eine negative
Aufführung zeigen.
Childerich III. nahm Wänzrödl nach dem
Hinscheiden Pelimberts in sein Haus auf, wo er sich (aufgrund seiner Größe) in die Rolle
eines Hofzwerges hineingefunden hatte. Im Laufe der Jahre entdeckte der Freiherr
Wänzrödls unerschütterliche Treue und so kam es, daß er nach seiner Entmannung mit dem
Zwerg in eine kleine Wohnung zog.
Dr. Horn
Die Kraft des Psychiaters im
Umgange liegt bekanntlich darin, daß er jeden mindestens für so verrückt hält, wie er
selbst ist."
Seine [Horns] Wissenschaft hatte
ihn nicht nur mit anderen Narren, sondern auch mit sich selbst in einer nicht
unbedenklichen Weise bekannt gemacht.
Und besteht nicht alle Geisteskrankheit letzten
Endes darin, daß einer mit sich selbst zu intim umgeht?"
Der Direktor der neurologischen und
psychiatrischen Klinik, Professor Horn, trägt zu seinem weißen Ärztekittel stets seine
blinkende goldene Brille. Außerdem gehörte Horn zu jenen Leuten, die ständig
vor Wohlwollen schnaufen und, auch wenn sie nichts reden, immer irgendwelche kleine Töne
von sich geben, eine Art asthmatisches leises Piepsen, das in seltsamer Weise an jenes
feine Getön erinnern kann, wie es eine gewisse Art von Schmetterlingen zu erzeugen
vermag. [...] So piepste denn Horn, wenn er nicht gerade schnaufte oder sprach.
"
Verschiedenste Personen beschreiben Horn
zumeist als einen dummen Hund; bierehrlich, zahlungswillig, Brotlaib-Anlitz im
Barte, schnaufender Bonhommist, Vater-Typus".
Die gewöhnliche Kunst mancher
Psychiater besteht bekanntlich darin, irgendwelche Gesunde, deren sie habhaft werden
können, ad hoc verrückt zu machen, so daß am Ende die Diagnose stimmt und die
Behandlung fortgesetzt werden muß; um das Letztere wars dem Professor freilich auch
zu tun [...]. Aber immerhin, er leistete doch was, er ging über die gewöhnliche
Psychiatrie weit hinaus, er half den Leuten wirklich.
"
Dr. Döblinger
Begabung ist immer auch eine
solche zur Begegnung, sagten wir. Ob es allerdings, ganz im allgemeinen, für Begabung
sprechen kann, wenn man (ausgerechnet!) dem Herrn Doctor Döblinger begegnet, erscheint
als fragwürdig."
Dr. Döblinger war ein relativ bekannter
Schriftsteller, lebte aber oft in eher ärmlichen Verhältnissen, vor allem wenn er
zwischen zwei Verträgen, einen abgelaufenen und einen noch nicht wirksamen zu sitzen
kommt. Eben in dieser Situation machte ihm Horn das Leben erträglicher, indem er ihm
regelmäßig Abgaben für die unvermeidbare Lärmbelastung leistete.
Döblinger wohnte
nämlich direkt unter Horns Privatordination, wo der Lärm an bestimmten Tagen ein fast
unerträglicher war.
Döblinger gründete zu verschiedenen
Zeitpunkten zwei Prügelvereine", deren Sinn es war, den Mitgliedern des
Vereines unsympathisch erscheinende Personen durch unnachsichtiges Verprügeln eben darauf
aufmerksam zu machen bzw. ihnen in sonstiger Weise Schaden zuzufügen oder
Unannehmlichkeiten zu bereiten. Der Autor rechtfertigt seine Aktionen manchmal durch
entsprechende Hinweise; Denn auch wenn man einen solchen Hans nüchtern,
unvoreingenommen und wirklich objektiv betrachtete, konnte sich einem das Taschenmesser
von selbst im Sacke öffnen."
Angesichts solcher Stellen scheint es
geradezu logisch, daß sich am Ende Döblinger als Autor er vorangegangenen Erzählung (des
Berichtes") herausstellt. Allerdings bezeichnet er sein Werk selbst als Mordsblödsinn".
Childerich III. - Schnippedilderich
Childerich III. versuchte grundsätzlich,
seine Kinder sobald wie möglich aus dem Elternhaus zu bringen - meist durch geeignete
Eheschließungen mit entfernten Adeligen. Bei Schnippedilderich war das nicht anders,
vielmehr bemühte sich der Freiherr den Vorgang noch zu beschleunigen, da ihm die
ungeheure Kraft seines Sohnes Angst bereitete. So gelang es ihm, Schnippedilderich nach
England zu seinen Oheimen zu schicken.
Nur ein einziges Mal erregte Childerich IV.
den Zorn seines Vaters, als er ihn nämlich auf das Loch in seinen Plänen familiäre
Totalität betreffend aufmerksam machte: Ich bin der Sohn deiner
Großmutter, sagte Schnippedilderich in aller Ruhe, demnach, wenn schon nicht
dein Vater, so doch wohl mindestens dein Oheim. Du hast dich also eines respektvollen
Tones mir gegenüber zu befleißigen."
So sehr Childerich III. seinen Sohn anfangs
loswerden wollte (mehr aus Angst vor dessen Kräften, als aus fehlender Liebe), so sehr
wünschte er ihn sich in fortgeschrittenem Alter wieder zurück, um ihm gegen die
Karolinger (bzw. die Subkontisten) beizustehen. Schnippedilderich war neben Wänzrödl und
seiner Barbara Bein eine der wenigen Personen, die Childerich III.
gerne um sich hatte.
Childerich III. - Pippin
Das Verhältnis der beiden
zunächst voneinander ganz unabhängigen Männer hatte etwas merkwürdig Statuarisches.
Man kann sich hier kaum anders ausdrücken. Sie redeten auch meistens stehend miteinander.
Kein Liegen in Klubsesseln verführte zum Geplauder.
Sie tranken auch zusammen: ebenfalls
stehend. Dabei eine Entfernung von mindestens sieben Schritten zwischen sich lassend.
[...]
Die Gespräche oder Auftritte zwischen
Childerich III.
und Pippin entbehrten nicht gewisser Formen. So zum Beispiel ließen die
beiden einander stets vollends ausreden; auch der Wüterich unterbrach Pépin niemals. Sie
schleuderten einander oft lange Perioden entgegen, mitunter getrennt von Pausen
vollkommenen Schweigens."
Das anfangs eher neutrale Verhältnis
zwischen den beiden steigerte sich jedoch im Laufe der Zeit in ein von Haß
gekennzeichnetes. Ausschlaggebend dafür war vor allem Pippins Eifersucht auf Childerich
III. wegen dessen neuer Frau (Ulrike von Bartenbruch).
Er konnte nicht verstehen, wie die
schöne Dame Gefallen an dem alten Freiherrn finden konnte und verurteilte außerdem, daß
sie aus dem selben Geschlecht stammte - dies war ausschlaggebend dafür, daß Pippin
endgültig zu den Subkontisten überlief (auch erhielt er von ihnen zuvor schon
Provisionen für verschiedene Geschäftsabschlüsse zu ihren Gunsten mit Childerich III.).
Pippin auf dem Schlachtfeld (während der
Schlacht am Windbühel) zu Childerich:
Nun, Abergeil, du Ungestalt, hier
treff ich dich
zur guten Stunde, und wie freu ich
mich,
dich jetzt zu dreschen, daß du deine
Klauen
nie wieder streckst nach adeligen
Frauen!"
Childerich III. - Döblinger
Döblinger wird für Childerich III. ein
Symbol für die nahende Wende zum Schlechten (kurz vor ernsteren Auseinandersetzungen mit
Pippin). Der Freiherr besitzt ein Bild, auf dem unter anderem auch Döblinger abgebildet
ist - und als Childerich ihn persönlich erblickt, erklärt er ihn zum Symbol für die
kommende Wende.
(Nachdem er seinem Sohn Schnippedilderich dies mitgeteilt hatte, zweifelte
dieser nicht mehr an dessen Sinnesverwirrung.)
Erzählform - Erzählperspektive
Erst der Epilog enthüllt den
vorangegangenen Roman als Opus des Schriftstellers Dr. Döblinger, der selbst eine Figur
in seiner Geschichte ist.
Den Doctor Döblinger aber greifen
wir lieber mit der Prosa-Zange an. Seine Verprügelung bildet ein Postulat poetischer
Gerechtigkeit. Zudem empfiehlt sie sich noch aus einem weniger auf der Hand liegenden
Grunde.
Nämlich um den Grimm des Lesers zu sänftigen (dessen Fußwinkel an dem Punkte,
wo wir mit unserem fragwürdigen Berichte halten, einen beträchtlichen Grad schon
erreicht haben dürfte), seinen Grimm gegen den Autor nämlich: da aber gedachter Leser
längst dessen enge Beziehungen zu unserem Doctor Döblinger durchschaut hat, so
besänftigen wir diesen verprügeln lassend, den Leser gleich auch in bezug auf jenen.
(...) Derartige Leute sind ja als ganze nur ein wandelnder Unfug in Person, und man kann
ihnen diesen daher nicht austreiben."
Obwohl der Großteil der 28 Kapitel in
Prosa verfaßt ist, greift Doderer einige Male zum Mittel des Dramas, eine kurze
Überleitung vorausschickend.
Die Dramatik der Lage erfordert
eine ebensolche Darstellung. Auch wird uns die Übung gut tun. Charles Baudelaire sagt
über das Theater:
Was ich im Theater immer am
schönsten gefunden habe, ist der Lüster - ein schöner leuchtender Gegenstand,
kristallisch, kompliziert, rundgeschwungen und symmetrisch. Indessen leugne ich nicht
durchaus den Wert der dramatischen Literatur.
Wir sind ganz und gar dieser Meinung.
Nur muß es hier auch ohne Lüster gehen.
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