Zeitgeschichte Kultur und Politik vor dem Zweiten Weltkrieg
Berlin um 1930
(Hintergründe der Zeitgeschichte vor der Machtergreifung des
Nationalsozialismus 1933 , Ueberlegungen zu Sozial- , Kultur- und
Mentalitätsgeschichte)
«Fabian oder die Sittenrichter» (Roman von Erich Kästner)
Wirtschaftliches und Soziales
Berlin als pulsierende Großstadt ist während der Jahre nach 1920 ein
sozialer und kultureller Magnet. Die Bevölkerung wächst noch durch
Zuwanderung und verjüngt sich. Auch wenn die Bautätigkeit im Wohnungswesen
sichtbar neue Ober- und Mittelschichtquartiere im äusseren Gürtel entstehen
lässt (Bauhaus-Architektur der "Neuen Sachlichkeit" z.B. Grunewald) , bleibt
der Charakter der klassischen Innenstadtviertel aus der Gründerzeit um 1870
erhalten. Berlin war schon lange ein Standort innovativer Industrie im
Chemie-, Elektro- und Pharmabereich( Siemens, AEG.
..), nicht im
schwerindustriellen Geschäft.
Alte verarmte Schichten(" alter ehemals staatstragender Mittelstand") ,
welche durch die Inflation nach dem Ersten Weltkrieg ihre Ersparnisse
verloren, hoffnungslos und skeptisch gegen den neuen Staat (Demokratie)
wurden und auf dem Minimum lebten, sind 1930 ebenso anzutreffen wie ein
protziges Neureichentum, Kriegsgewinnler und Währungsspekulanten, welche in
Sachwerten spekuliert haben. Nach 1929 zerfällt in der Weltwirtschaftskrise
die Gesellschaft noch stärker in Krisenopfer und Krisengewinner: die
Arbeitslosenzahl im deutschen Reich geht vom Juli 1927 1 Mio bis Winter 1932
auf 6,04 Millionen, der Beschäftigungsgrad in der Industrie sinkt von Juli
1929 73% auf Mai 1933 45%. Neueste ruinierte Gruppe ist die
Facharbeiterschaft.
Der Aussenhandel bricht zusammen.
Politisch stehen sich Befürworter und Gegner der Republik und der Demokratie
immer schärfer getrennt gegenüber: das Häuflein der republiktreuen und
verfassungsfreundlichen Sozialdemokraten und Demokraten (Liberale: Deutsche
Demokraten, Zentrumskatholiken) ist bald nicht mehr mehrheitsfähig, das
Konservative (Deutsche Volkspartei, Nationalisten Deutschnationale
Volkspartei , Nationalsozialisten) Lager radikalisiert sich zusehends
Richtung rechts außen. Häufige Wahlkämpfe infolge der politischen
Instabilität ("Notstandsregierung" nach Paragraph 48) 1930-1933 jagen sich
und bringen der Rechten Zulauf und Gehör. Linksaußen blockieren die
Kommunisten die Mehrheitsbildung (Parole Klassenkampf).
Mentalität
Das Lebensgefühl einer sich betrogen fühlenden Generation junger Erwachsener
schildert der Schriftsteller Peter Martin Lampel 1932: » Vor über einer
Million Jugendlicher unter uns in Deutschland hat das Leben die Tür
zugeschlagen. Sie verkommen tagtäglich mehr vor unseren Augen in Gereiztheit
oder in Stumpfsinn, tagaus, tagein, in maßloser, sinnloser Zeit.
Sie
verlangen für ihre leeren Hände nach Arbeit, die Sinn hat. Oder sie gehen
bald endgültig vor die Hunde in Abwehr oder in Stumpfheit; hoffnungslos,
verbittert, schlaff und störrisch: also menschenunwürdig. «
Kästners Roman charakterisiert vielleicht mit folgendem Gedicht des Autors
das Lebensgefühl einer Generation Deutscher und die Seelenlage eines gut
qualifizierten Hochschulabgängers ohne Zukunft und ohne Hoffnung auf eine
sinnvolle Betätigung am besten; im "Fabian" nimmt sich der begabte Philosoph
Labude aus Verzweiflung über die berufliche Erfolglosigkeit das Leben:
« Ihr habt uns in die Welt gesetzt.
Wer hatte euch dazu ermächtigt?
Wir sind nicht existenzberechtigt
Und fragen euch: Und was wird jetzt?
Schon sind wir eine Million !
Wir waren fleissig und gelehrig. Und ihr?
Ihr schickt uns, minderjährig,
fürs ganze Leben in Pension.
Die Zeit ist blind und blickt uns an.
Die Sterne ziehn uns an den Haaren.
Das ganze Leben ist verfahren,
noch ehe es für uns begann.
Über den lärmigen Aufstieg des jungen Nationalsozialismus und vergleichbarer
politischer Gruppen fast überall in Europa klagt der niederländische
Kulturhistoriker Jan Huizinge ( Im Schatten von morgen 1935) : » Das
Bedürfnis, über verstandesmäßig erfassbare Dinge so exakt und objektiv als
möglich zu denken und dieses Denken selbst kritisch zu prüfen, wird
schwächer . . . Das Gefühl wird ohne kritischen Widerspruch des Verstandes,
ja bewusst im Gegensatz zu ihm, in die Urteilsfällung gemengt, gleichgültig
welcher Art das Objekt des Urteils auch sei .
. . Mehr als je scheinen die
Menschen Sklaven eines Wortes, einer Parole, um einander damit zu töten,
Schlagwörter im buchstäblich tödlichsten Sinn. Die Welt ist geladen mit Haß
und Mißverständnis . . .
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