Die philosophie kants ( der weg der philosophie )
Die Philosophie Kants
1. Kant, der Königsberger und Weltbürger
Immanuel Kant wurde am 22. April I72q, in Königsberg als Sohn eines Handwerkers geboren und wuchs im Geist des Pietismus auf. Sein Leben verlief äußerlich undramatisch, seine geistige Entwicklung führte aber zu einer epochemachenden Wende, deren Bedeutung kaum überschätzt werden kann. Er begann als naturwissenschaftlich interessierter Anhänger der rationalistischen Philosophie, wurde später von empiristischen Gedanken, wie er sie bei Locke, aber auch bei Crusius., fand, beeinflußt, fühlte sich durch Humes skeptische Argumente herausgefordert und ließ schließlich alle diese Auffassungen, die er teils als ungenügend, teils als einseitig erkannte, hinter sich.
Die von ihm begründete neue Philosophie - die Transzendentalphilosophie - war zwar, wie alle großen Leistungen im philosophischen Bereich, in verschiedener Hinsicht durch frühere Gedanken vorbereitet, doch diese älteren Ansätze kamen erst durch ihn voll zur Geltung, so daß er mit Recht die von ihm bewirkte *Umänderung der Denkart mit der Revolutionierung des astronomischen Weltbildes inderfrühen Neuzeit verglich. Der Durchbruch zu der neuen Denkweise gelang ihm jedoch erst recht spät: Die «Kritik der reinen Vernunft*, mit der der Schritt zur Transzendentalphilosophie erfolgte, erschien, als Kant sechsundfünfzig Jahre alt war. Wäre er einige Jahre früher gestorben, wäre er, wie z.B. Crusius oder Lambert, heute wohl nur mehr den auf das 18. Jahrhundert spezialisierten Forschern bekannt.
An der Universität Königsberg hörte Kant neben Philosophie auch Theologie, Mathematik und Physik. Besonders regten ihn die Vorlesungen Martin Knutzens I7l3-1751) an, eines Wolffianers, der auch gute mathematische und physikalische Kenntnisse hatte. Kants frühe Arbeiten, z.B. die «Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte* (1747) oder die «Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels» (1755), galten naturwissenschaftlichen Themen.· Erst in den sechziger Jahren verschob sich der Schwerpunkt von Kants Veröffentlichungen von den Naturwissenschaften zur Philosophie.
In rascher Folge entstanden «Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes» (1763, tatsächlich 1762.), die «Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen» (1764),,, die «Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral» sowie die «Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik» (1766). Bereits m dieser Phase von Kants Denkentwicklung ist die zunehmende Distanzierung gegenüber der rationalistischen Metaphysik festzustellen (siehe unten Abschn. 2).
1770 wurde Kant Ordinarius. Wie damals üblich, veröffentlichte er aus Anlaß der Ernennung eine Abhandlung (eine sogenannte Inaugural-Dissertation) über Form und Prinzipien der sinnlichen und der intelligiblen Welt («De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis»).
In dieser Schrift sind bereits manche Gedanken enthalten, die für die kritische Philosophie charakteristisch sind, namentlich die These, daß Raum und Zeit nicht Formen der Dinge an sich, sondern subjektive Ordnungsschemata sind, die der Erfahrung anschaulicher Gegenstände zugrunde liegen. Die folgenden Jahre widmete Kant der Ausarbeitung des kritischen Ansatzes, die sich als schwieriger erwies, als Kant zunächst angenommen hatte. Die Aufgabe nahm seine Kraft während des «stillen Jahrzehnts* zwischen 1770 und 1780 fast ganz in Anspruch. 1781 erschien endlich das Werk, in dem Kants Schaffen seinen Höhepunkt erreichte: Die « Kritik der reinen Vernunft*.
Einige Jahre später erklärte Kant, er habe die Ergebnisse seiner Arbeit in vier bis fünf Monaten niedergeschrieben.4 Da die « Kritik* unmöglich in so kurzer Zeit verfaßt sein kann, bietet sich die Annahme an, daß Kant in der angegebenen Zeit einen Entwurf zu Papier brachte und in ihn Teilausarbeitungen einschob, die im Verlauf der vorangegangen Jahre, zum Teil sogar zu Beginn der siebziger Jahre, entstanden waren.
Da seine Auffassungen in diesem Zeitraum Veränderungen unterworfen waren, ist es nicht verwunderlich, daß die «Kritik der reinen Vernunft* kein vollkommen einheitliches Werk ist und daher in recht unterschiedlicher Weise interpretiert werden konnte. Dennoch ist es eines der wichtigsten philosophischen Bücher überhaupt, da es, wie im Folgenden gezeigt werden soll, einen Wendepunkt in der Philosophie bedeutet* Hier sei nur vorwegnehmend festgestellt, dass es in der kritischen Philosophie nicht mehr darum geht, irgendwelche Gegenstände - auch nicht jenseitige Gegenstände - oder Gegenstandsbereiche zu erkennen, sondern darum, begreiflich zu machen, wie es überhaupt möglich ist, daß wir uns urteilend auf Gegenstände beziehen und beanspruchen können, etwas von ihnen zu erkennen. Die Transzendentalphilosopilie verfolgt nicht das Ziel, etwas vom Wesen der Wirklichkeit oder von deren Struktur zu erfassen, sondern ihre Aufgabe besteht darin, auf die Beziehung zwischen dem erkennenden Ich und den Gegenständen zu reflektieren. Sie hat es, anders als die alltägliche oder die einzelwissenschaftliche Erfahrung, nicht mit Gegenständen, sondern mit den Bedingungen von Gegenstandserfahrung bzw. von Gegenstandserkenntnis zu tun.
Kant war mit der Art, in der er 1781 seine Auffassung vorgetragen hatte, offenbar selbst nicht völlig zufrieden, denn er sah sich schon 1783 veranlaßt, seine Konzeption in den «Prolegomena zu einer jeder künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können» zu verdeutlichen.
Seine Absicht war, «manches dem Vortrage nach besser einzurichten, als es in der ersten Ausfertigung des Werks geschehen konnten s Gleichzeitig wollte er eine andere Methode anwenden als in der « Kritik der reinen Vernunft*, nämlich nicht mehr, wie in diesem Werk, die synthetische, sondern die analytische. Die Frage, worin Kants analytische oder regressive Methode besteht, wurde immer wieder diskutiert; sie läßt sich am plausibelsten dahingehend beantworten, daß die «Prolegomena» insofern analytisch sind, als in ihnen gefragt wird, mit welchem Recht wir Sätze der Mathematik und der Physik als Erkenntnisse betrachten; daß es mathematische und physikalische Erkenntnisse gibt, wird dabei vorausgesetzt. Diese Vorgangsweise entspricht der traditionellen Auffassung der Analyse (der regressiven Methode), nach der man «von dem, was gesucht wird, als ob es gegeben sei, ausgeht und zu den Bedingungen aufsteigt, unter denen es allein möglich* ist. Die «Kritik der reinen Vernunft* ist dagegen unabhängig von der Voraussetzung, daß es gesicherte einzelwissenschaftliche Erkenntnisse gibt; hier ging Kant davon aus, daß wir Gegenstände im allgemeinen erfahren, und fragte nach den Bedingungen, unter denen Gegenstandserfahrung überhaupt als möglich begriffen werden kann. Auf diese Vorgangsweise bezieht sich der Ausdruck «synthetisch», der hier somit nicht mehr, wie in der älteren Methodologie, die axiomatische Darstellung - den ordo geometricus - bedeutet.
Die «Prolegomena» waren nicht Kants letztes Wort in der theoretischen Philosophie; 1787 kam die zweite Auflage der «Kritik der reinen Vernunft* heraus, die sich teilweise beträchtlich von der ersten Auflage unterscheidet.
Inzwischen war bereits die ~Grundlegung zur Metaphysik der Sitten* (1781) erschienen, in der die zentralen Gedanken einer der kritischen Philosophie angemessenen Ethik enthalten sind. 1788 folgte die «Kritik der praktischen Vernunft*, und r 9a schloß Kant «das kritische Geschäft* mit der «Kritik der Urteilskraft* ab.
Da er der Kritik die Aufgabe zuwies, den Boden für eine neue - d.h. von der rationalistischen verschiedene - Metaphysik zu bereiten, entsprechen den beiden ersten Kritiken die « Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft* (1786) und die «Metaphysik der Sitten* (1796)·· Obwohl sich Kant bis zuletzt mit der Idee einer Metaphysik auf der Grundlage der Kritik auseinandersetzte, kommt ihm in erster Linie als kritischem Philosophen, nicht so sehr als Metaphysiker weltgeschichtliche Bedeutung zu. Wenn in Kants Metaphysik von Gott) Welt und Seele die Rede ist, dann sind nicht mehr Gegenstände möglicher Erkenntnis gemeint, sondern Ideen, d.
h. Gedanken, deren wir im theoretischen und praktischen Zusammenhang bedürfen, die sich aber nicht mehr auf eine von unserem Denken unabhängige Wirklichkeit beziehen lassen. Das Projekt einer Neubegründung der Metaphysik auf kritischen Grundlagen beschäftigte Kant so intensiv, daß es gerechtfertigt ist, ihn auch als Metaphysiker zu würdigend Er selbst hat in der unvollendeten Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik nicht nur seine eigene, sondern die Entwicklung der Philosophie im allgemeinen als Weg zu einer Metaphysik auf moralischen Grundlagen dargestellt.
Kant war, solange es seine Kräfte erlaubten, unermüdlich tätig. Da er stets mit der Feder in der Hand dachte, entstanden bis kurz vor seinem Tod Notizen, doch fiel es ihm mit der Zeit immer schwerer, seine Gedanken zu ordnen. Zunächst galten seine Bemühungen dem Übergang von der Metaphysik zur Physik, wobei er' die in den *Metaphysischen Anfangsgründen* eingeschlagene Richtung fortzusetzen suchte.
Später kreiste sein Denken anhaltend um die Idee der Transzendentalphilosophie als einer Metaphysik im Horizont des kritischen Ansatzes. Am 12. Februar 1804 starb Kant in der Stadt, die er zeit seines Lebens kaum verlassen hatte. Der Name Königsbergs wird, ungeachtet der nach dem zweiten Weltkrieg vorgenommenen Umbenennung, in Verbindung mit Kant stets lebendig bleiben.
Die sogenannte vorkritische Philosophie Kants
Während seine Habilitationsschrift («Nova dilucidatio») noch weitgehend unselbständig war, stieß Kant in den sechziger Jahren immer deutlicher zu einerselbständigen philosophischen Auffassung vor, ohne jedoch den Standpunkt der kritischen Philosophie zu erreichen. In diesem - und nur in diesem Sinne " pflegt man sein Denken während der sechziger Jahre *vorkritisch* zu nennen.
Dieser Ausdruck bedeutet nicht, daß Kant in dieser Zeit ein unkritischer Denker gewesen wäre, sondern lediglich, daß er noch nicht den Standpunkt des Kritizismus bzw. der Transzendentalphilosophie erreicht hatte.
In der Schrift über den «Einzig möglichen Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes* vertrat Kant die Ansicht, daß ein Gottesbeweis möglich sei, obwohl er den ontologischen Beweis in seiner auf Descartes zurückgehenden Form (siehe Teil IV, Kap. l, id) mit der Begründung verwarf, daß «Existenz» keine Vollkommenheit, bzw. überhaupt keine Eigenschaft in dem Sinne sei, in dem ~Weisheit* oder «Güte» Eigenschaften sind. Eigenschaften gehören zum Inhalt von Begriffen, während die Existenzbehauptung den Umfang eines Begriffs betrifft.
So kann man als Inhalt des Begriffs « gleichseitiges Dreieck* die Bestimmungen ~Vieleck* und «Winkelsumme von I800, betrachten; fragt man dagegen, ob gleichseitige Dreiecke existieren, geht es darum, ob etwas unter diesen Begriff fällt bzw. ob sein Umfang nicht leer ist. Wenn die Verfechter des ontologischen Gottesbeweises glaubten, durch Analyse des Inhalts des Gottesbegriffs zeigen zu können, daß der Umfang dieses Begriffs nicht leer ist - d.h~daß Gott existiert -, dann übersahen sie) daß die Existenzfrage grundsätzlich nicht auf der Ebene der Inhaltsanalyse entschieden werden kann und erlagen daher einem Mißverständnis. Obwohl derontologische Gottesbeweis scheitert, hielt Kant aber einen Gottesbeweiß Für möglich, wieder Titel der Abhandlung andeutet. Seine Überlegung verläuft folgendermaßen: Wenn man zu denken versucht, daß nichts existiert, dann scheitert der Versuch, denn «denken» heißt immer «etwas denken*.
Das Gedachte muß nicht wirklich sein - wir können Unwirkliches denken, wie einen Zentauren-, aber es muß als Gedachtes doch möglich sein. Die Möglichkeit besteht darin, daß irgendwelche Inhalte miteinander widerspruchsfrei verbunden sind; letzten Endes läßt sich die Möglichkeit als Beziehung zwischen einfachen, somit nicht weiter analysierbaren Inhalten (den «Data der Möglichkeit*) auffassen. Diese Data müssen exstieren) wenn von «Möglichkeit» die Rede sein soll. Leugnet man, dass irgendetwas existiert, leugnet man auch die Existenz der einfachen Data und hebt alle Möglichkeit auf, so daß sich nichts mehr denken ließe) während doch davon ausgegangen wurde, daß wir etwas denkest* Da der Versuch, alle Existenz aufzuheben, scheitert) muß anerkannt werdet dass etwas existierte Die Möglichkeiten müssen in etwas Wirklichem verankert sein, das aller Möglichkeit zugrunde liegt und nicht mehr aufgehoben werden kann, somit notwendigi st, d.h. in Gott, dessen Dasein somit bewiesen ist* Mit dem Glauben an die Beweisbarkeit eines notwendigen Grundes aller endlichen Wesen blieb Kant 1762 noch unübersehbar der rationalistischen Denkweise verhaftet.
Im "Versuch den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen» (1763) stieß Kant zu der wichtigen Einsicht vor, daß zwischen logischem Grund und &ealgrund (oder Ursache) unterschieden werden müsse. Die Vertreter der rationalistischen Metaphysik hatten diesen Unterschied vernachlässigt, wie sich in der ihnen geläufigen Wendung «Grund bzw. Ursache* (ratio sive causa) zeigt. Die rationalistische Auffassung beruht auf der Voraussetzung, daß zwei Vorgänge nur dann als ~Ursache-und ~Wirkung bezeichnet werden dürften, wenn der Begriff der ersteren den Begriff der letzteren enthält Das bedeutet) daß aus dem vollständige Begriff der Ursache die Wirkung gefolgert werden kann, ohne daß man sich auf Beobachtungen zustutzen brauchte. Indem Kant eine scharfe Trennung zwischen der Grund-Folge-Beziehung und der Ursache-Wirkungs-Beziehung vornahm, trat er somit der rationalistischen These entgegen, daß es prinzipiell möglich sei, unabhängig von der Erfahrung -durch reine Vernunft- Kausalzusammenhänge zu erkennen* Da für die rationalistische Metaphysik der Anspruch wesentlich war, Züge der Wirklichkeit unabhängig von Beobachtungen erfassen zu können, bedeuteten Kants Überlegungen von 1763 einen Angriff auf diese Art von Metaphysik.
Mit dem Problem der Metaphysik, näherhin mit der Frage, welchen Grad von Gewißheit metaphysische Urteile haben, setzte sich Kant auch in der Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral* auseinander, und zwar von einem empirischen Standpunkt aus: «lch werde .
.. sichere Erfahrungssätze und daraus gezogene unmittelbare Folgerungen den ganzen Inhalt meiner Abhandlung sein lassen" wie er erklärte. Die philosophische Methode ist von der mathematischen unterschieden, weil man in der Philosophie, anders als in der Mathematik, nicht von einer kleinen Anzahl von Grundbegriffen und Grundsätzen ausgehen kann, um nach dem Vorbild von Euklids Elementen der Geometrie* (more geometrico) Lehrsätze abzuleiten, wie es z.B. Spinoza versucht hatte (siehe Teil IV, Kap.
l, 4b). Mit der Ablehnung der für die rationalistische Metaphysik typischen Darstellungsform unterstrich Kant seine Distanz gegenüber der Tradition, aus der er hervorgegangen war. Anstatt an der Methode der Mathematik sollsich die Philosophie am Vorgehen der Physik orientieren: «Die echte Methode der Metaphysik ist mit derjenigen im Gründe einerlei, die Newton in die Naturwissenschaft einführte, und die daselbst von so nutzbaren Folgen war. Man soll, heißt es daselbst, durch sichere Erfahrungen, allenfalls mit Hilfe der Geometrie, die Regeln aufsuchen, nach weichengewisse Erscheinungen der Natur vorgehen.» Wenn aber zwischen Philosophie und Naturwissenschaft kein methodologischer Unterschied besteht, können die beiden Disziplinen nur durch ihre Gegenstandsbereiche unterschieden sein: Die Philosophie hat es mit den Erscheinungen des Bewußtseins zu tun, während die Naturwissenschaften äußere Erscheinungen untersuchen. Das scheint in die von Hume eingeschlagene Richtung zu weisen, doch wollte Kant im Gegensatz zu Hume philosophische Sätze nicht in Sätze der Psychologie übersetzen.
Zwar war er sich um die Mitte der sechziger Jahre mit Hume in der Ablehnung der traditionellen Metaphysik einig, aber eine klare selbständige Auffassung der Metaphysik hatte er noch nicht entwickelt.
Einer verbreiteten Deutung zufolge kam Kant der Humeschen Position in den «Träumen eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik* (1766) am nächsten; bei genauerem Zusehen zeigt sich )edoch, daß er damals schon Auffassungen vertrat, die sich auch in seiner reifen Philosophie finden. Anlaß der Schrift waren Berichte über Emanuel Swedenborg (1688-1772), den «Erzgeisterseher unter allen Geistersehern*, wie Kant ihn nannte." Swedenborg soll über telepathische Fähigkeiten verfügt haben, und er beanspruchte, mit einem Geisterreich jenseits der Welt der Dinge in Verbindung zu stehen. Kant sah in diesem Anspruch ein Seitenstück zum Glauben der spekulativen Metaphysiker an die Erkennbarkeit einer transzendenten Realität. Ihm ging es aber nicht darum, die Metaphysik als solche zu überwinden; er räumte ein, in sie verliebt zu sein, ja er gestand ihr sogar einen gewissen Nutzen zu: Sie enthüllt zwar nicht verborgene Eigenschaften der Dinge, aber sie läßt erkennen, «ob die Aufgabe aus demjenigen, was man wissen kann, auch bestimmt sei und welches Verhältnis die Frage zu den Erfahrungsbegriffen habe, darauf sich alle unsre Urteile jederzeit stützen müssen.
Insofern ist die Metaphysik eine Wissenschaft von den Grenzen der menschlichen Vernunft».
Auch die Möglichkeit telepathischer Phänomene wollte Kant nicht in dogmatischer Weise leugnen, sondern er fragte, wie eine nicht durch Zusammenhänge der körperlichen Welt vermittelte Kommunikation zwischen Geistern begreiflich zu machen wäre. Die Annahme, daß es tatsächlich telepathische Erfahrungen gebe, genügt nicht; entscheidend ist, ob es eine Erklärung der behaupteten Tatsache gibt. Die vorgebliche Verbindung zwischen angenommenen geistigen Substanzen kann aber nach Kant in keiner Weise erklärt werden, und dies reicht aus, um sie in Frage zu stellen. Bemerkenswert ist vor allem, daß hier schon die für die kritische Philosophie typische Ansicht wirksam ist, daß wir Erkenntnis nur von etwas haben können, was mit Beobachtungen raum-zeitlicher Gegenstände zusammenhängt. Zum Glauben an rein geistige Wesen, namentlich an die menschliche Seele, können allenfalls moralische Gründe veranlassen, doch darf eine solche moralisch bedingte Überzeugung nicht als Erkenntnis betrachtet werden.
Kants spätere Auffassung, daß die Erkenntnis auf den Bereich möglicher Erfahrung eingeschränkt sei und erfahrrungsjenseitige Zusammenhänge nur als Gegenstände (vernünftigen) Glaubens gelten könnten, kündigt sich hier schon deutlich an.
Die Entwicklung der Kantischen Philosophie während der sechziger Jähre ist somit nicht nur dadurch gekennzeichnet, daß Kant wichtige rationalistische Thesen preisgab, sondern auch dadurch, daß er nach und nach zu Auffassungen vorstieß, die für die lsritische Philosophie kennzeichnend sind, z.B. daß es keine prinzipiell von der Anschauung unabhängige Erkenntnis gebe, daß die Philosoplue die Aufgabe habe, den Bereich des Erkennbaren gegenüber dem des Unerkennbaren abzugrenzen, daß wissenschaftliche Aussagen über Transzendentes unmöglich seien und daß von Gott und der Seele nur im Sinne von Inhalten eines vernünftigen, moralisch bedingten Glaubens gesprochen werden könne.
Damit hatte sich eine Menge geistigen Sprengstoffs angesammelt; es bedurfte nur noch des zündenden Funkens, um gleichsam das alte philosophische System zu sprengen. Dies geschah 1769 in einer Einsicht, die nicht nur die Haltlosigkeit der älteren (~dogmatischen*) Metaphysik in prinzipieller Weise sichtbar werden ließ, sondern zugleich den Horizont einer neuen philosophischen Position eröffnete.
Kant sprach sehr allgemein von einem großen Licht, das ihm das Jahr 1769 gebracht habe,~ jedoch ohne zu sagen, was sich ihm in diesem Licht zeigte. Man kann jedoch, gestützt auf gewisse Andeutungen Kants, vermuten, daß kosmologische Probleme im Spiele waren. Kant hatte im Zusammenhang mit den Fragen nach Anfang und Grenzen der Welt bemerkt, daß der Anspruch, einerseits die Anfangslosigkeit andererseits die Notwendigkeit eines Anfangs der Welt bzw. einerseits die räumliche Grenzenlosigkeit, andererseits die Begrenztheit des Kosmos beweisen zu können, jeweils auf gute Gründe gestützt ist, so dass eine Entscheidung zwischen den konkurrierenden Auffassung nicht möglich zu sein scheint, obwohl nur eine von ihnen richtig sein kann< Ein Ausweg aus dieser Situation läßt sich finden, wenn man annimmt, dass «Welt» gar keinen Gegenstand bezeichnet, der im Raum und in der Zeit existiert, sondern den ungegenständlichen Gedanken der Einheit raum-zeitlicher Gegenstände bedeutet. Fragen nach Anfang und Grenzen der Welt erweisen sich daher buchstäblich als gegenstandslos.
Wenn «Welt» - und ähnliches gilt für «Gott» und «Seele» nicht als Gegenstand von der Art anschaulicher Gegenstände gelten kann, dann ist der rationalistische Versuch zurückzuweisen, die Inhalte der speziellen Metaphysik - Gott, Welt und Seele - so zu behandeln, als wären sie Dinge, die wie andere Dinge erkannt werden können.
Gleichzeitig wurde Kam klar, daß der Raum (und Analoges gilt für die Zeit) weder ein Beziehungsgefüge zwischen Dingen noch eine für sich beatmende Quasi-Substanz, sondern ein subjektives Schema sei, mit dessen Hilfe das Ich Eindrücke ordnet und so raum-zeitliche Gegenstände der Anschauung erzeugt.
Diesen Standpunkt nahm Kant in der Inaugural-Dissertation von 1770 ein. Der Raum (der hier allein berücksichtigt werden soll) ist nicht sozusagen ein objektives Behältnis, in dem sich die Dinge befinden, wie Newton gemeint hatte; er ist aber auch keine verworrene Vorstellung, wie Leibniz angenommen hatte, nach dessen Ansicht der Raum die Art ist, in der die Beziehungen zwischen einfachen Substanzen sinnlich erscheinen. Würden nämlich räumliche Verhältnisse nur verworren vorgestellt, dann wäre nicht zu begreifen, wie die klaren und distinkten geometrischen Sätze auf Gegenstände der Anschauung angewendet werden können. Da dies faktisch geschieht, muß vorausgesetzt werden, daß anschauliche Zusammenhänge ebenso deutlich sind wie die Beziehungen, mit denen es die Geometrie als rationale Wissenschaft zutun hat. Dies wiederum ist nur möglich, wenn angenommen wird, daß die räumlichen Gegenstände nicht durcheine unüberbrückbare Kluft von den Begriffen der Geometrie getrennt sind, wie es der Fall wäre» wenn sie unabhängig von unserem Denken existierten.
Um begreiflich zumachen, wie es möglich ist, daß geometrische Sätze auf anschauliche Gegenstände angewendet werden, muß man daher annehmen, daß die Gegenstände Denkinhalte sind, die vom Subjekt nach jenem Schema erzeugt wurden, das auch der Geometrie zugrunde liegt, nämlich dem Ordnungsschema des Raumes. Dies ist gemeint, wenn die räumlichen Gegenstände als Erscheinungen bezeichnet werden (und Analoges gilt für zeitlich bestimmte Gegenstände). Da die räumlichen Gebilde nach denselben Prinzipien konstruiert sind, die den Axiomen der Geometrie zugrunde liegen, müssen diese Axiome und alles, was aus ihnen folgt (die geometrischen Lehrsätze) auf die Gegenstände (als Erscheinungen) angewendet werden können. Die interobjektive Allgemeingültigkeit geometrischer Sätze ist
Gegenüber dem soeben angedeuteten Standpunkt wirkt es wie ein Rückfall in die Denkweise der älteren Metaphysik, wenn Kant in der Inauguraldissertation noch eine von der raum-zeitlichen Anschauung unabhängige Erkenntnis der Wirklichkeit selbst für möglich erklärte, wenn auch als symbolische- d.h. unanschauliche - Erkenntnis.
Begriffe wie«Dasein», «Substanz», «Ursache» lassen sich auf Dinge an sich beziehen, weil sie nicht der Erfahrung entstammen, sondern ursprüngliche Formen des Geistes sind. Kant ist 1770 auf halbem Wege stehengeblieben, wenn er raum-zeitliche Bestimmungen der Erscheinung, Kategorien wie «Substanz» und «Ursache» aber dem An-sich der Dinge zuordnete. In den folgenden Jahren vollzog er die noch ausstehenden Schritte, die schließlich zu der Auffassung führten, daß Gegenstände unabhängig von der Beobachtung - aus reiner Vernunft - nicht erkannt werden könnten, so daß ein Wissen von den Dingen, wie sie an sich sein mögen, als ausgeschlossen erscheint.
Die Frage, wie sich Begriffe des Verstandes auf Dinge beziehen können, veranlaßte Kant zu einer Revision seiner Auffassung, die ihn zehn Jahre in Anspruch nahm. Anstatt, wie er zunächst geplant hatte, die Abhandlung von 1770 in erweiterter Fassung alsbald neu herausgeben zu können, schuf er ein Werk) das weit über die Inauguraldissertation hinausging, nämlich die « Kritik der reinen Vernunft*.
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