Die cybergesellschaft
Hausarbeit zu Einführung in die Kommunikationspolitik II: MultiMedia, Virtual reality, e-mail und interaktives Fernsehen - Kommunikationspolitik im Zeitalter neuer Kommunikationssysteme; WS 96/97; Dozent: Uli Lange
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Cybergesellschaften
1. MultiMedia und Mythos MultiMedia
Was ist eigentlich die Cybergesellschaft? Die Cybergesellschaft ist in jedem Falle die Gesellschaft, die im Cyberspace lebt. Der Begriff Cyberspace hängt irgendwie mit dem Computer zusammen und ist inzwischen in dem unscharfen Konglomerat "MultiMedia" untergetaucht. MultiMedia haben Politik und Wirtschaft längst für sich entdeckt und wollen damit die aktuellen Probleme lösen. Mit MultiMedia soll der vielbeschworene Übergang von der Industriegesellschaft zur Informationsgesellschaft gestaltet werden. Kritiker hingegen sehen strukturelle Massenarbeitslosigkeit, schweigende Mehrheiten etc.
bereits als den fall-out der in diesem Zusammenhang gerade explodierenden Informationsbombe. So wurde MultiMedia schnell zum "Mythos MultiMedia" und zum Anlaß für euphorisch-utopische Zukunftsvorstellungen einerseits, aber auch zum Auslöser für Angst und Verunsicherung andererseits. Die Informationsgesellschaft ist irgendeine Art von Cybergesellschaft. Unklar ist allerdings, wie ihr Cyberspace aussehen soll. Die ursprüngliche Bedeutung des Begriffes, wie er in William Gibsons Roman »The Neuromancer« vor über zehn Jahren eingeführt wurde, ist reichlich unscharf geworden. Hinzu kommt, daß man inzwischen mehrere Arten von Lebensraümen als Cyberspace erkannt hat - und zwar ganz ohne Computer.
In welchem Cyberspace die Cybergesellschaft leben soll, muß also erst noch herausgefunden werden.
Der ursprüngliche Cyberspace ist eine virtuelle Realität, die von einem schöpferischen Computer erzeugt wird. Der bekannten, uns umgebenden Realität wird eine »Virtual reality« entgegengesetzt, die technisch erzeugt wird und so neue Lebensräume eröffnet. Um diese Lebensräume optimal nutzen zu können, muß nach der orthodoxen KI eine vollständige Einbindung aller Sinnesorgane in diese virtuelle Realität gewährleistet sein. Der gesamte, vom Zentralnervensystem (ZNS) beobachtete Input, muß dann über Mensch-Maschine Schnittstellen laufen und aus der künstlichen Welt stammen.
Diese schöpferischen Maschinen sollten in kürzester Zeit unsere heutigen Computer weit hinter sich lassen.
Wenn es auch Fortschritte auf diesem Gebiet gibt, ist die anfängliche Euphorie der starken KI inzwischen eher gedämpft. Bisherige Computer sind noch weit davon entfernt, mit der "objektiven Realität" konkurrieren zu können - zumindest was die Einbindung des ZNS betrifft. Sie sind noch weitgehend mit der Desktop-Metapher zu beschreiben: Der Computerbildschirm ist ein Fenster, durch das wir blicken - in eine Welt, die der Computer noch immer nach unseren Programmen erzeugt. Die neuen Maschinen hingegen, die eine wirkliche »Immersive-Virtual Environment« generieren, setzen aber eine neuartige Kommunikation zwischen Computer und Betrachter voraus: Der Benutzer bleibt nicht länger in der Rolle des Betrachters, sondern er wird zum Teilnehmer. Er wird in das neue Universum einbezogen. Er wird zum Teilnehmer in der virtuellen Realität:
»Die Programme werden zunehmend offener sein - ihre Inhalte werden davon abhängen, was die Aktoren selbst im virtuellen Handlungsraum tun.
Psychologie und Soziologie werden ein völlig neues Forschungsfeld erhalten. Wir werden den Aufstieg einer "Cyberspace Ethnomethodologie erleben - die Untersuchung (realen!) menschlichen Verhaltens in virtuellen Räumen«.
Das also sollte der eigentliche Lebensraum der Cybergesellschaft sein. Die aktuelle Entwicklung der letzten Jahre zeigt aber eine Abkehr von diesen Szenarien. Man erkannte, daß der Ansatz der starken KI verkürzt ist. Eine völlige Einbindung des ZNS ist gar nicht nötig, um eine neue "Ethnomethodologie" entstehen zu lassen.
Dafür genügt es im allgemeinen, die Struktur des zwischenmenschlichen Beziehungsfeldes durch neue Kommunikationsmittel zu ändern. Diese Aufgabe wird momentan dem Internet zugeschrieben. Durch die Änderung der Kommunikationsformen entstehen zur Zeit neue virtuelle Freiraüme, neuartige menschliche Beziehungen und Gemeinschaften, ohne daß "Ganzfeld-Schnittstellen" nötig wären. Der Fahrschein in die neue Welt ist aber noch immer mit dem Computer verknüpft und erfordert deswegen noch relativ hohe technische wie interlektuelle Zugangsvoraussetzungen:
»Der Benutzer des Cyberspace beherrscht das (digitale) Alphabet des 21. Jahrhunderts. Menschen, die soziokulturell nicht in der Lage sind, die nötige Technik und das Wissen zu erwerben, wird diese neue Welt verschlossen bleiben.
Sie werden zu Analphabeten«.
Die Bedingung für Virtualiät, für e-motions in Echtzeit, ist computer-mediated-communications (CMC), also zweiseitige, interaktive Kommunikation, vermittelt über Maschinen. Tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen werden erwartet, wenn die Mehrzahl der Menschen diese Kommunikationsform benützt. Erst dann könnten neue, virtuelle Welten kulturbestimmend sein. Das ist der Cyberspace, wie er sich gerade entwickelt und in dem die Cybergesellschaft nach Meinung der Internet-Utopisten in Zukunft leben wird.
Es stellt sich die Frage, ob auch dieser Ansatz nicht zu kurz greift.
Ist der Aufbruch in die Virtualität, sind die Veränderungen, die durch interaktive Kommunikation erwartet werden, nicht schon durch die inflationäre Vervielfachung der einseitigen Massenkommunikation längst realisiert? Zeigen nicht die Ergebnisse der neueren Kognitionswissenschaften, daß wir ohnehin schon immer in einer selbst konstruierten, virtuellen Wirklichkeit leben? Aus diesen Bereichen ergeben sich heute, wie schon erwähnt, weitere Definitionen von Cyberspace, die nicht (nur) an einen Computer gebunden sind. Deswegen werden zunächst die virtuellen Welten betrachtet, in denen sich die jetzige Gesellschaft schon befindet. Danach kann erst ausgelotet werden, ob der aktuelle Cyberspace durch interaktive Kommunikation noch entscheidend verändert werden kann.
2. Echtzeit und Eigenzeit
Unsere Apokalypse ist nicht real, sie ist virtuell.
Und sie kommt nicht in Zukunft,
sondern sie findet hier und jetzt statt.
Jean Baudrillard
Die Probleme des Individuums beim anstehenden Übergang in die Informationsgesellschaft zentrieren sich um den Zeitbegriff. Zeit wird zu Echtzeit. Echtzeit ist der Zeitbegriff des Computers. Von ihm wird Information nahezu zur gleichen Zeit verarbeitet, in der sie entsteht. Echtzeit sollte daher der Zeitbegriff sein, mit dem sich die computervernetzte Gesellschaft der Zukunft auseinandersetzen muß. Dies stellt an den Einzelnen neue Anforderungen: Echtzeit ist in vielerlei Hinsicht der "Feind" von Bedeutung und Sinn.
Information muß vom Menschen beim Verarbeiten mit Bedeutung und Sinn belegt werden. Sie muß auf irgendeine Art verstanden werden. Simultanes muß desimultanisiert werden.
Das menschliche Gehirn besitzt dafür Mechanismen, mit denen die eingehende Information einer beträchtlichen Komplexitätsreduktion unterzogen werden kann. Nach der Kognitionsforschung ist die bewußt verarbeitete Information um einen Faktor von ca. 107 geringer als die eingehende Information.
Für diese enorme Selektionsleistung braucht das Gehirn Zeit. Es muß Geschehnisse der Außenwelt in gewisser Weise intern verlangsamen, um sie mit einer jeweils individuellen Eigenzeit verarbeiten zu können. Nur wenn dies gelingt, können die Ereignisse einer Ursachen- und Wirkungsbetrachtung unterzogen werden, und nur dann haben sie für den Menschen einen Sinn. Oder klassisch soziologisch: Nur dann können sie überhaupt "handlungsanweisend" sein. Sind diese Mechanismen überlastet, haben Ereignisse in der Umwelt keinerlei Bedeutung mehr. Dieser Umstand ist der Medienwirkungsforschung schon lange bekannt.
Parallel zur Entwicklung der Computertechnik kam es in den letzten zehn Jahren zu einer Inflation massenmedial vermittelter Information durch die audiovisuellen Medien. Eine Entwicklung hin zur Echtzeit wird so schon längst betrieben und die daraus entstandenen Probleme bestimmen heute schon die politische Tagesordnung. Bis vor kurzem wurden in der BRD die massenmedialen Inhalte indirekt vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk kontrolliert und in ihrer Komplexität "vorreduziert". So existierte in Deutschland lange Zeit eine relativ homogene Medienrealität mit kohäsionsstiftender Funktion für die Rezipienten (z. B. "Tatort" Sonntagsabends o.
ä.). Inzwischen übermitteln die Massenmedien in jeder Minute eine Vielzahl von Ereignissen aus entferntesten Räumen, nahezu zeitgleich mit ihrem aktuellen Ablauf - in Echtzeit eben. Die Unterscheidung, ob Ereignisse geschehen und dann von den Medien gesendet werden, oder ob sie geschehen, weil sie von den Medien gesendet werden, kann nicht mehr eindeutig gefällt werden und ist in vielerlei Hinsicht obsolet geworden.
Da Information nicht mehr "vorreduziert" wird und sich weiterhin exponentiell vermehrt, muß jetzt vom Individuum viel mehr Information in viel direkterer Weise verarbeitet werden (oder auch nicht). Die homogene Medienrealität wird mehr und mehr abgelöst zugunsten stärker individuell geprägter Medienrealität.
Die Echtzeit ist der Eigenzeit weit davongaloppiert, so daß die meisten Ereignisse sinnlos an der Mehrheit der Rezipienten vorüberziehen. Viele leben also längst in ihrem virtuellen Medienraum, der schon vor dem "richtigen", interaktiv gestalteten Cyberspace weit ausdifferenziert sein wird.
In Jean Baudrillards Szenarien hat deswegen der entscheidende Übergang schon längst stattgefunden - allerdings auf katastrophische Weise. Der Übergang ins virtuelle Zeitalter, das Ende der Geschichte, die Überwindung von Raum und Zeit, hat stattgefunden, ohne daß es jemand gemerkt hat und ohne daß man dafür Science Fiction gebraucht hätte. Durch »die Beschleunigung der Moderne, der Technik, von Ereignissen und Medien, sowie die Beschleunigung aller ökonomischen, politischen und sexuellen Tauschhandlungen« haben wir uns in eine Befreiungsgeschwindigkeit versetzt, daß der Bezugsraum der Realen längst verlassen wurde. In einer Analogie zur Physik beschreibt er das Wegbeschleunigen sämtlicher Sinnkonstrukte: Wie ein Körper, der so stark beschleunigt wird, daß er die Anziehungskraft seines Planeten überwindet und ins unendliche All hinausgeschleudert wird, ist die Gesellschaft, mitsamt ihrer Geschichte und ihrer Politik durch ihren "Teilchenbeschleuniger Massenkommunikation" längst in den Hyperraum der Simulation, des Nichtrealen, geschleudert worden.
»Eine gewisse Langsamkeit (das heißt, eine bestimmte, nicht zu hohe Geschwindigkeit), eine gewisse, aber nicht allzu große Distanz und eine gewisse, nicht allzu große Freisetzung sind notwendig, damit jene Art von Verdichtung oder Verfestigung entstehen kann, die für Ereignisse so bezeichnend ist, die man Geschichte nennt, also jene Art kohärenter Entfaltung von Ursachen und Wirkungen, die man das Reale nennt«.
Ereignisse verschwinden schon wieder im Moment ihrer Entstehung. Durch direkte Übermittlung kommt es zu einer Rückkopplung von Ursache und Wirkung. Dadurch wird der Zeitbegriff endgültig eliminiert und dem Menschen keinerlei Chance mehr auf Informationsverarbeitung in Eigenzeit gegeben. Für Baudrillard hat der Mensch die Informationsverarbeitung längst eingestellt. Alles, was passiert, wird um seine Wirkung betrogen.
Dementsprechend führt die Beschleunigung der Informations- und Kommunikationsprozesse auf der Medienseite zu einer Verlangsamung von Sinn auf der Rezipientenseite. Hierfür sieht er eine zweite Analogie, die ebenfalls aus der Physik stammt. Mit dieser Analogie beschreibt Baudrillard den »Astralkörper von schweigenden Mehrheiten«, dem die Politiker der westlichen Demokratien heute wie paralysiert gegenüberstehen: Nach der allgemeinen Relativitätstheorie verzögert die Materie den Ablauf der Zeit. Sterne mit großen Massen haben eine so starke Gravitationskraft, daß sie selbst das Licht anziehen (Licht besitzt eine sehr geringe träge Masse). Die Wellenlänge des Lichtes wird größer, was physikalisch eine Verlangsamung des Eigenzeitverlaufs dieses Sterns bedeutet. Überschreitet der Stern eine gewisse, kritische Masse, implodiert er zu einem sogenannten kalten Stern (ein sog.
Neutronensterne oder Schwarzes Loch). Das Licht erlischt. Die Eigenzeit steht still. Analog ist das Wechselspiel zwischen Gesellschaft und Information. Wird in der Gesellschaft eine kritische Informationdichte überschritten, entsteht eine entsprechende Trägheitskraft mit immer langsamer werdender Eigenzeit, ein gewaltiges Potential schweigender Gleichgültigkeit, das alles aufsaugt und immunisiert:
»Diese träge Masse des Sozialen ist nicht mehr das Ergebnis von fehlenden Tauschhandlungen, des Mangels an Information oder Kommunikation, sondern sie resultiert ganz im Gegenteil aus der Vervielfachung und Häufung von Tauschhandlungen [..
.]. Diese träge Masse ist der kalte Stern des Sozialen; und rund um diese Masse erkaltet die Geschichte. Völlig gleichgültig folgen Ereignis- se aufeinander und löschen sich gegenseitig aus. Neutralisiert und immunisiert durch die Information [..
.]. Dieses Mal ergibt sich das Gegenteil: Geschichte, Sinn und Fortschritt erreichen nicht mehr ihre Befreiungsgeschwindigkeit [...].
Die politischen Ereignisse haben schon keine Eigenenergie mehr, die ausreichend wäre, um uns in Bewegung zu versetzen; sie laufen wie ein Stummfilm ab, für den wir kollektiv nicht verantwortlich sind. Hier endet die Geschichte [...]. Jede gesellschaftliche, geschichtliche und zeitliche Transzendenz wird von dieser Masse in ihrer schweigenden Immanenz absorbiert [.
..]. Die Wirkungen beschleunigen sich, aber ihr Sinn verlangsamt sich unerbittlich [...
]«.
Der Geschichte und der Politik wurde ihr Sinn wegbeschleunigt. Alles wurde wegbeschleunigt, sogar unser eigenes Ende, ohne daß es jemand gemerkt hätte. Auf kein Jüngstes Gericht können wir mehr hoffen, vor keiner Atombombe dürfen wir mehr Angst haben. Baudrillard kapituliert vor der Auflösung des "WIR", vor der Auflösung sämtlicher finaler Modelle wie Ideologien und Religionen durch die Beschleunigungsexzesse der Massenkommunikation und endet dramatisch:
»Wir haben unser Ende von nun an in Satellitenform gebracht, und zwar nach dem Vorbild aller Finalitäten, die früher transzendent waren und nun schlicht und einfach orbital geworden sind. [.
..] Jetzt, wo man die Augen der Revolution geschlossen hat, jetzt, wo man die Augen vor der Revolution geschlossen hat, jetzt, wo man die Schandmauer durchbrochen hat, jetzt, wo die Lippen des Protestes sich geschlossen haben, jetzt, wo weder das Gespenst des Kommunismus noch das der Macht weder Europa noch die Erinnerung heimsucht, jetzt [...] haben wir nicht mehr die Wahl, voranzugehen, in der jetzigen Zerstörung zu verharren oder zurückzuweichen, sondern können nur noch die radikale Illusion der Welt ins Auge fassen«.
Die Kreation neuer Virtual Communities ist für ihn nur noch ein redundantes Unterfangen und kommt sowieso viel zu spät. Durch das geräuschlose Verschwinden des Endes sind wir längst überlebende Unsterbliche in einem Cyberspace, aus dem es kein Entrinnen mehr gibt.
3. Autopoiesis
Die moderne Biologie lehrt uns, daß lebende Systeme ihre Außenwelt nicht wahrnehmen können. Der menschliche Kognitionsapparat, die Kopplung von unseren Sinnesorganen mit dem ZNS und dem Gehirn, gaukeln uns nur ein selbsgemachtes Bild der Außenwelt vor. Diese Bilder konstruieren sie zwar aus Reizen der tatsächlichen Außenwelt, aber ausschließlich nach internen Regeln.
Die chilenischen Biologen Humberto Maturana und Francisco J. Varela gehen sogar noch weiter: Eine Voraussetzung für Leben ist die Nichtwahrnehmung der wirklichen Außenwelt. Damit einem System das Prädikat lebendes System zugewiesen werden kann, muß es die Fähigkeit haben, Reize aus der wirklichen Außenwelt (sog. Pertubationen) intern so zu kombinieren und zu reduzieren, das eine stark vereinfachte Außenwelt mit wesentlich geringerer Komplexität intern produziert und vorgekaukelt werden kann. Dadurch grenzt es sich von "direkten" Einflüssen der Umwelt ab. Verliert ein System die Fähigkeit, eine Außenwelt zu fingieren, wird es an Reizüberflutung sterben.
Es kann die lebensnotwendige System/Umwelt-Grenze dann nicht mehr aufrechterhalten. In den Biologie werden lebende Systeme daher als offene, selbstreferentielle Systeme mit geschlossener Organisation beschrieben, kurz autopoietische Systeme (gr.: autopoiese = "selbstmachen").
Ihre Umweltgrenze muß offen sein für den Fluß von Reizen (z. B. importieren und exportieren von überlebenswichtiger Energie, Materie), sie ist aber nicht permeabel für die Interpretationen von Reizen.
Reizinterpretationen werden ausschließlich intern erstellt, also vom System selbst mit "Bedeutung" (hier im biologischen Sinne) belegt. Die innere "Geschlossenheit" ist genau wie die "Offenheit" durch Nahrung- und Reizaufnahme unbedingte Vorraussetzung zum Überleben. Diese erst befähigt sie, die Komponenten und Bestandteile, aus denen sie bestehen, in sinnvoller Weise selbst zu produzieren und zu reproduzieren. Ihr Leben und Überleben ist deswegen nicht kausal im Durchgriff von Außen bestimmbar. Vom Standpunkt der Biologie aus gilt also für das Individuum: Es muß in einem Cyberspace leben, um überhaupt leben zu können. Es lebt in einem Cyberspace, weil es lebt.
Wie sieht das mit der Gesellschaft aus? Die Summe der lebensnotwendigen Cyberspaces der Individuen gibt ja noch lange keinen gemeinsamen Cyberspace für die Gesellschaft. Darauf antwortet Niklas Luhmann: Die Gesellschaft lebt in einer Innenwelt, zu der es eine Außenwelt gar nicht gibt. Zu diesem Standpunkt kommt man, wenn man im Luhmannschen Sinne das Gesellschaftssytem als ein geschlossenes Kommunikationssystem beschreibt. »Die Gesellschaft besteht nicht aus Menschen, sondern aus Kommunikationen«. Relevant für die Gesellschaft ist nur das, was »Anlaß gibt zu einer verständlichen Kommunikation«. Für Luhmann geschieht die gesellschaftliche Selbserzeugung im Zuge der Reproduktion von Kommunikation aus Kommunikation.
Das biologische Autopoiesis-Konzept wurde von Luhmann direkt auf die Gesellschaft übertragen. Der zentrale Unterschied zur Biologie besteht aber in der Besonderheit der System/Umwelt Grenze: Es gibt keine tatsächliche Außenwelt im oben beschriebenen Sinne. Die Grenze der Gesellschaft ist die Grenze der Kommunikation. Jenseits der Grenze gibt es weder Gesellschaft noch Kommunikation. Die Grenze kann daher nicht permeabel, nicht offen sein im Sinne der biologischen Autopoiesis. Es können keine Reize von außen hereindringen, Kommunikation kann nicht über die Grenze der Gesellschaft stattfinden.
Da Reize von der Außenwelt aber lebensnotwendig für autopoietische Systeme sind, muß es sie aber geben. Deswegen stammen auch die angeblichen Außenweltreize der Gesellschaft eigentlich schon von Innen. Sie werden nur so "präsentiert", als ob sie von außen stammen würden. Ist dies gelungen, werden sie auf übliche Weise intern komplexitätsreduziert und mit Bedeutung und Sinn belegt. Sie bestimmen dann die gesellschaftliche Entwicklung genauso, als ob sie von einem "wirklichen" Außen stammen würden.
Für die Gesellschaft ist es überlebenswichtig, daß sie Handwerkszeug besitzt, um die geschlossene Kommunikation als offene Kommunikation, als Kommunikation über die Grenze der Gesellschaft hinweg, erscheinen zu lassen.
Autopoietische Systeme brauchen unbedingt Geschlossenheit und Offenheit, um existieren zu können. Diese Aufgabe wird in modernen, ausdifferenzierten Gesellschaften von speziellen Teilsystemen übernommen, die sozusagen an die Grenze der Gesellschaft "verwalten". Solche Systeme repräsentieren in ihrem konstitutiven Aufbau vermutete Bereiche jenseits der Gesellschaft und sind zugleich institutionelle Bereiche innerhalb von ihr. Dies war die klassische Aufgabe der Religion, die in der Moderne mehr und mehr von der Wissenschaft übernommen wurde.
Nach Luhmann ist also das Kommunikationssytem Gesellschaft ein perfekt konstruierter Cyberspace (das sagt er natürlich nicht). Der perfekt konstruierte Cyberspace hat den Nachteil, daß man keine Möglichkeit mehr hat, festzustellen, ob man drin ist.
Alle seine Illusionen sind perfekt. Mit dem Computer könnte diese kulturell längst vollzogene Entwicklung also lediglich nachgeahmt werden.
4. Telematik und Internet - Nichts Neues?
Wir sind Virtualitäten, die miteinander realisieren.
Der Computer stellt uns die Möglichkeit zur
Verfügung, eine unübersichtliche Reihe
von möglichen Welten zu verwirklichen.
Vilém Flusser
In den letzen zwei Kapiteln sind wir also nun schon zum drittenmal in einem Cyberspace gelandet, ohne "MultiMedia" zu benutzen.
Die Betrachtungen des Begriffs Cyberspace von verschiedenen Perspektiven dämpft die MultiMedia-Euphorie zunächst - kamen sie doch ganz ohne Computer aus. Virtualität ist also keineswegs etwas ganz Neues. Andererseits kann man jetzt abschätzen, ob doch etwas Neues passieren könnte. Wir können keine Erstkreation einer virtuellen Welt mehr erwarten, aber vielleicht können wir den existierenden Cyberspace neu gestalten. Das Innere des Cyberspace wird durch Kommunikation produziert und reproduziert. Diese Reproduktion bestimmt die soziokulturelle Evolution in einem sozialen System und ist in hohem Maße abhängig von den Kommunikationsformen, die in einer Gesellschaft existieren.
Kommunikationsmöglichkeiten und Kommunikationmittel bringen unsere Innenwelt hervor. Kommunikationstechnik und gesellschaftliche Evolution sind eng verzahnt.
Auf euphorische Weise nähert sich Vilém Flusser aus dieser Sicht den Möglichkeiten der zukünftigen Informationsgesellschaft. Das neue Techniken auch neue Möglickeiten schaffen, ist sein Credo. Die neuartigen Möglichkeiten des Computers sind für ihn dabei ein entscheidendes evolutionäres Element. Er sieht "unendliche Möglichkeiten" neuer Gestaltungsprozesse durch diese neuartige Kommunikation.
Flusser sieht die Kulturgeschichte der Menschheit als Geschichte technischer Revolutionen. Entscheidende kulturelle Veränderungen treten immer dann auf, wenn sich in Folge technischer Erfindungen die Relationen zwischen den Dingen ändern (nicht etwa die Dinge selber). Durch epochale technische Neuerungen kommt es immer zu einer Änderung der Verkehrs- und Kommunikationsprozesse. Die zentralen Relationen Mensch-Natur und Mensch-Mensch verändern sich dadurch immer grundlegend und sind jeweils durch die für jede Epoche charakteristische Mensch-Maschine Relation geprägt. In seinem strukturgeschichtlichen Verlaufsmodell faßt er die Kulturgeschichte der Menschheit wie folgt zusammen:
1. Stufe: Der Mensch (bzw.
seine Vorfahren) befand sich am Anfang in der vierdimensionalen Raumzeit, in einer Welt des nur konkreten Erlebens, in der er sich noch nicht als Subjekt wahrnimmt.
2. Stufe: Die Verwendung der Hand trennt Subjekt und Objekt. Durch das Erfinden und bearbeiten von Werkzeugen war es möglich, die Natur zu "verändern". Man konnte sie manipulieren, anders machen. Eine Distinktion zwischen Natur und Mensch ist möglich geworden.
Man kann etwas außerhalb von sich verändern. Der Mensch tritt vom vierdimensionalen ins dreidimensionale, ins Volumen ein.
3. Stufe: Im nächsten Schritt tritt der Mensch ins zweidimensionale, in die Fläche ein. Er konnte soweit von der Natur zurücktreten, daß er sie in Bilder fassen konnte. Er beginnt zwischen den einzelnen Elementen der Umwelt Zusammenhänge zu knüpfen.
Man kann zweidimensionale Bilder von der Umgebung anfertigen (Höhlenmalerei). Man konnte die Natur "Ein-Bilden". Man konnte sie verdoppeln, noch einmal darstellen und sich so weiter von ihr abstrahieren.
4. Stufe: Der Weg ins Eindimensionale, ins lineare stand bevor. Bilder konnten irgendwann mit der Schrift illustriert und beschrieben werden (Homer, Die Bibel).
Man mußte sie gar nicht mehr malen oder anschauen, um zu wissen, wie sie aussehen. Schließlich illustrierten Bilder nur noch die Schrift. Mit der Erfindung des Buchdrucks emanzipierte sich die Schrift vollends vom Bild und war bis heute kulturbestimmend.
5. Stufe: In neuerer Zeit wurde die Schrift mehr und mehr durch den Zahlencode kritisiert. Durch Rechnen, durch Kalkulieren, wird Schrift schließlich in Intervalle und Punkte zerrißen.
Sie kann in nulldimensionalen Pixeln dargestellt werden. Computer brauchen nicht einmal mehr Buchstaben, um zu schreiben. Wir haben die aüßerste Abstraktion erreicht. »Der Fortschritt ist, wenn man ihn dimensional sieht, erledigt«.
Erst jetzt stellt man etwas Neues, etwas Unerwartetes fest: Der Computer kann aber nicht nur zerlegen, er kann auch zusammensetzen. Aus nulldimensionalen Pixeln kann er wieder Linien, Flächen und Volumina, bewegte Volumina und irgendwann im perfekten Cyberspace schließlich aus Nulldimensionalem wieder vierdimensionales, konkretes Erleben, komputieren.
»Jetzt geht es nicht mehr darum, von der Welt zu abstrahieren, [...] sondern jetzt geht es darum, die Abstraktionen zurückzuprojizieren. Plötzlich werden wir aus Subjekten zu Projekten, zu Projekten auf die Welt. Wir hören auf, Subjekte zu sein.
Die Welt ist uns nicht mehr ein Gegenstand, gegen den wir stoßen, die Welt ist uns jetzt eine Unterlage, ein Schirm, ein Feld von Möglichkeiten, auf das wir Sinn projizieren. Wir neigen uns nicht mehr über die Welt, um sie zu entziffern, sondern wir entwerfen im Gegenteil auf die Welt unsere eigene Bedeutung«.
Flusser prophezeit die telematische Gesellschaft. In der globalen, interaktiven Vernetzung sieht er den Beginn, Abstraktionen zurückzuprojizieren, den Beginn »uns auf die Welt hin zu entwerfen«. Auch für ihn ist Geschichte und Politik zu Ende - beide waren an den linearen Code der Schrift geknüpft, der sich jetzt auflöst. Im Gegensatz zu Baudrillard sind wir aber nicht frei von Sinn, sondern endlich frei für Sinn.
Hierin spiegelt sich Flussers telematische Ethik: Eine Kultur, die derart plural ist, kann auf keine gemeinsame Werte mehr rekurrieren. Gemeinsam werden alleine die Formen und Mittel des kommunikativen Vernunftsgebrauchs bleiben. Doch diese lasssen einen Univeralismus der Werte nicht mehr zu. Das uns immer vorgegaukelte falsche "WIR" als Voraussetzung für Geschichte, Politik oder Ethik, zusammen mit den Ideen von gemeinsamer Verantwortung und übergeordneten Zielen, die für das Individuum abstrakt und schon lange langweilig sind, können nun endlich aufgegeben werden. Durch globale Vernetzung kann zum erstenmal eine zum Menschen passende Verantwortungskultur aufgebaut werden:
»Die Buben und Mädels, die da vor den Terminals sitzen und dank reversibler Kabel in Verbindung miteinander sind, die wenden der Politik den Rücken zu und wenden sich einander zu. Und das ist eine neue Struktur, keine politische, sondern eine Vernetzungsstruktur.
[...] Dabei stelle ich fest, daß die moderne Lebensform, die auf Dialektik zwischen politisch und privat aufgebaut war, daß die zu Ende ist. Wir sind nicht mehr modern. Und in dem Maße, in dem die Dialektik zwischen privat und öffentlich zu Ende geht, geht auch der Humanismus zu Ende.
Auch der Humanismus ist ein moderne Ideologie. Und wie das in der Nachgeschichte, in der Postmoderne vor sich geht, das können wir jetzt schon voraussehen. Anstatt Humanismus Proxemik. Was interessiert, ist das Nächste. Und je weiter entfernt etwas ist, desto weniger interessant ist es«.
Proxemik ist ein neuer Begriff für Nähe.
Proxemik ist Nähe ohne raumzeitliche Beschränkung. Mit den interaktiven Medien, mit "Telenähe", kann der verordnete Humanismus durch richtige Nächstenliebe ersetzt werden, da jetzt jeder mit jedem (sich verbinden) kann. In einer Vernetzungsstruktur kann man prinzipiell jedem nahe sein, mit jedem persönlich werden, ohne seinen Schreibtisch zu verlassen. Die neuen, interaktiven Medien geben dem Menschen die Möglichkeit, sich seine Verantwortungsstrukturen selber aufzubauen. Nur solche haben ja für ihn konkrete Bedeutung. So trägt Flusser der empirischen Tatsache Rechnung, daß beim Menschen wirkliche Verantwortung und echtes Mitleiden oder Mitfreuen, nur dann vorhanden ist, wenn man mit jemanden in persönlicher Beziehung steht.
Sie geben dem Einzelnen die Möglichkeit, (tele)-persönliche Relationen mit Menschen allerorts zu knüpfen, sie dadurch nahe zu bringen und vielleicht zum "Nächsten" zu machen. Das abstrakte "WIR" wird und braucht nicht mehr wiederbelebt zu werden:
»Diese Utopie hofft nicht mehr auf eine uns allen gemeinsame Zukunft, sondern sie beschränkt sich auf einige Nächste: Statt Humanismus Nächstenliebe. Diese Utopie hofft nicht mehr auf eine Kreation von Realitäten, sondern nur von Virtualitäten, und sie hofft nicht darauf, das Geschaffene bewahren zu können. Denn sie hat die Hoffnung auf Wahrheit zugunsten eines Bescheidens mit Wahrscheinlichkeit aufgegeben. Und vor allem hofft diese Utopie nicht auf eine den Tod besiegende Zukunft, sondern nur darauf, dem Dasein gemeinsam mit anderen einen Sinn zu verleihen. Diese Utopie sagt nämlich: Dasein bedeutet, gemeinsam mit einigen Nahestehenden einige uns gebotene Möglichkeiten wahrscheinlicher zu machen«.
Die von Flusser erhoffte globale Vernetzung, die noch vor wenigen Jahren Utopie zu sein schien, ist heute wirklich. Die stürmische Entwicklung des Internet in den letzten Jahren erlaubt es, diese Utopie ersten "empirischen" Tests zu unterziehen. Das Entstehen einer Vielzahl von Virtual Communities und virtuellen Städten, das rege Treiben in verschiedensten Internet-News-Groups etc. haben inzwischen ansatzweise mit der Verwirklichung von neuen kommunikativen Relationen zwischen Menschen begonnen. In der Tat scheint in diesen bereichen der Computer die ihm zugedachte Aufgabe ernstzunehmen.
Noch aber ist die vielzitierte Datenautobahn aber eher eine Datenlandstraße, die mit hoffnungslosen Datenstaus blockiert ist.
Und noch ist es eine ausgewählte Minderheit, die interaktive Kommunikationsformen nutzt, so daß globale Gesellschaftsänderungen dadurch bisher noch nicht meßbar sind. Trotz der technischen Engpässe besitzt das Netz derzeit aber schon 20-30 Millionen Knoten mit ca. 100 Millionen Benutzer. Bei einer zunehmenden Ersetzung der Kupferkabel durch leistungsfähigere Glasfaserkabel gehen mittlere Schätzungen von einer maximalen potentiellen Größe des Netzes von ca. 900 Millionen Knoten aus. Man schätzt, daß es noch über 20 Jahre dauern wird, bis die Netze so ausgebaut sind, daß CMC prinzipiell die globale Kommunikationsform werden könnte.
Die Informationsfülle im Netz steigt täglich an, so daß der Netzsurfer allmählich seine Orientierung verliert. Die Internetgemeinde reagiert darauf, indem sie mitten im Netz immer mehr "statische Orte der Vertraut" schafft. Eine wichtige Funktion dieser statischen, virtuellen Orte ist der Chat. Im Chat können Menschen via Computer miteinander in Echtzeit kommunizieren. Der Chat funktioniert prinzipiell wie eine Telefonkonferenz, nur daß nicht akkustisch, sondern visuell per Schriftzeichen kommuniziert wird. Das Internet Relay Chat ist eine der populärsten Einrichtungen, das ausschließlich dieser Kommunikationsform dient.
Aus über hundert Kanälen zu den verschiedensten Themen mit Tausenden von Teilnehmern kann sich der einzelne einen Kanal auswählen und sich in die Diskussion einklinken. Knotenpunkte mit metaphorischen Namen wie "Internationale Stadt" oder "Metropolis" bieten neben dem Chat weitere statische Orte für telepersönliche Kontakte.
Howard Rheingold, einer der Netzpioniere und Gründungsväter von virtuellen Gemeinschaften, berichtet in seinen verschiedenen Dokumentationen ausführlich von seiner über zehnjährigen Erfahrung mit solchen neuen Interaktions- und Kommunikationsformen. Nach Rheingolds Berichten scheinen sich zumindest einige der oben ausgeführten Erwartungen zu erfüllen. Die Entwicklung des Netzes von den Anfängen bis heute, die Ausdifferenzierung spezieller Organisationsformen bis hin zur Entwicklung von orientierungstiftenden Elementen, wie eben den Relay Chats, vergleicht er mit der biologischen Organisationmechanismen: Immer wenn es zwischen Mikroorganismen zu einem konstitutiven Austausch kommt, emtwickeln sie sich danach als Bakterienkolonien o. ä.
gemeinsam weiter. Immer wenn Menschen längere Zeit in wechselseitiger, kommunikativer Relation zueinander stehen, bilden sie Gemeinschaften. Durch die neue Kommunikationsform haben diese Gemeinschaften keine räumlichen Grenzen mehr. Ihre nationale Herkunft, ihre kulturellen oder sprachlichen Unterschiede spielen nur noch eine Nebenrolle. Da sie alle die gleiche Kommunikationstechnik benutzen müssen, kommt es zu einer Konvergenz und zu einer Einebnung vieler Unterschiede, die Kommunikations- und Austauschprozesse üblicherweise hemmen.
»My direct observations of online behaviour around the world over the past ten years have led me to conclude that whenever computer-mediated-communications (CMC) technology becames available to people anywhere, they inevitably build virtual communities with it, just as microorganisms inevitably create colonies [.
..]. It became clear during the first months of that history that I was participating in the self-design of a new culture. [..
.]Each of the small colonies of microorganisms - the communities on the net - is a social experiment that nobody planned but that is happening nevertheless«.
Dabei bleibt der Austausch durchaus nicht nur informatorischer Natur, sondern weitet sich auf alle Lebensbereiche aus. Rheingold berichtet von grundlegenden Änderungen seiner Lebens- und Weltsichten aufgrund seines "zweites Lebens" in virtuellen Gemeinschaften. Wenn man will, kann man Flussers Proxemik im Internet-Schlagwort "think (and feel) global, act local" finden. Durch Telenähe entstehen Verantwortungsstrukturen, die denen "richtiger" Nähe völlig entsprechen:
»I routinely meet people and get to know them months or years before I see them - one of the ways my world today is a different world, with different friends and difference concerns, from the world I experienced in premodem days.
[...] Not only I do inhabit in my virtual communities; to the degree that I carry around their conversations in my head and begin to mix it up with them IRL (in real life), my virtual communities also inhabit my life. I' ve been colonized; my sense of family at the most fundamental level has been virtualized.
People in virtual communities do just about everything people do IRL, but we leave our bodies behind«.
Bis zu Verwirklichung einer neuen, globalen Kultur ist vermutlich noch ein langer Atem nötig. Das "Projekt" ist auch noch keineswegs gesichert. Dafür gibt es technische und - politische Gründe (noch ist die Politik nicht zu Ende). Momentan wird der Aufbau des Netzes von politischer Seite stark gefördert. Wenn aber tatsächlich durch die vollständige Dezentralisation der Kommunikationsprozesse ein Zerfall der klassischen politischen Macht spürbar werden sollte, stellt sich die Frage, ob von eben dieser Seite die Entwicklung des Netzes weiterhin unterstützt wird oder ob man beginnt sie zu verhindern, solange es noch möglich ist. Rheingold beabsichtigt mit seinen Dokumentationen hauptsächlich die Aufklärung der "unvernetzten" Mehrheit über das seiner Ansicht nach enorme soziokulturelle und politische Potential von CMC.
Je mehr Leute dieses Potential erkennen und nutzen, desto schwieriger wird es sein, den Menschen dieses Instrument wieder aus der Hand zu nehmen und das Rad der Geschichte wieder zurückzudrehen (bzw. überhaupt noch einmal ein Rad der Geschichte zu drehen):
»The political significance of CMC lies in its capacity to challenge the existing political hierarchy's monopoly on powerful communications media, and perhaps revitalize citizen-based democracy. But the technology will not in itself fulfill this potential; this latent technical power must be used intelligently and deliberately by an informed population. More people must learn about that leverage and learn to use it, while we still have the freedom to do so; [...
] big power and big money always found ways to control new communications media when they emerged in the past. The Net is still out of control in fundamental ways, but it might not stay that way for long. What we know and do now is important because it is still possible for people around the world to make sure this new sphere of vital human discourse remains open to the citizens of the planet before the political and economic big boys seize it, censor it, meter it, and sell it back to us«.
5. Ausblick
Nach der ausgiebigen Analyse des Begriffs Cyberspace ist jetzt eine Standortbestimmung der Cybergesellschaft möglich: Wir leben - seit es Sprache gibt - im Cyberspace des autopoietischen Kommunikationssystems, momentan allerdings mit Baudrillard'scher "Innenaustattung". Aber es gibt inzwischen - in Form des Internets - einige Keime, die prinzipiell die Chance in sich tragen, die Innenarchitektur in positiver Weise zu erneuern, wenn sie richtig und breitflächig gedeihen.
Gedeihen sie richtig, bestünde die Chance, den Beschleunigungsexzessen von Information und Kommunikation durch die einseitigen Massenmedien "statische Orte der Vertrautheit" im interaktiven Netz entgegenzusetzen. Die Freisetzung der Individuen würde gebremst und Baudrillards "gewisse Langsamkeit", die er als eine Voraussetzung für sinnbehaftetes Dasein sieht, könnte dann wieder erreicht werden. Der Gap zwischen Echtzeit und Eigenzeit könnte sich dadurch wieder verringern.
Die zentralen Massenmedien haben die Grenze von öffentlichen und privatem Raum bereits aufgehoben. Die Folgen davon werden heute eher als negativ betrachtet. Folgt man Flusser, kann diese Grenzverschiebung durch die interaktiven Medien in einen positiven Evolutionsprozeß verwandelt werden.
Das "WIR" bzw. die allgemeingültigen, zeitinvarianten Sinnkonstrukte können und sollen aber nicht wiederhergestellt werden. Vielmehr soll sich jeder mit Hilfe des neuen Kommunikationsnetzes aus seinem individuellen "Kokon" heraus seine eigenen Sinnbezüge kreativ zusammensetzen und ständig neu spinnen. Gelingt dies, ist der Übergang von der Industriegesellschaft zur Informationsgesellschaft auch ein Übergang vom "Kreatürlichen zum Kreativen".
Allgemeiner formuliert: Damit das Kommunikationssystem Gesellschaft seine Autopoiese weiter fortführen kann, bedarf es, wie oben beschrieben, Werkzeugen, die internes als externes darstellen können. Nur dann kann es seine System/Umwelt Grenze weiter effektiv simulieren und im Luhmann'schen Sinne weiter überleben.
Die inzwischen etwas stumpfen Werkzeuge Religion und Wissenschaft tun sich heute schwer, dieser Aufgabe nachzukommen. Sie tun sich schwer, Offenheit zu simulieren um Internes als sakralisierungsfähiges Externes darzustellen. Ob die neue Innenarchitektur mit »proxemischer Nächstenliebe« und »individuellem Entwerfen von Sinn auf die Welt« dafür ähnlich professionelle Ersatzsysteme ausdifferenziert, bleibt abzuwarten. Danach kann man dann beurteilen, ob man das "Neue" besser nur MultiMedia genannt hätte oder ob Mythos MultiMedia okay war.
Literatur
Baudrillard, Jean, Die Illusion des Endes, Merve Verlag 1994
Flusser, Vilém:
- Zwiegespräche - Interviews 1967-1991, Hrsg. K.
Sander, Edition Flusser, Band IX,1996
- Zukunft oder Ende, in: Zukunft oder Ende - Standpunkte, Analy sen, Entwürfe, Hrsg. R. Maresch, Boer Verlag 1993
- Die Schrift, Edition Flusser, Band V, 1992
Gibson, William, The Neuromancer, Heyne Verlag, 1987
Jensen, Stefan, Im Kerngehäuse, in: Konstruktivismus und Sozialtheorie, Delfin 1993,Suhrkamp Verlag, 1993
Kneer, Georg und Nassehi, Armin, Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme, UTB Verlag, 1994
Luhmann, Niklas:
- Soziale Systeme, Suhrkamp Verlag 1984
- Die Wissenschaft der Gesellschaft, Suhrkamp Verlag 1990
Maturana, Humberto und Varela, Francisco, Der Baum der Erkenntnis, Goldmann Verlag 1987
Merten, Klaus, Artefakte der Medienwirkungsforschung: Kritik klassi- scher Annahmen, Publizistik 39, S. 36-55, 1991
Minsky, Marvin, The Society of Mind, Voyager, Irvington, 1994
Rheingold, Howard, The Virtual Community, 1993, 1997 hypertext: https://www.well.com/user /hlr/vcbook/index.
html
Ross, Mirko, Freiräume im virtuellen Zeitalter, 1996 hypertext: https://www.fh-nuertingen.de/~ross.m/virtu.htm
Schulz, Winfried, Massenmedien und Realität: Die "ptolemäische" und die "kopernikanische" Aufassung, in: Massenkommunikation - Theorien, Methode, Befunde, Hrsg. Kaase/Schulz, Sonderheft 30, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, S.
135- 149, 1989
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