E.t.a hoffmann klein zaches genannt zinnober
E.T.A. Hoffmann Klein Zaches genannt Zinnober
Zusammenfassung
Die arme Bauersfrau Liese beklagt ihr Schicksal, das sie und ihr Mann als einzige im Dorf zwingt, in Armut zu leben. Die grösste Last ist ihr dabei ihr kleiner Wechselbalg Klein Zaches, eine hässliche Missgeburt. Die Fee Rosenschön begegnet ihr und Klein Zaches und hilft ihnen nach Kräften.
Klein Zaches erscheint nun dem Pfarrer als überaus hübsch, so dass er diesen zur Erziehung übernimmt–zur grossen Erleichterung von Frau Liese.
Die Fee Rosenschön, eigentlich Rosabelverde, ist schon sehr alt. Das Land, in dem sie wohnt und in dem dieses Märchen spielt, war vor langer Zeit unter der Regierung des Demetrius das romantische Paradies schlechthin. Demetrius‘ Nachfolger Paphnutius führte dann aber die “Aufklärung” ein, d.h. er liess die Natur ausbeuten und vertrieb die Feen aus dem Land.
Balthasar geht nach den Vorlesungen des Professors Mosch Terpin hinaus in die Natur. Fabian, sein Freund, begleitet ihn. Das Geheimnis der Waldeinsamkeit versteht er aber nicht ganz. Zusammen begegnen die beiden dem Zinnober. Fabian lacht diesen aus wegen seiner Missgestaltung. Balthasar dagegen versucht, ihm zu helfen.
Balthasar ist in Candida verliebt. Von deren Vater Mosch Terpin wird er zum Tee eingeladen. Auch Fabian und der Zinnober erscheinen. Beim Tee bei Mosch Terpin erntet der Zinnober all das Lob, das Balthasar und Terpin für ihr Gedicht bzw. die physikalischen Experimente verdienen. Candida küsst den Zinnober sogar dafür.
Verzweifelt darüber findet Balthasar erst im Wald wieder Trost und ist nun fest entschlossen, den Zauber des Zinnobers zu brechen, den er als Ursache für die geschehene Ungerechtigkeit erkennt. Vincenzo Sbiocca, dem berühmten Musiker, ist ähnliche Enttäuschung widerfahren, deshalb verlässt er nun Kerepes. Balthasar muss Pulcher daran hindern, Selbstmord zu begehen. Pulcher hat bei der Bewerbung um ein politisches Amt ungerechterweise gegen Zinnober den Kürzeren gezogen. Pulcher schöpft wieder Mut im Kampf gegen diese “höllische Macht”(s.50) und beiden erscheint Alpanus, den sie als ihren Retter erkennen.
Derweil der Zinnober politische Karriere macht, besuchen Balthasar und Fabian den Alpanus. Fabian glaubt nicht an die Zaubermacht von Alpanus und hält alles für Schummelei, Zaubertricks. Alpanus verspricht, dass er Balthasar bald helfen können werde. Er verzaubert Fabian‘s Rock, was diesem viele Komplikationen bringt. Balthasar muss aus Kerepes fliehen, weil er angeblich den Zinnober halbtot geprügelt habe.
Der Zinnober wird von Candida herzlich geliebt, und Terpin freut sich über die bevorstehende Verbindung der zwei.
Adrian, der Sekretär, der wegen Zinnober beinahe aus dem Bureau des Ministers verdrängt worden wäre, und Balthasar entdecken, wie ein Fräulein regelmässig den Zinnober besucht und ihm über das Haupt streicht. Zinnober‘s Scheitel erweist sich als sehr empfindlich. Vorerst ist aber seine Macht noch ungefährdet, er wird vom Fürst sogar mit dem Orden des grüngefleckten Tigers ausgezeichnet. Die Befestigung des Ordens gerät zur innenpolitischen Krise des Landes, wird aber glücklich mit Knöpfen bewältigt.
Prosper Alpanus erhält Besuch von Rosabelverde. Sie beginnt mit ihm ein Duell in Magie, das sie verliert.
Im anschliessenden friedlichen Gespräch überzeugt Alpanus Rosabelverde davon, dass der Zinnober seine Macht missbraucht und dass er trotz ihrer gütigen Hilfe ein “kleiner missgestalteter Schlingel bleibt” (vgl. S.78). Von nun an schwindet des Zinnobers Macht, denn Rosabelverde versagt ihm ihre Unterstützung. Pulcher sieht bereits Zeichen der Hoffnung, während Balthasar über Zinnobers Macht verzweifelt, mit der dieser Candida an sich fesselt. Prosper Alpanus erscheint ihm, tröstet ihn und erklärt ihm, wie er vorgehen müsse, um Zinnobers Macht zu brechen.
Dafür erhält er eine Lorgnette und dazu ein Döschen, mit dem Fabian von seiner Verzauberung erlöst wird, die ihn halb krank gemacht hat wegen deren Konsequenzen. Fabian‘s Skepsis gegenüber den Zauberkünsten von Alpanus ist deshalb verschwunden.
Candida‘s Verlobung mit dem Zinnober steht an. Balthasar, Fabian und Pulcher erreichen die Gesellschaft kurz vor der Verlobung. Mit Hilfe der Lorgnette reisst Balthasar dem Zinnober die drei magischen roten Haare aus und verbrennt sie. Zinnobers Zauber ist vernichtet, alle finden den Zinnober hässlich und fragen sich, wo der Minister hingekommen sei.
Der Zinnober muss flüchten, Candida‘s Liebe wendet sich Balthasar zu und Terpin wird krank angesichts all der Zaubereien.
Frau Liese kommt an und behauptet, der Zinnober sei ihr Sohn Klein Zaches. In einer Art Volksaufstand will man den Zinnober stürzen, aber der ist bereits unrühmlich ertrunken. Rosabelverde betrauert ihn und sichert Frau Liese ein bescheidenes Auskommen durch Zwiebeln, die sie dem Fürsten verkaufen kann. Zinnober‘s Leibarzt erklärt dem Fürsten umständlich die Todesursache.
Im letzten Kapitel meldet sich der Erzähler zu Wort, der gerne noch weiterschreiben würde.
Stattdessen schliesst er kurz und bündig: Balthasar und Candida heiraten glücklich, während Rosabelverde und Alpanus viele schöne Wunder geschehen lassen. Alpanus hat Balthasar sein Gut vermacht und bricht nun auf nach Indien, wo auch auf ihn das Glück wartet.
Romantik
Die Romantiker bilanzieren die Ergebnisse der Aufklärung und der “Grossen Transformation” als Ganze. Dabei registrieren sie die zunehmende Fremdbestimmung des Menschen, also das Schwinden der bei den Aufklärern noch optimistischen Hoffnungen, dass der Mensch künftig sein Schicksal selbst in die Hand nehmen werde, sich von den Zwängen der Natur lösen könne und eine humane Welt hervorbringen werde. Die Vernunft des Menschen ist auf eine rein instrumentelle Vernunft regrediert, d.h.
, Nützlichkeit und Rentabilität sind als einzige Kriterien verblieben. Dabei gehen jene Ansprüche des Subjekts verloren, die nicht vollends unter die Logik der instrumentellen Vernunft subsumierbar sind (z.B. Gefühle, abweichendes, experimentelles Denken und Leben).
Kritisiert wird der im Rahmen der instrumentellen Vernunft flächendeckend vorherschende Materialismus: die Natur als Rohstofflager. Auch deren Erforschung dient letztlich nur deren Ausbeutung und Unterwerfung.
Bei einer solchen Sichtweise gehen für die Romantiker die geforderte Einheit von Mensch und Natur verloren. Das Ziel der Romantiker ist die Synthese des Menschen mit der Natur zur All-Einheit. Um sie zu erreichen, muss jeder einzelne diese Einheit zuerst für und in sich selbst erfahren. Der Zugang zur All-Einheit erfolgt über mysthische Erfahrungen, die in der Introspektion, d.h. in der Auseinandersetzung mit den eigenen Träumen und Phantasien, gefunden und gefühlt werden.
Materialismus und zu naive Objektivierungen (=Distanzierungen, die in eine duale Objekt/Subjekt-Beziehung führen) entfernen den Menschen von diesem Ziel.
In E.T.A Hoffmann‘s “Klein Zaches genannt Zinnober” werden solche Argumentationen nochmals anhand eines sehr grossen Personenarsenals durchbuchstabiert, in ihren Extremen und Facetten dargestellt und dann auch kritisch hinterfragt
Interpretation
Grundlagen zur Interpretation
Das Buch ist von Hoffmann selbst mit dem Untertitel “ein Märchen” versehen worden. Zu Beginn des letzten Kapitels fühlt der Erzähler wohl, “dass darin schon so viel Wunderliches, Tolles, der nüchternen Vernunft Widerstrebendes enthalten, dass er, noch mehr dergleichen anhäufend, Gefahr laufen müsste, es mit Dir, geliebter Leser, Deine Nachsicht missbrauchend, ganz und gar zu verderben”(S.111).
Wie ernst ist dessen Inhalt zu nehmen? Der Erzähler bittet den Leser, “Du mögest mit recht heitrem unbefangenem Gemüt es Dir gefallen lassen, die seltsamen Gestaltungen zu betrachten, ja sich mit ihnen zu befreunden, die der Dichter der Eingebung des spukhaften Geistes, Phantasus geheissen, verdankt und dessen bizarrem launischem Wesen er sich vielleicht zu sehr überliess.” (S.111). Inwiefern kann also ein Text, der den bizarren Launen der Phantasie entsprungen ist, überhaupt nach den Regeln der Vernunft interpretiert werden? Hoffmann selbst sagt: “das Märchen Klein-Zaches, genannt Zinnober (…) enthält nichts weiter, als die lose, lockre Ausführung einer scherzhaften Idee”, er nennt es einen “zu augenblicklicher Belustigung ohne allen weitern Anspruch leicht hingeworfene(n) Scherz. Es sei kein Buch “für Leute, die alles gern ernst und wichtig nehmen” und nur für jemanden, “der etwa willig und bereit sein sollte, auf einige Stunden dem Ernst zu entsagen”. Auch der Erzähler will nicht mehr als uns mit seiner Geschichte gelegentlich “im Innern” lächeln zu machen; diese “Zweck”-Vorstellung des Erzählers verbietet es m.
E., eine Interpretation im Sinne des Erzählers zu beginnen, eben weil er seine Geschichte gar nicht für eine vernunftgeleitete, analytische Interpretation vorgesehen hat. Trotzdem entschuldigt sich der Erzähler für seine der “nüchternen Vernunft”(S.111) widerstrebenden Phantastereien. Grundsätzlich akzeptiert er also die Vernünftigkeit als ein Grundbedürfnis des Menschen. Dieses Motiv durchzieht das ganze Buch: Vernunft wird nie radikal abgelehnt, es werden nur gewisse Ausformungen von ihr oder die Tendenz kritisiert, nur noch Vernunftskriterien gelten zu lassen.
Daneben ist das Buch sehr wohl zugänglich für eine vernunftgeleitete, persönliche Interpretation.
Wertungen
Terpin, Philadelphus, Paphnutius, Andres, der Professor der Ästhetik
Die unter diesem Kapitel aufgeführten Personen sind im Vergleich zu unserer Welt überzeichnet, karikiert. Mit den Fürsten Paphnutius und Barsanuph, Andres, Ptolomäus Philadelphus dem Professor der Ästhetik u.a. werden Personen skizziert, die wegen ihrer Undifferenziertheit nicht geeignet sind, an ihnen die angeschnittenen Themen zu diskutieren (vgl dazu auch Kapitel “Pulcher”). E.
T.A Hoffmann formuliert an ihnen seine Ängste, und warnt, wozu es führen kann, wenn Tendenzen in die Richtung des Selbstverständnisses dieser Personen weiterverfolgt werden. Allen Personen in diesem Kapitel gemeinsam ist die Überschätzung der eigenen Macht (v.a.gegenüber der Natur) und der daraus resultierenden Naturferne. Sie alle haben dadurch das Gefühl der eigenen Verantwortung verloren, die ihnen durch ihre Qualifikation als Wissenschaftler, Gelehrter oder Politiker zukommt.
Resultat ist dann das egoistische Verfolgen eigener Interessen, die nichts mehr mit den Zielen zu tun haben, die sie in ihrer gesellschaftlichen Position zum Wohle aller verfolgen sollten.
Mosch Terpin
“Er hatte die ganze Natur in ein kleines niedliches Kompendium zusammengefasst, so dass er sie bequem nach Gefallen handhaben und daraus für jede Frage die Antwort wie aus einem Schubkasten herausziehen konnte.”(S.23) Hier kommt das Motiv “Wissen ist Macht” (F. Bacon) deutlich ins Spiel. Anders als Philadelphus beschäftigt sich Terpin mit der Natur, indem er Experimente durchführt.
Das Wissen, das er der Natur entlockt hat, findet sich in seinem Kompendium, das damit die Grundlage ist, um seine Macht der Natur gegenüber zu beweisen und zu demonstrieren. Jede einzelne naturwissenschaftliche Erkenntnis ist ein Sieg über die Natur, die für Terpin dadurch weiter abgewertet wird. Terpins Geringschätzung der Natur, die er mit Philadelphus teilt, äussert sich auch deutlich darin, dass er meint, alle Rätsel der Natur in seinem kleinen Büchlein entschlüsselt zu haben. Insgesamt also eine Unterschätzung der Vielfalt der Natur und eine Fehleinschätzung der Unvollständigkeit des eigenen Wissens (und damit, “Wissen ist Macht”, eine Fehleinschätzung der eigenen Macht) über sie. Terpin hat aber das Bedürfnis, die Herrschaftsverhältnisse zu betonen. Das Lehren und Forschen dient ihm dazu, sich ständig seine Illusion der Überlegenheit vorzumachen.
Im Vergleich zu Philadelphus‘ eher gelassener Gleichgültigkeit und Überheblichkeit der Natur gegenüber hat diese Haltung etwas Krampfhaftes, das sich auch im “Auffressen” von Geflügel (vgl. S.80) zeigt: das Auffressen als die ursprünglichste Form der Machtdemonstration gegenüber dem, der gefressen wird (hier also ein Teil der Tierwelt, der Natur).
Mit seinen Experimenten und dem Verzehr von Geflügel ist Terpin der Natur in gewissem Sinne recht stark verbunden: Er braucht sie zur Bestätigung der eigenen Stärke, sie kann ihm, wenn sie auch minderwertig ist, trotzdem nicht gleichgültig sein.
Terpins Wissenschaft ist entweder trivial (die Finsternis rührt hauptsächlich von Mangel an Licht her, vgl. S.
23) oder aber sie ist “Hokus Pokus”(S.23), d.h. Unterhaltung und damit oberflächlich und ihrer Verantwortung nicht bewusst.
Mosch Terpin steht noch für eine ganze Reihe anderer Oberflächlichkeiten:
Der Missbrauch seines wissenschaftlichen Auftrags für den Eigennutz, seine durch und durch materialistische Weltsicht: Er “erforscht (…) die Natur in der Residenz und deren Bereich. Dieser Beschäftigung halber bekommt er aus den fürstlichen Waldungen das seltenste Geflügel, die raresten Tiere, die er, um eben ihre Natur zu erforschen, braten lässt und auffrisst”; “er hat schon mehrere Dutzend Flaschen Champagner verstudiert” (S.
80)
Der im Rahmen der Romantik kritisierte Materialismus und die flächendeckende instrumentelle Vernunft (vgl. dazu Kapitel Balthasar).
Seine Fixierung auf sozialen/politischen Status: Terpins Freude über die bevorstehende Verbindung von Candida mit dem Minister Zinnober. “Durch ihn (Zinnober, B.T) erlange ich die Gunst des vortrefflichen Fürsten Barsanuph und steige nach auf der Leiter”, die Zinnober erklimmt (S.67).
(S.97)
Zu Punkt 3. ist zu sagen, dass Terpin den Zinnober als “bossu”(S. 67) (bucklig) bezeichnet, dass Zinnobers Zauber auf Terpin also z.T. nicht wirkt.
Trotzdem tut Terpin nichts gegen den offensichtlichen Missbrauch von sozialer/politischer Macht und unterstützt die herrschende Günstlingswirtschaft. Die Geringschätzung von äusserlich hässlichen Gestalten, die sich besonders bei Fabian deutlich zeigt, findet sich bei Terpin nicht als zentrale Haltung. Zinnobers Nutzen für Terpins Karriere ist ihm wichtigerals die nachteilige äussere Erscheinung.
Ptolomäus Philadelphus
Ptolomäus Philadelphus ist der Prototyp des weltabgewandten Wissenschaftlers im Elfenbeinturm, der Gelehrte in seinem Studienzimmer mit Kerzenlicht, der “nichts in der Welt so” fürchtet und scheut “als die brennenden Sonnenstrahlen des Tages”(S.19). Im Unterschied zu Terpin, aber in bemerkenswerter Nähe zu Balthasar lebt Philadelphus in seinem Studienzimmer in einer eigenen Welt, die kaum noch Berührungspunkte mit der Umwelt kennt.
Er lebt in einer Welt des Geistes, des reinen Lehrbuchwissens fern von aller praktischen Realität (z.B. in Form von gewöhnlichen Studenten). Auch für Philadelphus ist Wissen eine Macht, wie –deutlicher noch– bei Terpin, nur dass Macht in seinem Verständnis –er hält sich für einen Weisen (vgl. S. 20)– keine praktische sein muss.
Erklärungen geben Philadelphus Sicherheit und Distanz vor Tatsachen/Wunder, die seine positivistische Weltsicht gefährden könnten. Philadelphus sucht jegliches Wunder sofort mit forschendem (vgl. S.10,26) Auge zu entzaubern und kann so stets die Distanz halten, um sein Weltbild zu bewahren, das er um keinen Preis aufgeben würde. Die Trennung in Objekt und Subjekt, wie sie die Wissenschaft allgemein vornimmt, dient also auf weltanschaulicher Ebene dazu, alles, was ausserhalb des eigenen Ichs liegt, diesem gegenüber abzuwerten.
Philadelphus‘ Selbstbewusstsein gegenüber der Natur scheint so gross zu sein, dass er nur die Phänomene genauer zu untersuchen braucht, von denen er nicht annehmen kann, sie prinzipiell problemlos erklären zu können; die anderen interessieren ihn nicht.
Die Natur ist es nicht wert,eingehend studiert zu werden, und ein Bedürfnis, sich selbst regelmässig die eigene Überlegenheit ihr gegenüber zu beweisen, findet sich nicht. Sein Selbstbewusstsein scheint traurigerweise unerschütterlich. Hoffmann‘s Kommentar zu solch hoffnungslosen Fällen ist klar: “Philister!”(S.21). Bezeichnenderweise ist es Philadelphus‘ innere Stimme, die diesen Kommentar anbringt: Selbsttäuschung–dies die einzige Hoffnung– ist nie über alle Selbstzweifel erhaben.
Paphnutius und Andres
“Ehe wir mit der Aufklärung vorschreiten, d.
h. ehe wir die Wälder umhauen, den Strom schiffbar machen, Kartoffeln anbauen, die Dorfschulen verbessern, Akazien und Pappeln anpflanzen, die Jugend ihr Morgen-und Abendlied zweistimmig absingen, Chausseen anlegen und die Kuhpocken einimpfen lassen ist es nötig, alle Leute von gefährlichen Gesinnungen, die keiner Vernunft Gehör geben und das Volk durch lauter Albernheiten verführen, aus dem Staate zu verbannen.”(S.16): Dies sind Worte von Andres, denen Paphnutius be-denken-los zustimmt. Den Einfluss auf Paphnutius erhielt Andres, als er diesem einmal aus Geldsorgen half. Geld hat den Paphnutius von Andres abhängig gemacht.
Diesem ist diese Abhängigkeit aber sehr recht. Paphnutius lebt bequem in seiner Unmündigkeit, gleichzeitig befürwortet er die Einführung der “Aufklärung” enthusiastisch.
Der Erzähler prangert hier die Verkennung des ursprünglichen Ziels der Aufklärung an, des Ausgangs des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Aufklärung ist in ihrer jetztigen Form zum Materialismus verkommen, v.a. über das Mittel “Geld”.
Gleichzeitig ist Paphnutius von der eigenen Aufgeklärtheit überzeugt. Diese und seine hohe politische und soziale Stellung gibt ihm, so sein Wahn, die Macht über die Natur und Menschen. Paphnutius, wie auch Barsanuph, regiert diktatorisch und mit Polizeigewalt.
Auch Andres ist dem Wahn der Macht verfallen: Zwar ist er im Vergleich zu Paphnutius ungleich gewitzter (im Sinne der instrumentellen Vernunft), aber auch er verkennt die Beschränktheit menschlicher Macht.
Im weiteren (S.15f) wird vom Erzähler das flächendeckende Nützlichkeitsdenken, die verweigerte Meinungsfreiheit, der Egoismus des Politikers, die Veruntreuung der eigenen politischen Macht und Verantwortung, das Wertlegen auf eine Ahnengalerie (vgl.
Baron von Mondschein‘s Beharren auf einem “Stammbaum mit zweiunddreissig Ahnen”, S.12) und die Ausrichtung auf (unverdienten, d.h. im Rahmen des feudalen Ständesystems ‚ererbten‘) Ruhm und Ehre satirisch kritisiert.
Die positive Gegenfigur zu Paphnutius und Barsanuph ist Demetrius, der das goldene Zeitalter als Gegenwelt zu jener von Paphnutius vertritt (vgl. S.
14 ↔15): “Jeder wusste, dass Fürst Demetrius das Land beherrsche; niemand merkte indessen das mindeste von der Regierung, und alle waren damit gar wohl zufrieden.” (S.14). Dieses Programm entspricht dem Ziel des bürgerlich-aufgeklärten Liberalismus. Die Verbindung von altem Feudalismus mit dem Programm der Aufklärung zum aufgeklärten Absolutismus wird an Paphnutius exemplarisch aufgezeigt (genaueres dazu vgl. Kapitel Alpanus)
Vincenzo Sbiocca
Zinnober kann als Repräsentant für die Günstlingswirtschaft gesehen werden, wie sie in der Politik des aufgeklärten Absolutismus den Ton angibt.
Die Parallelen zu den politischen Verhältnissen zu Hoffmanns Zeiten in Preussen sind klar.
Vincenzo Sbiocca ist nicht für den Kampf gegen den Zinnober zu gewinnen, er flüchtet vor diesem. Bemerkenswert ist, dass er mit der Musik sich eine Tätigkeit gesucht hat, die es ihm leicht machen könnte, in die ‚höheren Sphären‘ aufzusteigen und ihm einen ähnlichen mysthischen Zugang zur Welt geben könnte, wie Balthasar ihn im Wald findet und wie auch Pulcher ihn (mit der Musik! vgl. weiter unten) entdeckt hat. Dass er ihn gefunden hat, dafür spricht, dass Balthasar Sbioccas vortreffliches, ausdrucksvolles Spiel (vgl. S.
46) mag. Aber seine Wut über die nicht erhaltene, aber verdiente Anerkennung lässt ihn vergessen, dass es–in romantischer Sicht–Wichtigeres gibt als die oftmals falsche Anerkennung der eigenen Leistung durch andere (Sbiocca ist besonders für seine Virtuosität berühmt und selbst auch stolz darauf). Sie hat Sbiocca auch schon gefährlich in die Nähe jener Unbescheidenheit geführt, die die oben behandelten Personen zeigen (vgl. S.47 “Kein Violinspieler auf der ganzen weiten Erde, Viotti selbst hätte mir nicht nachgespielt”). In dieser Haltung der Selbstbewunderung verlässt er Kerepes, um einen Ort zu finden, wo die Bewunderung wieder ihm zufällt.
Er weicht dem Übel aus, und was nicht mehr ihn selbst betrifft, das kümmert ihn nicht mehr.
Es ist wohl berechtigt, in diesem Zusammenhang eine Parallele zu Hoffmann in Preussen zu machen und zu fragen, inwiefern er sich die selbe Haltung als Künstler gegenüber den Missständen in der Politik angeeignet hat. Soll man sich aktiv wehren? Oder ist nur noch die Flucht möglich in einer Situation wie jener, in der Sbiocca ist? Das Dilemma besteht ja darin, dass– aus Sbioccas Sicht– der einzelne machtlos ist gegen ein verzaubertes Publikum und praktisch die ganze Stadt Kerepes. Emmigration wird hier als eine mögliche Reaktion dargestellt, jedoch gibt der Schluss des Märchens jenen Recht, die sich gegen das Übel stellen.
Der Professor der Ästhetik
Der Professor der Ästhetik scheint mir aus einem einzigen Grund hier erwähnenswert. Die Diskrepanz zwischen ausgeübter Tätigkeit, mit der in allen Bereichen der Wissenschaft, Politik und Wirtschaft eine Verantwortung verbunden ist, und der (Nicht-)Wahrnehmung dieser Verantwortung ist bereits genügend anhand anderer Personen dargestellt worden.
In dieser Hinsicht bietet der Professor der Ästhetik nur noch die Pointe, dass er sich wissenschaftlich genau mit dem beschäftigt, was er in ihrem Wesen, ihrer Subtilität nicht mehr wahrnimmt, nämlich die Schönheit.
Wichtiger scheint mir, dass Hoffmann mit dem Professors der Ästhetik eine Person in die Kritik miteinbezieht, die für den ganzen Zweig der Geisteswissenschaften steht– auch wenn dies nur eine Randnotiz im Märchen “Klein Zaches” ist.
Derartige Randnotizen gibt es im ganzen Buch zuhauf. Ptolomäus Philadelphus, Sbiocca, die Szene der Befestigung des Ordens des grüngeflickten Tigers oder der Verzauberung von Fabians Rock sind alles solche Nebenhandlungen, die für den weiteren Verlauf der Haupthandlung keine Bedeutung haben. Das Buch scheint eine Sammlung von Geistesblitzen Hoffmanns zu sein, die alle ihre eigene Pointe haben und in sich selbst geschlossen sind. Viele dieser ‚Geistesblitze‘ hatte Hoffmann im Frühjahr 1819, als er schwer erkrankt Fieberträume hatte.
Zusammengehalten wird das ganze nur durch die Hauptidee eines kleinen, hässlichen Wechselbalgs, dem alle Bewunderung zukommt, die Leute in seiner unmittelbaren Umgebung verdienen.
Balthasar
Balthasar, der Held des Buches, wird vom Erzähler grösstenteils unkritisch positiv dargestellt. Er ist der stärkste Gegenpol zu den im vorigen Kapitel dargestellten Personen. Balthasar kritisiert jene z.T. schon sehr genau und lebt dabei auch eine Alternative.
Wegen seiner respektvollen Haltung zu Natur und Mitmenschen ist Balthasar eine zentrale Vorbildsfigur für Romantiker. Weiter unten wird aber gezeigt werden, dass für E.T.A. Hoffmann auch die Romantik mit ihren Idealen kritisiert werden muss, wenn sie sich von ihren eigenen Utopien eine heile Welt erwartet.
Balthasar hat ein sehr empfindliches Gemüt.
Terpins sogenannte Experimente kommen Balthasar vor “wie eine abscheuliche Verhöhnung des göttlichen Wesens, dessen Atem uns in der Natur anweht und in unserm innersten Gemüt die tiefsten heiligsten Ahnungen aufregt” (S.26). Hier äussert sich diese Empfindlichkeit als Feinfühligkeit für solche “Ahnungen”, für Stimmungen in der Natur. Noch vor Pulcher hört er auch die “himmlische Musik” (S.52) von Alpanus, und auch die Sanftheit, die er dem Zinnober gegenüber zeigt (vgl. S.
28), beweist sein Einfühlungsvermögen, seine Feinfühligkeit im Gegensatz (z.B.) zu Fabian. Balthasars Empfindlichkeit ist die für jene Ansprüche des Subjekts, die nicht vollends unter die Logik der instrumentellen Vernunft subsumierbar sind (z.B. Gefühle, vgl.
Kapitel “Romantik”).
Diese Feinfühligkeit lässt Balthasar die Natur in ihrer Allmacht fühlen. Daraus entsteht eine Haltung der Bescheidenheit, d.h. der richtigen Einschätzung der eigenen (Ohn-)Macht gegenüber der Natur. Deren Verkennung wirft er Terpin vor: Er spricht vom “Wahnsinnigen, der in geckenhafter Narrheit König und Herrscher ein selbst gedrehtes Strohpüppchen liebkost, wähnend, die königliche Braut zu umhalsen!” (S.
26) Durch ihre Schönheit in der Ganzheit wie im Detail zeigt sich die Natur dem Balthasar von der positiven Seite. Daher begegnet er ihr mit Achtung, und da die Natur alles umfasst, gilt Balthasars Achtung auch dem einzelnen Menschen, den Tieren und Pflanzen.
Aus all dem ergibt sich für Balthasar eine grosse Sensibilität für die Folgen seines eigenen Tuns und Lassens, wie er sie mit seiner Kritik an Terpin beweist (dass dies nicht eine notwendige Folge aus der oben beschriebenen Feinfühligkeit, oder der Nichtverdrängung der eigenen Gefühle schlechthin, ist, zeigt die Person Vincenzo Sbiocca, vgl. weiter oben). Es ist jedoch schwierig, hier von Verantwortungsbewusstsein Balthasars zu sprechen. Sein wichtigstes, wenn nicht gar ausschliessliches Handlungsmotiv ist, Candida ‚zurückzuerobern‘.
In Analogie zu den Bürgern Dtschinnistans, die “ohne es selbst zu wissen”(S.14) gute Staatsbürger(Innen?) blieben, ist Balthasar wenn auch nicht ein verantwortungsbewusster, so doch ein verantwortungsvoll handelnder Bürger. Der ‚Prototyp‘ eines verantwortungsbewussten Menschen ist in Alpanus zu suchen (vgl. entsprechendes Kapitel).
In einem anderen Wortsinn äussert sich “Empfindlichkeit” auch in Balthasars Verletzlichkeit. Besonders empfindlich reagiert Balthasar auf Fabians leichtsinnige Bemerkungen zu seiner Liebe zu Candida.
Hier zeigt sich Balthasars Menschlichkeit in seiner Unvollkommenheit: Er empört sich darüber, dass Fabian ihn für einen Gecken hält und hört doch sehr vernehmlich seine innere Stimme, die ihm zuflüstert, dass Fabians Verspottungen, die Balthasar eigentlich ja nur in ihn hineininterpretiert, der Wahrheit entsprechen (vgl. S.30/31). Ein menschlich-widersprüchlicher Charakter, so wie wir Leser ihn lieben. Hier zeigt sich (wieder) Balthasars Feinhörigkeit zu seiner inneren Stimme, die gleiche, die ihm auch die romantischen Geheimnisse zuflüstert.
Balthasar bekommt zwar vom Erzähler kein explizites Wort an Kritik, doch dessen Entschuldigung für den Mangel an Vernunft eingangs des letzten Kapitels deutet klar darauf hin, dass Balthasar nicht durchwegs positiv zu sehen ist.
Harte, aber versteckte Kritik hagelt es in folgender Passage S.46. Balthasar: Als ich endlich (…) der holden, süssen Candida meine Liebe gestand, las ich denn nicht in ihren Blicken, fühlte ich nicht an dem Druck ihrer Hand meine (Hervorhebung B.T) Seligkeit?”. Es ist die selbe Kritik wie in E.T.
A. Hoffmanns “Sandmann” an Nathanael, dem eine Maschine wie Olimpia genügt, um dorthinein die eigene Glücklickkeit zu projizieren. Schwächer zwar als Nathanael, lebt auch Balthasar in einer Welt, die die Tendenz hat, sich von der Realität zu lösen und in den eigenen Phantasien aufzugehen. Balthasar spricht mit keinem Wort die Seligkeit von Candida an, die ihn fast ebensowenig interessiert wie Nathanael die von Olimpia. Die Frage ist berechtigt, ob er nicht trotz seiner scharfsinnigen Kritik am ‚gefühllosen Materialisten Terpin‘ (aus seiner Sicht, vgl. aber auch weiter unten) eine ebenso eingeschränkte Sicht der Welt hat wie dieser, wenn er die Welt nur noch durch die stark verfälschende Brille der eigen Phantasien und Wünsche sieht.
Die daraus folgende Unmöglichkeit, sich an den Tatsachen der Welt zu orientieren, beschehren Balthasar die Gefahr, durch die eigenen himmelhohen Glücksgefühle und abgrundtiefen Depressionen von innen her zerrissen zu werden. Er verzweifelt ziemlich schnell (vgl. Balthasars Reaktion auf Pulchers Brief S. 82: dem Pulcher gibt die Geschichte”, die Verspottung Zinnobers als Mycetes Belzebub, realistischerweise “einen Schimmer von Hoffnung”, während Balthasar “ganz in Verzweiflung darüber” ist, was ihm der Freund geschrieben hat (S.82) ), obwohl dies in der momentanen Lage noch gar nicht (oder nicht mehr) nötig wäre. Er beschimpft Alpanus ungerechtfertigterweise der Täuschung und Untätigkeit, obwohl dieser bereits begonnen hat, gegen Zinnober vorzugehen.
Pulcher
Pulcher reagiert auf seine Niederlage gegen Zinnober, indem er sich umzubringen versucht, lässt sich dann aber von Balthasars Aufforderungen zum Widerstand gegen Zinnober mitreissen. “So hat mir irgend eine höllische Macht alle Hoffnung geraubt und ich will ein Leben freiwillig opfern” (S.50) Ähnlich wie z.B. Sbiocca und Terpin ist auch Pulcher bis zu diesem Zeitpunkt auf gesellschaftliche Anerkennung fixiert. Bei seiner (ersten) Begegnung mit Alpanus scheint er einen mysthischen Zugang zur Welt gefunden zu haben (vgl.
S. 52 “in der Tat, es wehen Töne durch den Wald, die die anmutigsten, herrlichsten sind, welche ich in meinem Leben gehört und die mir tief in die Seele dringen”). Dagegen spricht, dass es für ihn nicht singende Büsche oder Blumen sind, die diese Töne erklingen lassen. Von da an bleibt also Pulcher realistischer als Balthasar (vgl. auch Kapitel Balthasar). Pulcher ist möglicherweise ein guter “Kompromiss” für eine Weltanschauung, die zwischen den Extremen Terpin und Balthasar steht.
Eine solche Personenkonstellation ist typisch für die das ganze Buch durchziehende und für Hoffmann zentrale Dialekitk: Die Suche nach ‚dem Dritten‘, dem ‚richtigen, idealen‘ Verhältnis zwischen Phantasie und Realität, geht immer weiter, und niemand (am ehesten aber noch Alpanus) hat die Wahrheit für sich gepachtet und stellt die ideale Antwort auf die zentrale Frage dar, wie der Zugang zur Welt möglich ist (durch Wissenschaft? Mysthik? oder von beidem etwas?). Das sehr grosse Personenspektrum des Buches erlaubt einen ausführlichen Diskurs über die einzelnen Positionen, die durch die verschiedenen Figuren dargestellt werden. Diesen zu führen ist nötig und zwar mit dem kritischen Blick, der die Satire des Buches (die sich v.a. gegen die Leute richtet, die die Welt des aufgeklärten Absolutismus und der Wissenschaft zu Hoffmanns Zeiten repräsentieren) durchschaut. Die Satire zu durchschauen erfordert eine sorgfältige Auseinandersetztung auch mit jenen Positionen, die von Philadelphus (Lehre), Paphnutius (Politik) und Andres (Politik, Wirtschaft) so schlecht vertreten werden.
Denn die Verwirklichung der (utopischen Träume der Romantiker ist über sehr viel schwieriger als die vereinfachende theoretische Konzeption derselben. Dies wiederum muss zu einer Relativierung des Anspruchs führen, eine bessere Welt wäre im Konzept der Romantik bereits entworfen und müsste nur noch umgesetzt werden, um das neue goldene Zeitalter einzuläuten.
Die Diskussion um den Fragenkomplex, wieviel Mystik bzw. Realismus ein Mensch verträgt und braucht, und welche Möglichkeiten der einzelne hat, gegen Missstände in der Welt (in Kerepes v.a. der überhandnehmende Realismus/Opportunismus) etwas auszurichten, wird dadurch erschwert (und damit differenziert), dass die Regeln dieser Märchenwelt nicht mit denen unserer Welt übereinstimmen und damit Lösungen für Problemstellungen im Märchen nicht eins zu eins auf unsere Welt übertragen werden können.
Balthasar z.B. formuliert die Regel: “Ist irgend ein höllischer Zauber im Spiele, so kommt es nur darauf an, ihm mit festem Sinn entgegenzutreten, der Sieg ist gewiss, wenn nur der Mut vorhanden.”(S.50/51) Der Ausgang der Geschichte gibt ihm recht und auch die Art, wie Zinnobers Zauber funktioniert. “Balthasar: Nur in Candidas Gegenwart hat der Zauber keine Macht über mich.
” (S.46) Poetische und wahrhaft liebende Gemüter widerstehen dem Zauber besser als andere, was sich auch bei Candida zeigt: wenn sie recht lebhaft an Balthasar dachte, konnte sich sich für kurze Zeit von der Verzauberung lösen (vgl. S.97). Diese Regel lässt sich grob so festhalten und sie gilt in diesem Märchen. Dass solches Verhalten auch unserer Welt “guttäte” darf allgemein angenommen werden.
Zinnobers Zauber hat durchaus auch eine reale Entsprechung bei uns, insofern Hoffmann erkennt, wie die Entmündigung des Menschen und dessen Entfremdung vor Natur und Mitmenschen mit der Reduktion der Vernunft auf eine rein instrumentelle einhergeht. Damit ist also jedem einzelnen eine persönliche Verantwortung gegeben, eine solche Entwicklung zu unterbinden. Solche Parallelen können Lösungen aufzeigen, wenn sie sich auf Massenphänomene beziehen. ‚Wenn alle so wären wie Balthasar, würde die Welt besser‘ (vgl. aber auch Hoffmanns Kritik an Balthasar!). Aber dies kann Leuten wie Balthasar nicht weiterhelfen, wenn sie in krasser Minderheit leben, während um sie herum Nützlichkeitsdenken, Machtpolitik, Egoismus/Opportunismus, Gedankenlosigkeit und oberflächlicher Kunstgenuss grassieren.
Ein einzelner für sich hat nicht die Macht, durch seine Einsichten die Welt nachhaltig zu verändern, er wird leiden müssen. Da kann dann wirklich nur noch ein Zauberer mit einem Wunder (im Sinne von Magie), der Lorgnette, helfen. Mit eher roher schriftstellerischer Gewalt erzwingt Hoffmann so zum Schluss ein Happy End, das aber sehr wohl durchblicken lässt, wie unbefriedigend es ist (vgl. weiter unten). Lösungen findet Hoffmann hier nicht und zeigt dies auch, indem er neben Balthasar eine Figur wie Sbiocca stellt, die in dieser Auswegslosigkeit durchaus auch auf eine Art handelt, die zu erwägen ist, wenn keine Wunder helfen–wie es auch bei Hoffmann und seinem politischen Umfeld nicht zu erwarten war. In unserer Welt ist also womöglich erheblich mehr Realismus/ Pessimismus angebracht, wenn Leute wie Hoffmann sich in einer ähnlichen politisch-sozialen Umfeld wiederfinden wie Balthasar.
Alpanus, Rosabelverde
Rosabelverde
Rosabelverde hat Klein Zaches aus Mitleid geholfen und ihn “mit der seltsamen geheimnisvollen Gabe” beschenkt, “vermöge der alles, was in seiner Gegenwart irgend ein anderer Vortreffliches denkt, spricht oder tut, auf seine Rechnung kommen … muss.” (S.84). Sie hat es gut mit ihm gemeint (vgl. S.106) und gehofft, “die äussere schöne Gabe (…) würde hineinstrahlen in [Zaches‘] Inneres, und eine Stimme erwecken, die [ihm] sagen müsste: du bist nicht der, für den man dich hält” (S.
106). Bei Rosabelverde zeigt sich, anders als bei Balthasar, eine überdeutliche Diskrepanz zwischen ‚gut gemeintem‘ und ‚wirklich gutem‘ Handeln. Rosabelverdes Handeln hat indirekt mehrere Leute (Pulcher, Signora Bragazzi) fast in den Tod getrieben. Auch Feen müssen die Folgen ihres Handelns berücksichtigen und sind nicht über Fragen erhaben wie: “welches Handeln ist gut?” Dazu ist die Macht von Zauberei anscheinend generell auf gewisse Gebiete beschränkt. Rosabelverdes Zauber wirkt bei Klein Zaches nur indirekt, er “leuchtet ins Innere hinein” (vgl. S.
106); Persönlichkeitsveränderungen mittels Zauberei scheinen tabu zu sein (ausser bei denjenigen, die selber eine gewisse Verantwortung tragen für ihr Verführtwerden). Diese zwei Elemente stehen Rosabelverdes Versuch entgegen, mit Hilfe ihrer Zauberkraft die Welt zu verbessern. Allgemeiner gesprochen weist Hoffmann darauf hin, dass auch der Phantasiewelt der Romantik –wenn sie sich zumindest teilweise an unserer pragmatisch-vernünftigen Welt orientiert–noch Probleme bleiben, die mit magischen Wundern allein nicht gelöst werden können.
Letztlich ist jeder Versuch, Probleme mit Wundern zu lösen, eine Illusion. Klein Zaches muss in erster Linie deshalb bemitleidet werden, weil Fabian, Terpin und die ganze Stadt Kerepes ihn für sein Aussehen verachten (nicht für seine schamlose Art, sich politische Ämter und Anerkennung zu verschaffen! Diese wird gar nicht bemerkt, wäre aber auch dann nicht zentral für die Leute der Stadt), für das er selbst nicht Schuld sein kann. Solche Unmenschlichkeiten sind das zentrale Problem, das Rosabelverde so nicht erkennt.
Das glückliche Ende des Buches, bei dem Kerepes von Zaches und dessen Zauber erlöst wird, stimmt äusserst misstrauisch: Zum einen merken die Leute nichts von ihrer einstigen Verzauberung, so dass sie sich fragen könnten, wie es überhaupt soweit kommen konnte, zum anderen wird es auch in Zukunft noch ähnliche Fälle geben, in denen wie auch bei Zaches der Unglückliche nur noch überleben kann, wenn man ihm durch Magie die Möglichkeit gibt, in einer Scheinwelt zu leben, in der ihm unverdiente (Ersatz-)Anerkennung im Überfluss zukommt.
Bei Klein Zaches stellt sich zuletzt heraus, dass Rosabelverdes Hoffnung, Zaches möge erkennen, wie wertlos diese “äussere schöne Gabe” (S.106) ist, sich nicht erfüllt. “Zinnober ist und bleibt (…) ein kleiner missgestalteter Schlingel” (S.78) sagt Alpanus, und damit verdient Klein Zaches tatsächlich keine Unterstützung durch Rosabelverde. Widerstrebend sieht Rosabelverde dies auch ein.
Eine positivere Figur, in ähnlicher Situation wie Klein Zaches, wird auch in Zukunft zu leiden haben in einem solchen Milieu, wie es hier beschrieben wird (also dem bürgerlichen). Balthasar ist eine solche Figur, die ideologisch am Rande dieser Gesellschaft lebt und denkt (z.B. die Romantik gegen die etablierte Form der ‚Aufklärung‘, das psychische Prinzip gegen das physische, vgl. Kapitel ‚Prosper Alpanus‘). Balthasar bringt sogar in die richtige Richtung gehende Kritik an.
Auch er leidet unter der Diskriminierung aller Andersartigkeit, unter der Unmöglichkeit der Verbesserung einer beängstigend engen Weltsicht einer Mehrheit (die langfristig bis in den Nationalsozialismus führen kann–ob Hoffmann das damals schon geahnt hat?)
Prosper Alpanus
Was Balthasar an politischem Bewusstsein noch abgeht, ist bei Alpanus zu finden. In diesem Zusammenhang muss nun die politische Situation in Preussen zwischen 1815 und 1819 berücksichtigt werden, in der Hoffmann das Stück “Klein Zaches genannt Zinnober” schrieb. Es war die Zeit der Restauration, in der sich der Feudalismus als aufgeklärter Absolutismus regeneriert. “In der Form des aufgeklärten Absolutismus hatte sich der feudalistische Staat besonders in Preussen die bürgerliche Emanzipationsbewegung der Aufklärung insofern zunutze gemacht, als er sich des Rationalismus, seines Reformdenkens und auch der Fähigkeiten der Aufklärer zu seiner eigenen Konsolidierung bediente. (…) Der Bürger wurde damit [mit Reformen von Seiten der Feudalherrscher, B.T.
] ‚beglückt‘, ohne gefragt zu werden, Reformen wurden ihm ‚beschert‘, wenn auch nicht unbedingt gegen seinen Willen, so doch gegen seine wahren Interessen.” Balthasar ist eine klar bürgerliche Existenz, “anständiger, vermögender Leute Kind, fromm–verständig–fleissig”(S.24), die mit diesem Hintergrund das “physische Prinzip” (S.109) des Fürsten Barsanuph, des Adels allgemein, bekämpft. Das physische Prinzip zeigt sich in der Antwort des Fürsten auf den Arzt, der erklärt, dass er beim Menschen “immer bei der Denkkraft, bei dem Geist” (S.109) anzusetzen habe: “Hoho Leibarzt, lassen Sie das gut sein! – Kurieren Sie meinen Leib, und lassen Sie meinen Geist ungeschoren, von dem habe ich noch niemals Inkommoditäten verspürt”(S.
109)
Dem entgegen steht das psychische, geistig-bürgerliche Prinzip in Form der Aufklärung. Paphnutius erkennt die von ihm ausgehende Gefahr: “Sie [die Feen, B.T] treiben ein gefährliches Gewerbe mit dem Wunderbaren und scheuen sich nicht, unter dem Namen Poesie, ein heimliches Gift zu verbreiten, das die Leute ganz unfähig macht zum Dienste in der Aufklärung.”(S.16)
Der bürgerlich-liberale Widerstand gegen den Feudalismus droht aber zu versanden, weil eben Leute wie z.B.
Terpin sich ebenfalls dem physischen Prinzip unterordnen. Alpanus repräsentiert nun eine ihre Verantwortung wahrnehmende Alternative, die im Gegensatz zur bürgerlichen Welt steht, wie sie weiter oben dargestellt wurde und real auch im Preussischen Bürgertum gelebt wurde.
Alpanus steht ebenfalls in Absetzung zu Balthasar, indem er seine politische Verantwortung auch bewusst wahrnimmt. Dazu gehört, dass Alpanus sich gegen aussen an das Regime des Paphnutius (und später des Barsanuph) anpasst, den Widerstand aber aufrechterhält: “es gelang mir (…) mein eignes Ich ganz zu verhüllen, indem ich mich mühte, Aufklärungssachen betreffend, ganz besondere Kenntnisse zu beweisen in allerlei Schriften, die ich verbreitete. (…) Fürst Paphnutius erhob mich damals zum Geheimen Oberaufklärungs-Präsidenten, eine Stelle, die ich mit meiner Hülle wie eine lästige Bürde abwarf, als der Sturm vorüber.” (S.
77/78).
“Insgeheim war ich nützlich wie ich konnte. Das heisst, was wir (…) wahrhaft nützlich nennen.” (S.78) Bezeichnenderweise kommt an dieser zentralen Stelle S.78 das Wort “nützlich” in einer Bedeutung vor, die mit der engen Bedeutung der instrumentellen Nützlichkeit, wie es sonst häufig im Buch verwendet wird, kontrastiert.
Und wenig später sagt Rosabelverde: “Doktor, was sagen Sie! – welche Aufklärungen!” Aufklärung im Plural, also nicht nur als ein politisches Programm/Projekt verstanden, das durchzusetzen ist, sondern als Vorstufe zu wahrer Erkenntnis des Guten.
“Die bürgerlich-freie, wahrhaft humane Existenzform” ist eine utopische. “Keineswegs zufällig erscheinen somit ihre Hauptvertreter als freiheitsliebende Feengestalten, deren eigentliche Heimat Dschinnistan ist, ein zwar nicht existierendes, aber besseres Staatswesen. Die nichtentfremdete Existenz wird zur unmöglichen, zur utopischen Märchenwirklichkeit, die allein als Poesie realisierbar ist” Der Schluss des Buches ist, wie im Kapitel “Rosabelverde” dargestellt, politisch (aus aufklärerisch-bürgerlicher Sicht) unbefriedigend, und Balthasar findet sein Glück nur im häuslichen, familiären Bereich und im Rückzug in seine Phantasiewelt, für die auch die Poesie steht. Jedoch ist klar, dass Poesie, sobald sie gelesen wird, immer auch politisch ist.
Mosch Terpin
Die Art, wie Terpin bisher dargestellt wurde, gilt nur für den ‚frühen‘ Terpin.
Es zeigt sich, dass es Terpin trotz seiner Verkrampfung nicht gelingt, an seiner Illusion der Stärke und Überlegenheit gegenüber der Natur festzuhalten. Diese ‚Schwäche‘ macht ihn teilweise sympathisch, denn es besteht ‚noch Hoffnung‘ für ihn: “Dem Professor ging der Gedanke auf, es sei wohl mit seinem Naturforschen ganz und gar nichts, und er sässe in einer herrlichen bunten Zauberwelt, wie in einem Ei eingeschlossen.” (S.113) Terpin meinte ganz zum Schluss halb berauscht, “hinter allem (dem Zauber Alpanus‘, B.T) stecke niemand anders, als der Teufelskerl, der Operndekorateur und Feuerwerker des Fürsten”(S.114).
Damit behält sich Terpin einige vernünftige Einwände gegen eine Welt vor, die in ihrer Zauberhaftigkeit dem Leser viel zumutet (vgl. Kapitel “Grundlagen zur Interpretation”: die Entschuldigungen des Erzählers für seine unvernünftige Geschichte). Auch wenn Terpins Haltung am Schluss des Buches nicht eindeutig ist, so geht er m.E. den richtigen Weg, wenn er sein grundsätzliches Vertrauen in die Vernunft erst aufgeben will, wenn alle vernünftigen Erklärungsversuche wie der oben zitierte gescheitert sind. Seine kritische Grundhaltung darf er ruhig bei den Wissenschaften entlehnen, nur: Nüchternheit wäre eine nötige Voraussetzung.
Ansonsten wäre mir auch sein Geniessertum sympathisch, wenn es nicht so stark an Quantitäten (an Wein, Geflügel, etc.) ausgerichtet wäre. Es stellt doch immerhin eine gewisse Erweiterung dar zu der trocken-theoretischen Weltsicht eines Philadelphus und hätte doch wie für andere die Musik das Potenzial, dem Terpin den mysthischen Zugang zur Welt zu öffnen. Die Chance besteht für Terpin, im Gegensatz zu Philadelphus.
Biographie
Ernst Theodor Wilhelm Hoffmann, geboren am 24. Januar 1776 in Königsberg, verlebte keine sehr glückliche Jugend.
Seine Mutter überliess die Erziehung ihres Sohnes ihrem Bruder. Die Athmosphäre in dessen Haus war gekennzeichnet von pietistischer Frömmigkeit, Nützlichkeitsdenken und einer engstirnigen Moral. Bis zum Eintritt in die Schule wurde Hoffmann in klösterlicher Abgeschiedenheit erzogen.
Seine Geburtsstadt verliess er vermutlich wegen einer unglücklichen Liebesgeschichte (1796). Er reiste nach Berlin, wo er in die Gerichtspraxis eingeführt wurde. Hier lernte er seine zukünftige Frau kennen.
Seine von ihr erhaltene Tochter Cäcilia starb früh. Nach seinem Examen wurde er, wie viele junge Juristen, nach Polen gesandt. 1804 siedelte Hoffmann nach Warschau über, wo er bis 1807 blieb. 1806 zogen die Franzosen in Warschau ein; Preussen wurde zum Feind erklärt, und die meisten preussischen Beamten, mit ihnen Regierungsrat Hoffmann, ihres Dienstes enthoben.
Hoffmann kehrte bald nach Berlin zurück, wo er nach einem Jahr voller Hunger und Not eine Stelle am Theater in Bamberg fand. Sein dichterisches Schaffen nahm hier seinen gültigen Anfang.
Hoffmann erlebte hier seine zweite grosse (heimliche) Liebe, die ebenfalls unglücklich endete.
Das Jahr 1814 brachte neue Not, nachdem Hoffmann 1813 mangels Broterwerb Bamberg verlassen hatte. Hoffmann erkrankte schwer, schrieb aber trotzdem an seinem dichterischen Werk intensiv weiter. Im September 1814 sah sich Hoffmann dann gezwungen, in den Staatsdienst zurückzukehren. Er erhielt eine Anstellung am Kammergericht in Berlin. Als ab Ende 1819 die restaurativen Kräfte in Preussen die durch die französische Revolution geschaffenen Errungenschaften und Veränderungen zu liquidieren begannen, zeigte er eindrucksvoll Zivilcourage bei seiner Arbeit im Interesse der Unterdrückten, was eine Verleumdungskampagne gegen ihn nach sich zog.
Hoffmann starb am 25. Juni 1822 an einer Krankheit.
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