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  Expressionismus (1910-1925)

10. Kapitel ExpressionismusExpressionismus (1910-1925) Begriff lat. expressio = Ausdruck. Zunächst als Ausdruckskunst Bezeichnung für europäische bildende Kunst zu Anfang des Jahrhunderts, z. B. die Malerei von Paul Cézanne, Henri Matisse, Vincent van Gogh; seit 1911 auch für die Literatur (1910-1925); häufig identisch mit "Moderne".

Einzige noch ungefähr abgrenzbare literarische Epoche des 20. Jahrhunderts. Historischer Hintergrund Die Generation der zwischen 1875 und 1895 geborenen Schriftsteller, Maler und Bildhauer ist geprägt durch das Kaiserreich seit 1871: den Ersten Weltkrieg, die Großstadterfahrung, die Regierungszeit Wilhelms II. (1888-1918): zunächst „Bürgerkaiser", dann nur Nationalist. Vorrang des Militärischen (Carl Zuckmayer, "Der Hauptmann von Köpenick": "Der Mensch fängt erst beim Leutnant an"). ln den Gründerjahren nach 1871 entsteht ein neureiches, selbstzufriedenes Bürgertum.

Der Konflikt mit den Vätern der Gründerzeitgeneration ist beherrschendes Motiv expressionistischer Literatur, z. B. Franz Kafka: "Das Urteil". Die jungen Künstler lehnen Naturalismus, Militarismus und Kapitalismus ab und fordern Kosmopolitismus, Pazifismus, Sozialismus. Die Erfahrung der Großstadt (Folgen der Industrialisierung, Ballung sozialer Probleme, Isolation, Alkohol, Drogen) wird gestaltet in Großstadtromanen (z.B.

Alfred Döblin: "Berlin Alexanderplatz"). Vorstellung vom "Sumpf der Stadt", "Sodom und Gomorrha, Gott Baal" (Georg Heym, Bertolt Brecht): Entlarvung einer faszinierenden inneren Zerstörung. Erfahrung des Krieges als "Vision des Grauens" (sinnloser Tod junger Kriegsfreiwilliger bei Langemarck, 1914; Verdun, 1916: 500000 Tote; Giftgas, Tanks), Hilflosigkeit z. B. der Ärzte und Sanitäter (Gottfried Benn, Georg Trakl); Versagen aller bisherigen Wertvorstellungen (Gedichtanthologie "Menschheitsdämmerung", hrsg. von Kurt Pinthus, 1920).

Hoffen auf einen neuen Anfang auch in der Politik. 1871-1918 Deutsches Kaiserreich (seit 1888 Wilhelm lI.)     1914-1918 Erster Weltkrieg (ca. 10 Millionen Tote) 1918-1938 Erste Republik Österreich, zuletzt autoritär regiert 1917 Oktoberrevolution in Rußland     Geistesgeschichtlicher Hintergrund Sozialrevolutionäre Vorstellung von Kommunismus und Sozialismus. Aus der Erfahrung einer unmenschlich gewordenen Zivilisation, Ablehnung des positivistischen Weltbildes. Darwinismus (Charles Darwin, 1809-1882, Naturwissenschaftler: Kampf ums Dasein.

Der Stärkere siegt). Erkenntnis: Der Mensch ist determiniert, nicht mehr "Ebenbild Gottes" -> Verlust eines ganzheitlichen Menschenbildes. Kulturpessimismus, Antimoralismus (Friedrich Nietzsche, 1844-1900), Philosoph und Schriftsteller: "Also sprach Zarathustra": "Gott ist tot"; "Wir brauchen einen neuen Menschen") -> Verlust religiöser Bindung und übergeordneter Sinngebung des Lebens, Umwertung der Werte (-> Kafka, Th. Mann). Psychoanalyse (Sigmund Freud, 1856-1939, Nervenarzt): Seelenkunde, Entdeckung des Unbewußten, Traumdeutung, Lehre von Ich, Es und Über-Ich -> Verlust der Identität. Tendenzen und Merkmale Erschrecken über das Versagen bisheriger Normen führt zur Ablehnung von Tradition und Denkweisen, die auf Logik und Erklärbarkeit beruhen.

Aufbruch im politischen und im philosophisch-ästhetischen Bereich. Gegen Naturalismus und Impressionismus: statt Vorstellung der äußeren Erscheinung Ausdruck inneren Erlebens. Das "Wesen" der Dinge wird wichtig; der Dichter als Künder innerlich geschauter Wahrheit soll bilden, nicht abbilden. Die expressionistische Sprache wird extrem subjektiv, ist gekennzeichnet durch Pathos und Ekstase: "Befreiung" des Wortes aus tradierten Zwängen und grammatischen Normen, fetzenartige Reihung, Montagen, groteske Verkürzungen; visionäre Bilder, weit hergeholte Metaphern, Farbsymbolik, Laut- und Klanggedichte (-> Dadaismus, Bruitismus): geballte Kraft der Aussage, verwirklicht u. a. in Lyrik und Dramatik; neue Ausdrucksmöglichkeiten auch in überkommenen Formen (Sonette Georg Trakls).

Programmatische Zeitschriften Der Sturm (seit 1910), Die Aktion (seit 1911), Die Weltbühne, Fortsetzung der Schaubühne (seit 1918). Autoren und Werke Ernst Barlach (1810-1938), Dramatiker, Bildhauer, Graphiker: Drama "Der blaue Boll" (1926). Gottfried Benn (1886-1956), in beiden Weltkriegen Militärarzt: Gedicht-Zyklen, Prosa, u. a. Gehirne, "Die Eroberung" (1915). Georg Kaiser (1878-1945): "Die Bürger von Calais" (1914), "Die Koralle" (1917), "Gas I", "Gas II" (1918/19): "Denkspiele".


Else Lasker-Schüler (1869-1945): Gedichtzyklen, Schauspiel "Die Wupper" (1909). Heinrich Mann (1871-1950): "Professor Unrat" (1905), Trilogie: "Das Kaiserreich" (1918-1925), darin "Der Untertan" (1918). Georg Trakl (1887-1914), Tod nach einem Selbstmordversuch, vermutlich des Kriegserlebnisses als Sanitäter wegen; Gedichte (1913). August Stramm; (1874-1915), in Rußland gefallen; Gedichte (1915). Franz Werfel (1890-1945), Beziehungen zu Kafka und Max Brod; vor allem Gedichte und Romane ("Der Abituriententag", 1928) Frank Wedekind: „Frühlings Erwachen“ (1891), „Lulu“ (1913). Carl Sternheim (1878-1942).

Demaskierung des „bürgerlichen Helden“ ist Ziel seiner satirischen Komödien: „Die Hose“, „Tabula rasa“, u.a. Textbeispiel August Stramm Patrouille (1915/16) Die Steine feinden Fenster grinst Verrat Äste würgen Berge Sträucher blättern raschlig Gellen Tod. Dadaismus (1916-1924) Ist eine literarisch-künstlerische revolutionäre Bewegung, die sowohl eine Überspitzung als auch eine Verhöhnung der expressionistischen Tendenzen darstellt. Das Wort ist abgeleitet von einem Stammellaut der Kleinkindersprache (dada). Neben Gedichten mit erkennbarem Sinn finden sich reine Lautgedichte ohne inhaltlichen Zusammenhang.

Die Dadaisten wollten der Sinnlosigkeit der bürgerlichen Ordnung mit einer völlig freien Kunst begegnen und so das Absurde des Zeitalters aufdecken. Das Zerbrechen der grammatischen Strukturen, das Verändern der Wörter als Ausdruck einer aus den Fugen geratenen Zeit findet man allerdings nicht erst im Dadaismus, sondern schon im Expressionismus. Gegründet wird die Dada-Bewegung im „Cabaret Voltaire“ in der Schweiz vom rumänischen Dichter Tristan Tzara , von den deutschen Dichtern Hugo Ball (1886-1927) und Richard Hülsenbeck (1892-1974) sowie vom elsässischen Maler und Bildhauer Hans Arp u.a. Zentren des Dadaismus werden Zürich., New York, Köln, Hannover, Berlin und Paris.

Autoren und Werke Raoul Hausmann: (1886-1971), Mitbegründer des „Club Dada“ in Berlin, Herausgeber der Zeitschrift „Der Dada“. Wiener. Hans Arp: Hugo Ball: (1886-1927) Kurt Schwitters: (1887-1948), in Rußland gefallen; Gedichte (1915). Surrealismus (ab 1917) Heißt „Überwirklichkeitskunst“ (franz. sur = über) und wird vom französischen Dichter und Maler Guillaume Apollinaire (1880-1918) 1917 im Programmheft zu Erik Saties Ballett „Parade“ geprägt und 1918 als Untertitel zu einem Drama verwendet. Das Einfach-Reale und die herkömmliche Vorstellungswelt sollen überwunden werden.

Das geschieht durch Gestaltung von Halluzinatorisch-Visionärem und durch die Verbindung von Wirklichem mit Traumhaftem. Im Gegensatz zu den Dadaisten lehnen sie den künstlerischen Nihlismus ab und streben nach einer intensiveren Realität. Der Surrealismus wurde vor allem in der Malerei bedeutend: die Franzosen Pierre Roy und Felix Labisse, die Belgier James Ensor, René Magritte, Paul Delvaux, der nach Paris emigrierte Russe Marc Chagall, die Engländer R. Gmett und R. Searle, der Spanier Salvador Dalí und der Deutsche Max Ernst. In der deutschsprachigen Literatur gibt es keine nachhaltige surrealistische Tradition, denn hier beginnen erst nach 1945 ausländische Einflüsse einzudringen.

Surrealistische Züge zeigen einzelne Werke folgender Dichter: Franz Kafka (1883-1924) , entscheidender Einfluß bis in die Gegenwart: Erzählungen, u. a. "Das Urteil" (1912), Die Verwandlung (1915), "In der Strafkolonie" (1919); Romane:Der Prozeß;, "Das Schloß", "Amerika" (postum hrsg. von Max Brod). Hermann Kasack (1896-1966): Roman „Die Stadt hinter dem Strom“.

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