I
            
I. Akt:
      Fausts Genesung und Eintritt in die höfische Welt 
 
      In der ersten Szene 'Anmutige Gegend' wird die Verbindung zwischen dem ersten
      und dem zweiten Teil des Dramas hergestellt. Der Luftgeist Ariel spricht in seinem
      Gesang von dem "grimmigen Strauß des Herzens", von den "bittren Pfeilen des
      Vorwurfs" und "von erlebtem Graus". Damit kann nur Fausts Erlebnis in Gretchens
      Kerker gemeint sein, der innere Konflikt zwischen seiner Liebe und seinem
      egoistischen Lebenshunger, die Gewissensunruhe über seinen Verrat an der
      Geliebten.  
      Es ist der Faust des ersten Teils, der hier ermüdet auf dem Rasen liegt. Doch soll er
      seine Schuld nicht aufarbeiten, er soll vielmehr vergessen.
 Denn der Dichter hat
      noch viel vor mit ihm.  
      Der heilende Schlaf, der ihm mit Hilfe der Elfen Vergessen, Genesung und Stärkung
      bringen soll, wird durch vier Chorstrophen symbolisiert, welche den vier
      Nachtwachen entsprechen: 
 
       – Abenddämmerung (4634–4641) 
       – Nacht (4642–4649) 
       – Morgendämmerung (4650–4657) 
       – Sonnenaufgang (4658–4665) 
 
      Wie der 'Prolog im Himmel' mit Raphaels Hymnus an die Sonne begann, so steht
      hier Ariels Preis der Geburt des neuen Tages (4678) am Anfang. Wieder wird also
      ein kosmischer Rahmen ausgespannt, bevor sich Faust in einem längeren Monolog
      äußert.  
 
      Damit ist der Monolog "des Lebens Pulse schlagen frisch lebendig" (4679) deutlich
      mit dem Monolog der Nachtszene "Habe nun, ach! Philosophie ...
" (354) in
      Beziehung gesetzt.  
      Es ist ein geläuterter Faust, der jetzt neue Kräfte in sich fühlt, "zum höchsten Dasein
      immerfort zu streben" (4685). Damit ist auch das Stichwort, unter dem die
      Faustgestalt im 'Prolog' eingeführt wurde ("Es irrt der Mensch, solang' er strebt ..."
      317) und das auch der Wette mit Mephisto ihren Akzent gab ("Das Streben meiner
      ganzen Kraft .
.." 1742), wieder aufgenommen. 
      Es ist nicht mehr der Faust mit dem maßlosen Erkenntnisstreben und dem Anspruch,
      ein "Ebenbild der Gottheit" (517, 614) zu sein, der hier die Schönheit des
      Tagesanbruchs wie "ein Paradies" (4694) erlebt. Im Unterschied zu seinen früheren,
      mit Allmachtsphantasien verbundenen Naturerlebnissen ("gabst mir die herrliche
      Natur zum Königreich" 3220) zeigt er sich jetzt fähig, einen Natureindruck in allen
      Einzelheiten zu empfangen und seine Lehre daraus zu ziehen.  
      Was diese Lehre besagt, erfährt der Leser, wenn er Fausts Blick folgt: Zunächst
      schaut er ins Tal, wo das Dunkel weicht und die Farben freigibt (4686–4694).
 Dann
      hebt er das Auge zu den Gipfeln, muss sich jedoch – von der Sonne geblendet –
      wegkehren (4695–4703). Der Blick wendet sich nun wieder der Erde zu, da er nicht
      fähig ist, das "Flammenübermaß" zu ertragen (4704–4714). Schließlich lässt der
      Schauende die Sonne im Rücken und betrachtet den Wasserfall, auf dem ihr Licht
      alle Farben hervorbringt (4715–4724).  
 
      Es wird ihm klar, dass er sich mit seinem Erkenntnisdrang an den Regenbogen statt
      an die Sonne halten muss, die ihn hervorbringt: 
 
       "Der spiegelt ab das menschliche Bestreben. 
       Ihm sinne nach, und du begreifst genauer: 
       Am farbigen Abglanz haben wir das Leben" (4725–4727). 
 
      Der menschliche Geist ist nicht gemacht, das Göttliche unmittelbar zu erkennen.
      Aber er vermag es an seinem "Abglanz" zu erfassen, das Wirkliche als etwas zu
      sehen, das auf Göttliches hindeutet. Die Schlussverse nehmen das Motiv wieder auf: 
 
       "Alles Vergängliche 
       Ist nur ein Gleichnis" (12104/05). 
 
      Mit dieser Eingangsszene ist der Leser auf die bunte Bilderfolge eingestimmt,
      welche ihm im zweiten Teil die verschiedenen Lebensbereiche, Geschichtsepochen,
      Sagengestalten und Kunstformen vorführen wird, welche die abendländische Kultur
      ausmachen. 
 
      Mit der nächsten Szene 'Kaiserliche Pfalz – Saal des Thrones' beginnt der zweite
      Teil von Mephistos Reiseprogramm: 
 
       "Wir sehn die kleine, dann die große Welt" (2052). 
 
      Er führt Faust sogleich an die Spitze der gesellschaftlichen Hierarchie des
      Mittelalters, an den kaiserlichen Hof, den Inbegriff der 'großen Welt'.  
      Wie üblich macht Mephisto die Gelegenheit.
 
 Er begibt sich zunächst in der Rolle des
      Hofnarren in das Zentrum der weltlichen Macht.  
      Das Reich befindet sich jedoch in Auflösung. Der Kaiser hat kein Geld. Es
      herrschen Habsucht, Korruption und Gewalt im Land.  
      Mephisto verspricht Abhilfe, wobei er auch Fausts Kommen ankündigt. Er weist auf
      Schätze hin, die überall im Boden liegen, des Kaisers Eigentum.
 Aber der Kaiser
      möchte erst Karneval feiern. 
      Dieses Fest wird in der dritten Szene 'Weitläufiger Saal mit Nebengemächern'
      vorgeführt. Es findet in der Form statt, dass die Mitglieder der mittelalterlichen
      Lehnsordnung in antiken Gewändern die Lebensformen der neuzeitlichen
      Gesellschaft darstellen, die auf dem bürgerlichen Erwerbssinn beruht, sich durch
      rege wirtschaftliche Tätigkeit auszeichnet und privaten Reichtum hervorbringt.  
      Dieser wird durch Faust in der Maske des Plutus verkörpert, während Mephisto
      wieder das Gegenprinzip zur Geltung bringt, den Geiz (5665), der nur horten, nicht
      aber investieren will.  
      Der Kaiser in der Maske des "großen Pan" (5920) lässt sich dazu verleiten, der
      Schatzkiste zu nahe zu kommen, und beugt sich so tief über das glühende Gold, dass
      sein Bart Feuer fängt und ihn auf diese Weise demaskiert – als einen, der "nie
      vernünftig" wird (5960). 
 
      Am nächsten Morgen im 'Lustgarten' wünscht sich der Kaiser von Faust und
      Mephisto noch mehr "dergleichen Scherze" (5988).
 Er kommt sich vor wie in
      "Tausend Einer Nacht" und vergleicht den Zauberer Mephisto mit "Scheherazaden"
      (6033).  
      Die Großen des Reichs melden ihm, dass dank des von Mephisto ausgegebenen
      Papiergeldes all ihre Probleme gelöst seien und im ganzen Lande wirtschaftliche
      Prosperität und Konsumrausch zu beobachten sei.  
 
      Die Szene 'Finstere Galerie' zeigt Faust und Mephisto allein im Gespräch. Der
      Kaiser möchte amüsiert werden und "will Helena und Paris vor sich sehn" (6184).  
      Doch über "das Heidenvolk" (6209) hat Mephisto keine Gewalt. Deshalb muss Faust
      hinab (oder hinauf? 6275) zu den "Müttern" ins Reich des "längst nicht mehr
      Vorhandnen" (6278), um von dort den "Dreifuß" zu holen, das heilige Gerät Apolls,
      des Gottes der Dichtung.
 Der wird nämlich gebraucht, um jene Gestalten aus
      Homers Epos erscheinen zu lassen. 
 
      Während Faust unterwegs ist, wird Mephisto in der Szene 'Hellerleuchtete Säle'
      von Hofdamen als Wunderarzt und Berater in Liebesdingen in Anspruch
      genommen.  
      Die Sorgen, welche hier die Spitzen der Gesellschaft beschäftigen, sind von der
      gleichen Banalität, wie sie die 'kleinen Leute' in der Szene 'Vor dem Tor' zeigen. Wie
      werden sie auf das in Paris und Helena Gestalt gewordene antike Schönheitsideal
      reagieren? 
 
      In der letzten Szene des I. Aktes sind Kaiser und Hofstaat bei "dämmernder
      Beleuchtung" im 'Rittersaal' versammelt. Der Astrolog kündigt das magische Spiel
      an; Mephisto sitzt im Souffleurkasten; Faust taucht großartig (vor 6427) mit dem
      Dreifuß auf.
 Paris und Helena erscheinen und führen ein pantomimisches
      Schäferspiel auf.  
      Während die Damen Paris bewundern und an Helena herumnörgeln, machen es die
      Herren umgekehrt. Faust ist mit seiner Begeisterung (6487 ff.) allein.  
      Als er nach den fiktiven Gestalten greift, um sie im wirklichen Leben festzuhalten,
      gibt es eine Explosion, die ihn zu Boden wirft..
 Der Akt endet in Finsternis und
      Tumult.
 
 
 
 
 
 
 
 
II. Akt: 
      Fausts Gang zu Helena und das Fest des Werdens der Natur am Ägäischen Meer
      
 
      Ein 'Hochgewölbtes enges gotisches Zimmer' ist der Schauplatz der ersten
      Szene dieses Aktes: Nachdem Fausts Versuch, das antike Schönheitsideal
      handgreiflich festzuhalten, gescheitert ist, hat Mephisto ihn in sein altes
      Studierzimmer zurückgebracht.  
      Dort scheint alles unverändert zu sein; doch ist inzwischen viel Zeit vergangen, das
      Blut in der Feder, mit der er den Teufelspakt unterschrieben hatte (1737), längst
      eingetrocknet (6576), Fausts alter Pelz voller Ungeziefer.  
      Während Faust bewusstlos, von "Helena paralysiert" (568), daliegt, schlüpft Mephisto
      in den Pelz, um den "Prinzipal" (6617) zu spielen, und läutet nach dem Famulus. Ein
      bejahrter Student erscheint und berichtet von Fausts "unbegreifliche(m)
      Verschwinden" (6660) und von Dr.
 Wagners Aufstieg "in der gelehrten Welt"
      (6644).  
      Während der Famulus Mephisto bei Dr. Wagner anmeldet, empfängt Mephisto den
      Schüler, den er im ersten Teil des Dramas so ausführlich belehrt hatte (1868–2050)
      und der inzwischen zum Baccalaureus promoviert wurde.  
      Dieser zeigt nun, was er aus den Lehren seines Meisters gemacht hat. Er trägt den
      "Schwedenkopf" (6734), die kurze Haarmode der Befreiungskriegsgeneration, und
      verkündet die philosophischen Thesen des deutschen Idealismus: 
       – "Erfahrungswesen! Schaum und Dust! Und mit dem Geist nicht ebenbürtig ..
."
      (6758/59) 
       – "Wenn ich nicht will, so darf kein Teufel sein" (6791). 
       – "Die Welt, sie war nicht, eh' ich sie erschuf" (6794). 
      Je mehr der Baccalaureus dabei die Jugend preist und keinem über dreißig trauen
      will (6787 ff.), desto stärker kehrt Mephisto das Alter hervor und fordert die Jungen
      auf, alt zu werden, um den Teufel zu verstehen. 
 
      Im 'Laboratorium' trifft Mephisto gerade zu der Sternstunde ein, als Dr.
 Wagner
      auf experimentellem Wege in einer Glasflasche den künstlichen Menschen
      'Homunculus' erzeugt hat. #5.1.2.2.#  
      Dieser beginnt zu sprechen, nennt Dr.
 Wagner "Väterchen" und Mephisto "Herr
      Vetter" und beweist die ihm eigentümliche "Gabe" (6901) damit, dass er in das
      Innere des schlafenden Faust sieht und dessen Traumbilder beschreibt, "die
      lieblichste von allen Szenen" (6920), in welcher der zum Schwan verwandelte
      Göttervater Zeus mit Leda die schöne Helena zeugt.  
      Da Mephisto aus dem Norden kommt und nur "romantische Gespenster" kennt
      (6946), ist Homunculus nötig, um Faust "zu seinem Elemente" zu bringen (6943). Er
      übernimmt deshalb die Führung "zum Peneios frisch hinab" (7001) in die klassische
      Walpurgisnacht.  
      Dr. Wagner muss zu Hause bleiben, weil sein Teil in der gelehrten Sammlungs- und
      Ordnungsarbeit besteht, während nur der freie, noch nicht an Körper gebundene
      Geist – durch Homunculus symbolisiert – den Weg in die Antike weisen kann. 
 
      Die den Rest des zweiten Aktes füllende 'Klassische Walpurgisnacht' ist in fünf
      Szenen gegliedert.
 Die erste Szene 'Pharsalische Felder' hat Einleitungsfunktion.  
      In ihr tritt die aus dem römischen Bürgerkriegsepos bekannte thessalische Hexe
      Erichtho auf und erinnert an die reale historische Antike, indem sie auf die
      Wiederkehr des 9. August verweist, an dem im Jahr 48 v. Chr. Caesar seinen
      Gegner Pompejus bei Pharsalus in Thessalien schlug. #5.
2.1.2.2.#  
      Doch kündigt sie auch die mythologische Antike an, "hellenischer Sage Legion"
      (7028), die sich in der gleichen Nacht versammeln soll.  
      Als sich die drei Luftfahrer nähern, um in das "Fabelreich" (7055) des griechischen
      Mythos hinabzutauchen, entfernt sich Erichtho, weil es nicht ihre Sache ist,
      "Lebendigem zu nahen" (7037).
 #5.2.1.2.4.#  
      Faust erwacht und fragt sogleich nach Helena.
 Mephisto schlägt vor, jeder solle "sich
      sein eigen Abenteuer" suchen (7065). Damit ist die Leseanweisung erteilt, in den
      folgenden Szenen die Wege Mephistos, Fausts und des Homunculus zu
      unterscheiden. 
 
      Die Szene 'Am oberen Peneios' ist vor allem Mephistos Weg gewidmet.  
      Mephisto begegnet mischgestalteten Ungeheuern aus der vorheroischen Zeit des
      Mythos, Greifen (Löwenadlern), Sirenen (Vogeljungfrauen) u. a. , die noch nicht zu
      Helenas Tagen "hinaufreichen" (7197).
  
      Wie Faust bei ihrer ersten Begegnung (1327), so fragt auch die Sphinx Mephisto
      nach seinem Namen (7116) und Wesen. Sie gibt dem Befragten sich selbst als
      Rätsel auf (7134–7137), indem man die Wesensbestimmung wiedererkennt, die der
      Herr im Prolog von Mephisto gegeben hat (338 ff.).  
      Die Fabelwesen akzeptieren jedoch Mephisto nicht als einen der Ihren.  
      Faust, der herantritt und nach Helena fragt, leiten die Fabelwesen zu Chiron, dem
      weisen Kentauren, weiter.  
      Mephisto entfernt sich von ihnen, weil er den Lamien, "lustfeine(n) Dirnen" (7235),
      nachstellen will.
 
 
      Die Szene 'Am unteren Peneios' dient der Darstellung von Fausts weiterem Weg. 
 
      Was er in seinem gotischen Zimmer geträumt hatte (6903–6920), sieht er nun
      leibhaftig vor sich, die badenden Frauen, unter ihnen die Königin Leda, den
      heransegelnden Schwan.  
      Als Chiron herantrabt, setzt er seine Reise auf dessen Rücken fort, auf dem einst
      auch Helena gesessen hatte (7405), der sein "einziges Begehren" gilt (7412). Chiron
      wirft ihm aber vor, dass er sich noch immer wie ein "Philologe" benähme (7426), und
      belehrt ihn darüber, was es mit dem Wesen Helenas als einer "mythologischen Frau"
      (7428) auf sich habe, die eine Schöpfung des Dichters sei, den keine Zeit binde
      (7433). Faust ist also, wenn er Helena, "die einzigste Gestalt", "ins Leben ziehn"
      (7439) will, als Künstler gefordert.  
      Deshalb bringt Chiron ihn zu der Seherin Manto, die einst auch den Sänger Orpheus
      in den Hades geleitet hat.
 Damit ist Faust am Ziel seines Weges angelangt und
      verschwindet bis zur Mitte des dritten Aktes (9182) aus der Handlung. 
 
      Die nächste, erheblich längere Szene 'Am oberen Peneios wie zuvor', ist deutlich
      in vier Abschnitte gegliedert.  
      Im ersten Abschnitt (7495–7675) treten die beiden noch verbliebenen Wanderer und
      Homunculus nicht auf. Es findet ein Elementarereignis statt, ein Erdbeben, in dem die
      griechische Gebirgslandschaft mit ihren Göttersitzen entsteht. Das Ereignis legt Gold
      frei, das die Greife sogleich erspähen, von den Ameisen bergen lassen, um ihre
      "Klauen" draufzulegen (7603).  
      Anhand des Goldsymbols wird aus dem Naturphänomen des Erdbebens eine
      politische Allegorie, in der die Pygephistomäen die Bourgeoisie verkörpern, welche
      die proletarischen Imsen und Daktyle ausbeutet, die auf Befreiung hoffen (7654 ff.
).
      Reiher und Kraniche, gegen die der Generalissimus antritt, stehen für die
      Aristokratie, die nun ein Opfer "missgestaltete(r) Begierde" (7666) wird. 
      Im zweiten Abschnitt (7676–7850) lobt sich Mephisto gegenüber diesen vulkanischen
      Vorgängen die beständige Bergwelt des Harzes und meint, in den Lamien so etwas
      wie die nordischen Hexen vor sich zu haben.  
      Doch merkt er bald, dass hinter den "holden Maskenzügen" schaurige Gespenster
      stecken (7797), die ihn genarrt haben. Immer noch fühlt er sich "entfremdet" (7081),
      nicht "viel klüger ..
. geworden" (7791).  
      Homunculus erscheint auf seiner Suche nach einer Möglichkeit,  "im besten Sinne"
      zu "entstehn", die mit Fausts Suche nach Helena vergleichbar ist. Mephisto
      verabschiedet sich mit dem Rat: "Entsteh auf eigne Hand!" (7848). 
      Der dritte Abschnitt der Szene (7851–7950) gehört der Homunculus-Handlung. Das
      Gespräch der beiden Philosophen Thales und Anaxagoras mit ihm hat das Erdbeben
      aus dem ersten Abschnitt mit seinen politischen Konnotationen zum Gegenstand.
  
      Thales, der alle Entwicklung als "lebendiges Fließen" (7861) versteht, hält die
      morphologische Veränderung für "nur gedacht" (7946). Anaxagoras, der im
      Gegensatz dazu ihre Realität so übertreibt, dass er einen Meteor für den
      herabstürzenden Mond ansieht (7920 ff.), bietet Homunculus die Königsherrschaft
      über die durch das Erdbeben ans Tageslicht getretenen Wesen an.  
      Während also Thales, was er wahrgenommen hat, für bloße Wahngebilde hält,
      nimmt Anaxagoras die politische Allegorie, welche die Bergfabelwesen darstellen,
      für blanke Realität. Homunculus, der sich aus dem Streit der beiden heraushält,
      entfernt sich, um seinen Weg "zum heitern Meeresfeste" (7949) fortzusetzen. 
      Im vierten Abschnitt (7951–8033) gelangt Mephisto an das Ziel seines Weges.
 Er
      findet in einer Höhle im "Dreigetüm" der Phorkyaden das Inbild der Hässlichkeit und
      das ausgerechnet mitten "in der Schönheit Land" (7978).  
      Mit ihnen, "des Chaos Töchter(n)", die nur ein Auge und einen Zahn zu dreien haben,
      verbindet sich "des Chaos vielgeliebter Sohn" (8027), wovon die Phorkyaden
      entzückt sind: 
 
       "Im neuen Drei der Schwestern welche Schöne! 
       Wir haben zwei der Augen, zwei der Zähne" (8030/31). 
 
      Damit hat Mephisto die Rolle gefunden, in der er im dritten Akt Helena und Faust
      zusammenführen kann.  
      Denn während Faust die Schönheit immer noch in einer realen Person sucht, die er
      notfalls aus dem Reich der Toten heraufholen muss, erfährt der Zuschauer nun, dass
      Schönheit und Hässlichkeit dialektisch aufeinander bezogen sind: Schön sind sogar
      die Phorkyaden, wenn sie zwei Augen und zwei Zähne haben statt – wie sonst – nur
      je eines davon.  
 
      In der letzten großen Szene der Klassischen Walpurgisnacht, die in 'Felsbuchten
      des Ägäischen Meeres' spielt, findet Homunculus das Ziel seines Weges. Hier
      erreicht das mythische Fest seinen Höhepunkt.
  
      Die Zeit steht still, der Mond verharrt "im Zenit" (vor 8034). Unter Sirenen, Tritonen
      und anderen Meeresfabelwesen erscheint Nereus, der weise "Greis des Meers"
      (8102), an den sich Thales mit dem Problem des Homunculus wendet, "wie man
      entstehn und sich verwandlen kann" (8153).  
      Sie werden an Proteus verwiesen, den Meergott, der ständig seine Gestalt wechselt. 
 
      Dieser nimmt als Delphin den 'Verkörperlichung' begehrenden (8252) Homunculus
      auf den Rücken, um sich mit ihm in den Festzug der Meeresfabelwesen einzureihen,
      d. h. ihn auf den Weg des Werdens und der Verwandlung "durch tausend,
      abertausend Formen" (8325) zu bringen.
  
      Die Nereustochter Galatee nähert sich auf dem Muschelwagen der zyprischen
      Liebesgöttin, die weder durch römische oder venezianische noch fränkische oder
      türkische Fremdherrschaft über die Insel (8371/72) in ihrem Wirken gestört wurde.  
      In einer Liebesvereinigung der Elemente zerschellt das Gefäß des Homunculus an
      Galatees Wagen und er selbst "vermählt" sich "dem Ozean" (8320). Mit einem
      Hymnus auf "Eros, der alles begonnen" (8479) endet der Akt. 
      Mit der Feier des "Entstehens" erweist sich die 'Klassische' als Gegengewicht zur
      nordischen 'Walpurgisnacht', in der Mephisto herrscht, "der Geist, der stets verneint",
      und sich nur für das Zugrundegehen interessiert (1338 ff.). Während die Bilder dort
      "die Welt .
.. auf der Neige" und reif "zum jüngsten Tag" zeigen (4092 ff.), wird hier
      die Natur vorgeführt, der "das frischeste Leben entquellt" (8444). Es ist die Natur, zu
      deren Betrachtung der Herr im Prolog die Engel auffordert: 
 
       "Erfreut euch der lebendig reichen Schöne! 
       Das Werdende, das ewig wirkt und lebt, 
       Umfass' euch mit der Liebe holden Schranken ..
." (345 ff.).
 
 
 
 
 
 
III. Akt: 
      Mephisto inszeniert Fausts und Helenas Hochzeit, Vereinigung von Antike
      und Abendland   
      Zu Beginn des dritten Aktes stellt sich Helena 'Vor dem Palaste des Menelas in
      Sparta' dem Zuschauer in ihrer wahren Existenzform vor, als Figur der Dichtung.
      Sie spricht im Vers der griechischen Tragödie.
  
 
      Helena ist  – aus Troja heimkehrend  – von einem Chor gefangener Troerinnen
      begleitet, der die üblichen allgemeinen Betrachtungen anstellt: "Gutes und Böses
      kommt unerwartet dem Menschen" (8594).  
      Sie referiert ihren Mythos; doch das Stück, in dem sie nun auftritt, kennt sie noch
      nicht.  
      Der Gatte habe sie vorausgeschickt, um zu prüfen, ob alles "noch an seinem Platze"
      (8558) steht, und um ein feierliches Opfer vorzubereiten.  
      Sie fürchtet, dass Menelaos gegen sie "Unheil sänne" (8537), und fühlt sich in ihrem
      Gefühl bestätigt, als sie im Palast ein "verhülltes großes Weib entdeckt" (8676), das
      ihr den Zutritt verwehrt, Mephisto in der Gestalt der Phorkyas.  
      Der Chor beschimpft ihn als "Scheusal neben der Schönheit" (8736), muss sich aber
      vorwerfen lassen, dass Schönheit schamlos sei (8754 ff.).
  
      Im Gegensatz zu den Chormädchen, die kein Zeitgefühl haben, lässt sich Helena von
      Phorkyas bewusstmachen, dass sie eine fiktive Gestalt sei, ein "Idol", und ihre
      persönliche Geschichte ein "Traum" (8880).  
      Dass er etwas von Schönheit versteht (8912), von der Schwierigkeit, sie aus ihrer
      früheren geschichtlichen Form zu lösen und zeitlos, übertragbar zu machen, zeigt
      Mephisto nun dadurch, dass er Helena den drohenden Tod, d. h. das Versinken in die
      Vergessenheit, deutlich macht (8927).  
      Mit seiner Erzählung von den geschichtlichen Ereignissen, die sich seit dem
      trojanischen Krieg bis zur Aufrichtung fränkischer Fürstentümer auf griechischem
      Boden im Mittelalter zugetragen haben, macht er Helena klar, dass ihr Weiterleben
      nur möglich sei, wenn sie sich anstelle des antiken Palastes von der mittelalterlichen
      Burg umgeben lässt (9050). Sie braucht also nur die Zeit, nicht aber den Ort zu
      wechseln, um Faust begegnen zu können.
 Faust trifft Helena in ihrem Land, Helena
      aber begegnet Faust in seiner Zeit. 
 
      Ein 'Innerer Burghof' mittelalterlichen Gepräges umgibt nun Helena und den Chor,
      d. h. das Personal der antiken Tragödie. Faust tritt der Griechin in herrscherlichem
      Aufzug entgegen und teilt seine Herrschaft sogleich mit ihr, indem er eine
      Pflichtverfehlung seines Turmwärters Lynkeus ihrer Gerichtsbarkeit überlässt.  
 
      Dieser erklärt sein Wachvergehen damit, dass er durch Helenas Schönheit so
      geblendet gewesen sei, dass er "vergaß des Wächters Pflichten" (9242).
  
      Wieder einmal muss Helena erfahren, dass es ihr "streng Geschick" sei, "überall der
      Männer Busen so zu betören", dass sie sich und andere ins Unglück bringen (9246
      ff.).  
      Sie verzichtet auf Bestrafung.  
      Faust aber, der befürchtet, dass seine Leute "der siegend unbesiegten Frau"
      gehorchen werden (9266), erkennt sie als "Herrin" an.  
 
      Lynkeus lässt nun allerlei Schätze heranschaffen, welche die germanischen Stämme
      während der Völkerwanderung in den Ländern der klassischen Antike geraubt
      haben, und bittet Helena, ihnen "mit einem heitern Blick" ihren "ganzen Wert zurück"
      zu geben (9331).  
 
      Fausts Welt, die in der europäischen Geschichte über die politische Macht verfügt,
      aber ohne Schönheit geblieben ist, öffnet sich  – im Übergang vom Hochmittelalter
      zur Renaissance –  zunehmend der antiken Kunst und Kultur.
 Doch die
      Wiederbelebung der Schönheit lässt diese nicht unverändert: Helena muss Fausts
      Sprache lernen!  
      So wird ihre Liebesvereinigung, welche die Aneignung der antiken Kultur durch das
      spätmittelalterliche Abendland symbolisiert, durch eine "Wechselrede" eröffnet, in
      der Helena, von Faust geleitet, den ihr unbekannten Reim zu gebrauchen lernt. 
      Phorkyas stört das Idyll mit der Meldung, Menelas nahe mit einem Heer.  
      Faust versammelt seine Vasallen und lässt im Gespräch mit ihnen die Ereignisse der
      Kreuzzüge vor Augen treten.  
      Immer mehr aber geht die politische Auseinandersetzung mit den Ländern des
      Altertums in eine kulturelle Auseinandersetzung über, an deren Ende der im
      Kunstwerk gestaltete Entwurf einer idealen Daseinsweise des Menschen steht, die
      Schaffung "Arkadiens" (9569).  
 
      'Der Schauplatz verwandelt sich durchaus', d. h.
 die Landschaft antiker Schönheit
      wird zur Geburtslandschaft der klassizistischen Kunst, der künftigen Heimstatt
      Fausts und Helenas.  
      Aus ihrer Verbindung geht der Knabe Euphorion hervor, der "in der Hand die goldne
      Leier" hält (9620) und sich als "künftigen Meister alles Schönen" darstellt, Allegorie
      der Poesie also  – wie im ersten Akt der Knabe Lenker (5573). Doch Euphorion
      drängt aus Arkadien heraus, aus dem Bereich der Innerlichkeit in das geschichtliche
      Leben, in dem es "Sorg' und Not" zu teilen gilt (9894). Gegenüber dem antiken
      Symbol der Poesie, dem Knaben Hermes, von dem der Chor erzählt (9629–9678),
      verkörpert Euphorion die moderne Poesie, die sich nicht in das klassische Maß fügt.  
      Die Stationen der Wandlung der modernen Poesie werden in Wechselreden
      zwischen Helena und Faust, dem Chor und Euphorion angedeutet. Euphorions
      Versuch, als Figur der Kunstwelt Arkadiens wie ein realer Krieger "in Waffen"
      (9871) für die Freiheit eines Volkes zu kämpfen, muss scheitern.
 Als ein zweiter
      "Ikarus" (9901) stürzt er zu Boden.  
      Sein Tod zieht Helenas Tod nach sich. Die mit dem Wort scheidet, "dass Glück und
      Schönheit dauerhaft sich nicht vereint" (9940). Der Traum von Arkadien ist
      ausgeträumt. 
      Phorkyas fordert Faust auf, Helenas Kleid festzuhalten; denn dieses löst sich nun in
      Wolken auf und trägt Faust hinweg.  
      Mephistos Abschiedsgruß (9954) weist auf den Beginn des vierten Aktes voraus.
  
      Während der Chor  – wie in der antiken Tragödie – den Schlussgesang (den
      'Exodus') vorträgt, der von der Verwandlung der Choretiden in Naturgeister handelt,
      legt Mephisto seine Maske als Phorkyas ab. Der Vorhang fällt.  
 
      Es war alles nur ein Spiel ein Kunstgebilde, Helena nicht eine wirkliche Person,
      sondern die Darstellung des Symbols der Schönheit auf der Bühne, die wiederbelebte
      Antike aber keine Realität, sondern der Bewusstseinsinhalt einer nicht-antiken
      Gesellschaft.
 
 
 
 
 
 
IV. Akt:
      Faust gewinnt politische Macht 
 
      Die Wolke, die sich aus Helenas Gewand gebildet hatte, setzt Faust im 'Hochgebirg'
      ab. Er befindet sich am Beginn einer neuen Epoche seines Lebens.
 Sein Blick
      wendet sich  – wie die Wolkensymbolik zeigt – zugleich zurück und in die Zukunft
      bis zum Schluss des Dramas.  
 
      In der nach Osten abziehenden Kumuluswolke erscheint ihm noch einmal das antike
      Schönheitsideal, das für ihn "flücht'ger Tage großen Sinn" bedeutet (10054).  
      Der andere Teil der Wolke formt sich zur Cirrus-Bildung, in deren "holde(r) Form"
      sich ihm Gretchens "Seelenschönheit" (10064) zeigt und "das Beste" seines "Innern"
      mit sich fort zieht, wie es dann in der Grablegungsszene geschehen wird, wenn Engel
      "Faustens Unsterbliches entführen" (nach 11824). 
      Mephisto erscheint in Siebenmeilenstiefeln und führt Faust  – wie es der biblische
      Satan mit Jesus getan hat (NT Mt 4, 8/9)  – in Versuchung, indem er in Faust das
      "Gelüst" nach Macht zu wecken unternimmt (10131ff.).  
      Er nimmt dazu das Erdbeben-Thema mit seiner politischen Symbolik aus dem
      zweiten Akt (7495–7675 und 7851–7950) wieder auf, das ihm dazu dient, seine
      Auffassung von Politik zu illustrieren: Ihm macht es natürlich Spaß, "das Unterste ins
      Oberste zu kehren" (10091); er will mit "Tumult, Gewalt und Unsinn" in der Politik
      "Großes .
.. erreichen" (10126).  
      Die Perspektive von oben auf die Beherrschten, diesen "Ameis-Wimmelhaufen"
      (10151), erfreut ihn; er möchte "von Hunderttausenden verehrt" sein (10154), sich
      ein "Schloss zur Lust" bauen (10160) und sich einen Harem von Maitressen halten
      (10170 ff.).  
      Doch Faust distanziert sich von solchen primitiven Phantasien mit dem Hinweis, dass
      man sich auf diese Weise "nur Rebellen" heranziehe (10159).
 Er hat eine Vision, die
      er verwirklichen möchte, nämlich "das herrische Meer vom Ufer auszuschließen"
      (10229), d. h. Land zu gewinnen zum Besten der Menschen.  
 
      Mephistos Ideal "Regieren und zugleich genießen" (10251) erscheint ihm "als ein
      großer Irrtum", denn "Genießen macht gemein" (10259).  
      Dennoch willigt er ein, mit Mephistos Methoden sein Ziel zu verfolgen, der die
      Reichswirren "zu seinem Vorteil" benutzen will (10237) und seine "Drei Gewaltigen"
      namens "Raufebold, Habebald und Haltefest" zu Hilfe holt, die freilich nur Allegorien
      sind (10329). 
      Weil der Kaiser, den der Zuschauer aus dem ersten Akt kennt, nach Mephistos
      Devise das Regieren allzusehr mit dem Genießen verbunden hat, "zerfiel das Reich
      in Anarchie" (10261).
 Nun hat sich seine Familie gegen ihn erhoben (10375 ff.) und
      einen Gegenkaiser aufgestellt.  
        
      In dieser schwierigen Lage, welche die Führungsschwäche des Kaisers offenbart,
      bietet Faust (Auf dem Vorgebirg) mit den "drei Gewaltigen" Hilfe an. Er stellt sich
      als Beauftragter des Zauberers von Norcia vor, den der Kaiser an seinem
      Krönungstag in Rom einst vor dem Scheiterhaufen gerettet hat und ihm nun seine
      Dankbarkeit bezeugen wolle (10439–10544). Faust gibt ihm damit den Vorwand, die
      Zuhilfenahme von Zauberei vor sich selbst zu entschuldigen (10603–10619). Doch
      wird der Erzbischof den gleichen Vorfall später dazu benutzen, den Kaiser zu
      erpressen (10981–11002).
  
      Als nun noch Herolde auf des Kaisers Angebot, die Entscheidung im Zweikampf mit
      seinem Gegner herbeizuführen, eine spöttische Ablehnung überbringen(10489ff.),
      gibt der Kaiser das Kommando ab (10501) und überlässt den finsteren Gewalten das
      Feld. Doch zeigt er in dieser Schwäche immer noch die Arroganz der Herrschenden,
      wenn er es ablehnt, den Marschallstab, den ihm sein Obergeneral zurückgegeben
      hat, dem das Kommando führenden Mephisto zu verleihen: Er sei "nicht der rechte
      Mann" (10704).  
 
      In den Einzelheiten der Szene wird die Widersinnigkeit und Unnatürlichkeit des
      Krieges symbolisiert.  
      Mephisto hat "die Waffensäle ringsum ausgeräumt", wo die Ritterfiguren "zu Fuß, zu
      Pferde" standen, "als wären sie noch Herrn der Erde" (10558), und gibt durch ihre
      Verwendung im Kampf einen Hinweis auf die Tatsache, dass das bloße
      Vorhandensein eines Rüstungsapparats dazu führt, dass die Menschen immer wieder
      "wie in der holden alten Zeit" aufeinander losschlagen (10770). 
 
      Nach dem Sieg sehen wir in 'Des Gegenkaisers Zelt' zunächst einen der 'Drei
      Gewaltigen', Habebald mit der Marketenderin Eilebeute, beim Plündern, wovon sie
      sich auch durch Begleiter des siegreichen Kaisers nicht abhalten lassen.
 Es ist eine
      satirische Einleitung zur Erzämterszene.   
      In der Erzämterszene setzt sich die Ausbeutung des Staates durch die
      Partikularinteressen des "Landesherrn" (10944) und der Kirche fort und die
      historische Überfälligkeit der alten feudalen Reichsordnung signalisiert. 
      Goethe hat in der Erzämterszene  – wie immer im 'Faust' historisch
      Auseinanderliegendes zusammenfassend  – die Begründung der vier karolingischen
      Hofämter (Kämmerer: Unterhalt und Unterbringung, Truchsess: Verpflegung,
      Mundschenk: Getränke, Marschall: Pferd und Stall), wie sie Hincmar von Reims im
      9. Jh. in 'De ordine palatii' beschrieben hat, und die Erteilung der Grundrechte an die
      aus diesen Ämtern entstandenen Kurfürstentümer durch die 'Goldene Bulle' Karls
      IV. (1356) miteinander verbunden.
 
 
      Die Situation ist grotesk: Der Kaiser hat sich soeben als unfähig erwiesen und tritt
      nun in der Pose des Siegers auf, der das Verdienst für sich in Anspruch nimmt
      (10858).  
      Obwohl seine Genusssucht das Reich in die Anarchie geführt hat, ist bei der
      Verleihung der Hofämter wieder fast nur vom Festefeiern die Rede.  
      Als der Erzbischof, der auch Kanzler des Reichs ist, auftritt, berichtet ihm der Kaiser
      von der neu erlassenen Ordnung, welche die Territorialfürsten mit Landbesitz,
      Gerichtsbarkeit und Steuerprivilegien ausstattet und ihnen das Recht zur Kaiserwahl
      erteilt. Die Macht des Kaisers, durch dessen Unterstützung Faust zu "Herrschaft"
      und "Eigentum" kommt, wie er es sich gewünscht hat (10187), ist am Ende. 
      Das zeigt der Aktschluss mit dem Dialog zwischen Kaiser und Erzbischof, in dem
      der Zuschauer von Fausts Belehnung mit "des Reiches Strand" erfährt (11036).  
      Es ist eine satirische Zugabe zu der feierlichen Erzämterszene, weil der Erzbischof in
      ihr – wie der "Pfaffe" in Mephistos Schwankerzählung im ersten Teil des 'Faust'
      (2813 ff.
) – ein Beispiel für die Fähigkeit der Kirche gibt, mit ihrem "guten Magen
      (... ) ungerechtes Gut verdauen" zu können.  
      Der Kaiser solle das Land, auf dem "böse Geister" ihm geholfen haben (100994), der
      Kirche vermachen, auch ein Gotteshaus errichten lassen. In seiner
      Geschäftstüchtigkeit denkt der Erzbischof an alles, Unterhaltskosten, Steuern,
      Materialzufuhr, Frondienste usw.
 Die Pointe besteht darin, dass er – unter
      Androhung des Bannes – auch die Abgaben von dem Land verlangt, das Faust erst
      dem Meere abringen will.  
      Zum Schluss stellt der Kaiser  – wieder allein – fest, dass er auf diese Weise wohl
      "das ganze Reich verschreiben" könne.
V. Akt: 
      Fausts Unternehmertum, Erblindung, Tod und Erlösung 
 
      Im letzten Akt des Dramas wird Faust wieder sesshaft. Statt eines engen
      Studierzimmers bewohnt er nun einen Palast, von dem aus er sein
      Wirtschaftsreich lenkt.  
 
      In der ersten Szene 'Offene Gegend' erscheint dieses Reich zuerst in einer
      Außenperspektive, wird von einer Gegenwelt her in den Blick genommen,
      dem kleinen Anwesen des alten Ehepaars Philemon und Baucis.
 
 
      Die wichtigsten Merkmale der beiden Welten, die sich hier gegenüberstehen,
      sind in der Szene angesprochen: 
        
       Alte Welt
                                      Moderne Welt
       Hilfsbereitschaft (11052)  
       Frömmigkeit (11055) 
       Dankbarkeit (11064) 
       Gastfreundschaft (11057 
       Einfaches Leben (Hütte) 
       Naturbelassene Umwelt  
       Einzelgehöft (11071)
                                      Ausbeutung (11127/28) 
                                      Gottlosigkeit (11131) 
                                      Anmaßung (11133/34) 
                                      Recht des Stärkeren (11131/32) 
                                      Wohlstand (11095 ff.) 
                                      Eingriff in die Natur (11093) 
                                      Hohe Wohndichte (11106)
 
 
      Ein Wandrer tritt auf, der als junger Mann dort Schiffbruch erlitten hatte und
      von den Alten gastlich aufgenommen worden war. Von ihm erfahren wir, wie
      Fausts Küstenland früher einmal ausgesehen hat: eine hafenlose
      Dünenküste, für die Schiffahrt gefährlich. Der Wandrer, voll Dankbarkeit für
      die einstige Rettung, möchte, "schaun das grenzenlose Meer" (11076) und
      dort beten.  
      Philemon aber zeigt ihm, dass sich dort, wo er das Meer wähnt, eine
      Gartenlandschaft breitet, "ein paradiesisch Bild" (11086). "Kluger Herren
      kühner Knechte" hätten sie geschaffen, auch einen Hafen gebaut und viele
      Menschen angesiedelt.
  
      Als Philemon von einem "Wunder" spricht (11109), versteht Baucis diesen
      Begriff anders als ihr Mann, der sich damit beruhigt, dass alles seine
      Ordnung habe, weil es sich um ein kaiserliches Lehen handle. Sie meint,
      dass es  "nicht mit rechten Dingen" zugegangen sei (11114): 
 
      "Menschenopfer mussten bluten, 
      Nachts erscholl des Jammers Qual" (11127/28) 
 
      Sie nennt Faust "gottlos", weil es ihn nach ihrem Anwesen gelüste, und
      misstraut seinem Umsiedlungsangebot.  
      Philemon fordert auf, zur "Kapelle" zu "treten" zum Gebet, von dort den
      "letzten Sonnenblick zu schaun" (11140), und im Gottvertrauen nicht
      nachzulassen. Es klingt wie ein Abschied.  
 
      In der zweiten Szene, die im 'Palast' spielt, erfolgt eine Umkehrung der
      Perspektive: Während der Zuschauer die neue Welt zunächst aus der Sicht
      der alten erlebte, erfährt er nun, wie die alte Welt sich in den Augen der
      modernen ausnimmt.  
 
      Beide Szenen sind gleichzeitig zu denken, wie die ersten Worte des
      Türmers zeigen, der die Heimkunft der "letzten Schiffe" meldet.
  
      Faust hört das Glöckchen, das auf der Düne läutet, wo die beiden Alten und
      der Wandrer ihr Gebet verrichten. Was für diesen einst ein "Silberlaut"
      gewesen war, der Rettung aus akuter Not versprach (11072), veranlasst den
      reichen und mächtigen Patron zum Fluchen: "Verdammtes Läuten!" (11151).
      Es erregt in ihm Gefühle von Hass, Neid, Habsucht, Groll, dass es da etwas
      gibt, das ihm noch nicht gehört: "Mein Hochbesitz, er ist nicht rein" (11156).  
      Dann berichtet Mephisto von erfolgreichen Unternehmungen auf dem "freien
      Meer" (11171–11188). Die 'Dreieinigkeit' von "Krieg, Handel und Piraterie"
      (11187), die dabei die entscheidende Rolle spielt, entspricht genau den
      Verhältnissen der frühkapitalistischen Epoche, in der die alten
      Handelskompanien, z. B.
 die englische 'East India Company' (1600), die
      Meere beherrschten und ungeheure Reichtümer nach Hause brachten. Sie
      durften dafür ihre Schiffe bewaffnen, Befestigungen anlegen und
      Hoheitsrechte ausüben. Es galt weithin das Recht des Stärkeren ("man hat
      Gewalt, so hat man Recht" 11184).  
      Typisch für den frühkapitalistischen Wirtschaftsstil ist auch der Umgang mit
      dem Gewinn, der die Kritik der "drei gewaltigen Gesellen" findet. Statt – wie
      der Kaiser und sein Hofstaat im ersten Akt – "die Zeit in Fröhlichkeit" zu
      vertun (5057), legt der neuzeitliche Unternehmer den Gewinn als Kapital in
      neuen Unternehmungen an, d.h.
 er 'reinvestiert', d. h. er "berechnet ... alles
      mehr genau" (11211/12), um mit "Fleiß" den Besitz zu vergrößern (11231).
      Denn seine wirtschaftliche Tätigkeit beruht auf dem Prinzip des
      Privateigentums.  
      Deshalb vergällt Faust das kleine Nachbargrundstück mit Lindenduft und
      Glöckchenklang den "Weltbesitz", weil es noch nicht sein eigen ist
      (11241/42). Er hält es für das Schlimmste im Leben, "im Reichtum" zu
      fühlen, "was" ihm noch "fehlt" (11251/52).  
      Mephisto fördert den Plan einer Zwangsumsiedlung der beiden Alten mit dem
      Hinweis, Faust müsse unbedingt "kolonisieren", d. h. Expansion gehöre
      notwendig zu dieser Wirtschaftsweise.
  
      Die "drei Gewaltigen" freuen sich auf ein Flottenfest (11285) und Mephisto
      erinnert den Zuschauer an das alttestamentliche Muster, nach dem Faust
      hier sein Problem löst: 
      König Achab begehrte Naboths Weinberg, der neben seinem Palast lag. Da
      dieser nicht verkaufen wollte, ersann Achabs Frau eine List. Sie ließ zwei
      falsche Zeugen besorgen, die vor Gericht aussagten, Naboth habe Gott und
      den König gelästert. Das Volk verurteilte ihn; und er wurde zu Tode
      gesteinigt. (1 Kön 21,1–16). 
 
      In der nächsten Szene ist es 'Tiefe Nacht'.
 Der Türmer preist die Schönheit
      von Gottes Natur, die den Menschen, der sie betrachtet, beglückt. Seine
      Worte klingen wie ein Abgesang: "Es war doch so schön!" (11303).  
 
      Plötzlich gehen seine ruhigen Verse in erregte Trochäen ( ´ . ´ . ´ . ´ ( _ ))
      über.
 "Greuliches Entsetzen" packt ihn und er schildert dem Zuschauer in
      allen Einzelheiten, wie Funken durch die Linden sprühen, die Hütte lodert,
      das Kapellchen zusammenbricht. Das seit Jahrhunderten gewohnte Bild der
      Welt ist dahin (11336/37).  
      Faust ist durch das Jammern seines Türmers auf den Balkon gelockt und
      erfährt von Mephisto, dass aus der geplanten Umsiedlung Raub und Mord
      geworden sind, die beiden Alten und der Fremde den Tod gefunden haben.  
      Als Faust die Schuld Mephisto und seinen Gesellen zuschiebt, rechtfertigen
      diese ihr Vorgehen in zynischer Weise damit, dass die Opfer selbst für ihr
      Geschick verantwortlich seien, denn ihnen sei ja "das alte Wort" bekannt
      gewesen, das da lautet: "Gehorche willig der Gewalt!" (11375).  
      Wie in der Geschichte von Achab und Naboth der Tat das Unheil auf dem
      Fuße folgt, so lösen sich aus dem "Rauch und Dunst" der niedergebrannten
      Hütte Schatten, die auf Faust zuschweben. 
 
      In der Szene 'Mitternacht' geben sich diese als "vier graue Weiber" zu
      erkennen, Mangel, Schuld, Sorge und Not.
  
      Doch nur die Sorge kann in den Palast des Reichen hinein.  
      Der Tod, "der Bruder" der Weiber, naht ebenfalls (11397). Faust spürt seine
      Nähe und wird sich plötzlich seiner Endlichkeit bewusst.  
      Und zu dieser Endlichkeit gehört es, der Sorge verfallen zu sein. Sie ist
      immer schon da, wie Faust erkannt hatte, als er nach der
      Erdgeisterscheinung über das "Menschenlos" nachdachte (629, 644). Aber
      er hatte sie von sich geschoben und verdrängt, als er sich für den Weg der
      Magie und das Bündnis mit Mephisto entschied.
  
      Nun bringt sie ihn dazu, sein Leben zu widerrufen. Er möchte den Weg der
      Magie verlassen, "die Zaubersprüche ganz und gar verlernen" (11405),
      wieder "ein Mensch ... sein", wie er es war, bevor er all das verfluchte, womit
      die Phantasie die Seele erfüllt, um das Leben erträglich zu machen (1587
      ff.).
  
      Fausts Tragödie besteht darin, dass er zu dieser Einsicht erst gelangt, als es
      zu spät ist, aus ihr Konsequenzen zu ziehen, d. h. erst im Angesicht des
      Todes. Immerhin verzichtet er darauf, die Sorge durch ein "Zauberwort"
      (11423) zu vertreiben.  
      Auf ihre Frage: "Hast du die Sorge nie gekannt?" erwidert Faust, er habe sein
      "Leben durchgestürmt" (11439), ohne sich um sie zu kümmern. Er
      wiederholt sein Bekenntnis zu entschiedener Diesseitigkeit, das er einst vor
      Mephisto abgelegt hatte (1660), und kennzeichnet sich als "unbefriedigt jeden
      Augenblick" (11452).
  
      Damit ist das Thema vom irrenden Streben und vom "dunklen Drange" (317,
      328) aus dem Prolog wiederaufgenommen, Eigenschaften, die Fausts
      Wesen letztlich dem Zugriff Mephistos entziehen.  
      Die Sorge aber versucht nun  – ähnlich wie der "Böse Geist" Gretchen in die
      Verzweiflung trieb (3776ff.)  – unter Wiederaufnahme des
      Vergeblichkeitsmotivs aus dem Prolog, durch ihre "schlechte Litanei" (11469)
      Faust zu "betören" und zu frustrieren. Dieser erkennt den dämonischen
      Charakter der Sorge und verweigert ihr seine Anerkennung (11487–11494),
      d. h. er unterscheidet das an ihr, was unabdingbar zur Begrenztheit
      menschlicher Existenz gehört, von dem, was erst dadurch im Innern des
      Menschen entsteht, dass er sich "durch Gespenster" quälen lässt.
 Gegen
      diesen Geisterspuk (11450) wehrt sich Faust, indem er an seinem Streben
      festhält, was er "gedacht", auch zu "vollbringen" (11501).  
      Er ist zwar erblindet, doch "im Innern leuchtet helles Licht".  
      Er gibt Anordnungen an seine "Knechte", damit sich "das größte Werk
      vollende" (11509). Denn dazu genüge "ein Geist für tausend Hände". Aber es
      ist nun die Frage, die der Leser in die nächste Szene hineinnimmt, ob oder
      inwieweit dieser Geist sich den Knechten noch mitzuteilen vermag. Der
      Geist ist zwar die quälende Spannung zwischen "Geist" und "Stoff"  los, die
      unser "Menschenlos" ausmacht (629 ff.
), wenn er sich vom Körper zu lösen
      beginnt. Doch kann der Mensch auf der Erde nur wirken, wenn er zwischen
      Geist und Materie eingespannt bleibt, d. h. seine Entelechie in einem Körper
      wohnt. 
 
      In der nächsten Szene 'Großer Vorhof des Palasts' wird die genannte
      Frage negativ beantwortet. Fausts Geist erreicht die Realität um ihn herum
      nicht mehr.
 Seine Fähigkeit, wirksam in sie einzugreifen, ist damit
      geschwunden. 
      Die Szene ist durch die Spannung bestimmt, die zwischen der inneren
      Handlung, Fausts Denken und Streben, und der äußeren Handlung, der
      Vorbereitung seines Grabes und seinem physischen Tod, besteht.  
 
      Mephisto lässt bei Fackelschein von Lemuren  – so nannten die alten Römer
      die des Nachts als Geister umherirrenden Seelen der Verstorbenen  –
      Fausts Grab schaufeln. Ihr Gesang ist nach dem Totengräberlied aus
      Shakespeares 'Hamlet' gestaltet: 
 
       "In jungen Tagen ich lieben tät ...
" Shakespeare, Hamlet V 1. 
 
      Obwohl Faust sich also schon auf dem Wege "aus dem Palast ins enge
      Haus" (11529) des Sarges befindet, hält er das Spatengeklirr für das
      Zeichen, dass die Arbeiter dabei seien, seine Befehle auszuführen. So ordnet
      er an, das Unternehmen zu beschleunigen, weitere Arbeitskräfte durch
      Lohnanreize, Überredung, ja Zwangsrekrutierung (11554) herbeizuschaffen.
      Obwohl es längst nicht mehr um einen "Graben", sondern um sein "Grab"
      geht (11558), hält er an der Attitude des mächtigen Patrons (11170) fest.  
      Schließlich stellt Mephisto sich auch noch einmal ausführlich als den "Geist,
      der stets verneint" (1338) dar, dessen Interesse darin besteht, alles zu
      vernichten, "was sich dem Nichts entgegenstellt" (1363). Im Grunde habe
      auch Faust ihm in die Hand gearbeitet, da er mit seinen "Dämmen" und
      "Buhnen" (11545) den zerstörerischen Elementen etwas zum Vernichten
      angeboten habe.
 
      Faust erhebt sich in der Euphorie, die dem Tod vorangeht, zu einer
      utopischen Vision von einem "freien Volke" "auf freiem Grund" (11580), die
      bis in Einzelheiten hinein an die Vision des alttestamentlichen Propheten
      Jesaja von der "neuen Erde" und dem "neuen Himmel" erinnert (65, 17–25).  
      Fausts Vorstellungen sprengen jedes Maß: Er will Raum für "viele Millionen"
      schaffen (11563) und einen Ruhm gewinnen, der "nicht in Äonen" untergeht
      (11584). Er spricht vom "Gemeindrang", der zur Arbeit motivieren soll
      (11572), wo er doch unbedenklich bisher Zwangsarbeit zur Durchsetzung
      seiner Ziele benutzt hat: 
 
       "Es ist die Menge, die mir frönet" (11540). 
 
      In diesem Schlussmonolog wiederholt Faust das Stichwort, mit dem er
      Mephisto einst die "Wette" angeboten hatte: 
 
       "Werd' ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch, du bist so schön, dann
      magst du mich in Fesseln schlagen ...
" (1699 ff.) 
 
       "Solch ein Gewimmel möcht' ich sehn, auf freiem Grund mit freiem Volke
      stehn. Zum Augenblicke dürft' ich sagen: Verweile doch, du bist so schön!"
      (11579 ff.) 
      Mephisto meint, das Spiel gewonnen zu haben, und nimmt das Stichwort
      auf, indem er das Bild von der Wasseruhr, das Faust damals gebraucht
      hatte, nun zur Feststellung von dessen Tod verwendet: 
 
       "Die Uhr mag stehn, der Zeiger fallen, es sei die Zeit für mich vorbei!"
      (1705/06) 
 
       "Die Zeit wird Herr, der Greis hier liegt im Sand. Die Uhr steht still ..
. Der
      Zeiger fällt ... es ist vollbracht ..
. Es ist vorbei." (11592 ff.) 
 
      Die Worte "Es ist vollbracht", die Christus bei seinem Kreuzestod spricht
      (Ev: Joh 19, 30), benutzt Mephisto, um Fausts Tod in seinem Sinne zu
      interpretieren: 
 
       "Vorbei und reines Nichts, vollkommnes Einerlei! 
       Was soll uns denn das ew'ge Schaffen!" (11597/98) 
 
      Nicht nur das Stichwort der Wette schlägt den Bogen zurück zum Anfang
      des Dramas. Auch seine Charakterisierung Fausts wiederholt Mephisto noch
      einmal: 
 
      "Und alle Näh' und alle Ferne befriedigt nicht die tiefbewegte Brust."
      (306/307) 
      "Ihm hat das Schicksal einen Geist gegeben, der ungebändigt immer
      vorwärts dringt .
.." (1856/1857) 
 
       "Ihn sättigt keine Lust, ihm gnügt kein Glück ..." (11587) 
 
      Mit der nächsten Szene, 'Grablegung', ist die Binnenhandlung zu Ende, die
      Bühne zeigt wieder kosmische Dimensionen, der Anschluss an den 'Prolog'
      wird hergestellt.
 Die 'letzten Dinge' werden thematisiert, Leib und Seele, Tod
      und Erlösung, Sünde und Vergebung.  
 
      Und das geschieht ausgerechnet in einer burlesken Szene, deren
      Handlungsschema auf dem mittelalterlichen Bild vom Kampf der Engel und
      Teufel um die Seele des Menschen beruht. 
 
      Nach den Totengräberklagen der Lemuren folgt Mephistos Klage über die
      Probleme, die der Teufel heute mit dem Einfordern der ihm verfallenen
      Seelen habe, da nicht nur das "Wann? wie? und wo?", sondern sogar "das
      Ob?" des eingetretenen Todes fraglich geworden sei (11631 ff.), d. h. "das
      Seelchen, Psyche mit den Flügeln" (11660) nicht mehr  – wie auf den alten
      Bildern –  als weibliche allegorische Gestalt aus dem Munde des
      Verstorbenen auffliegt.
  
      Wie im barocken Welttheater öffnet sich der Höllenrachen, und Mephisto gibt
      seinen Teufeln Anweisung, nicht nur an gewohnter Stelle nach Fausts
      "Genie" zu suchen (11664 ff.).  
      Gleichzeitig nähert sich "Himmlische Heerschar", den Sündern Vergebung
      verkündend, was Mephisto zu der ärgerlichen Feststellung veranlasst, dass
      die Himmlischen die wirksamste Teufelserfindung zur Vernichtung des
      menschlichen Geschlechts (11690), die Sünde, in ein Gnadenmittel
      verwandelt haben.  
      Die Vertauschung der Vorzeichen, die für Mephistos Perspektive so
      charakteristisch ist, wird noch einmal pointiert, wenn er seine Helfer beruhigt,
      die Engel seien schließlich "auch Teufel, doch verkappt" (11696), Umkehrung
      der christlichen Vorstellung, dass die Teufel gefallene Engel sind (NT Lk
      10,18).  
      Aber in Mephistos Problemen mit Seele und Sünde deuten sich
      Identitätsprobleme an. Die ursprüngliche Gleichheit von Engeln und Teufeln,
      die Mephisto anspricht: 
 
       "Seid ihr nicht auch von Luzifers Geschlecht?" (11770) 
 
      wird beim Eindringen der 'Liebesflammen', welche die Engel in Gestalt von
      Rosenblüten aussenden, zu einem Kampf des Teufels mit sich selbst: 
       "Auch mir.
 Was zieht den Kopf auf jene Seite? 
 
       Bin ich mit ihr doch in geschwornem Streite!" (11759/5960)
 
      Die Liebe, mit der er "in geschwornem Streite" liegt, die
      aber das Element der Engel ist, beginnt Mephistos
      Teufelsnatur als etwas Fremdes zu durchdringen
      (11762).  
      Doch kann sie bei ihm nur Sexualität wecken
      (11780–11800). Dadurch gelingt es ihm, seine Identität
      als Teufel zu bewahren: 
       "Gerettet sind die edlen Teufelsteile" (11813). 
      Diesen Kampf Mephistos mit seiner Identität, der seine
      Aufmerksamkeit von Faust abzog, haben die Engel
      ausgenutzt, "Faustens Unsterbliches" aufzuheben und
      "sind mit der Beute himmelwärts entflogen" (11827). Mephisto bleibt wie der
      geprellte Teufel der alten Legende zurück und muss feststellen: 
 
       "Ein großer Aufwand, schmählich! ist vertan" (11837). 
 
      Die letzte Szene des Dramas, 'Bergschluchten', ist eine Wandelszene wie
      die Walpurgisnacht.
 Wie dort sind auch hier Figuren von unten nach oben in
      einer Berglandschaft verteilt, die "Faustens Unsterbliches" –  von Engeln
      emporgetragen – allmählich  duchmisst, bis es in den  'Himmel' gelangt.  
 
      So hat das Spiel, wie es der Theaterdirektor versprochen hatte, tatsächlich
      "den ganzen Kreis der Schöpfung" ausgeschritten (240).  
 
      In der Gliederung der Szene lassen sich vier Phasen unterscheiden: 
 
      1. Gesänge der heiligen Anachoreten, d. h. Einsiedler, und der seligen
      Knaben, ungetauft  
       verstorbener (11900) Kinder (11844–11933), 
      2.
 Gesänge der Engel, die Faustens Unsterbliches diesen Knaben
      übergeben (11934–11988), 
      3. Monolog des Doctor Marianus, der den Weg zu den Frauen weist
      (11989–12031), und 
      4. Gesänge der "Büßerinnen", darunter Gretchen, die um die
      "Himmelskönigin" schweben; 
       Schlusschor (12032–12111). 
 
      Die Landschaft, welche Chor und Patres beschreiben, ist in Bewegung, der
      Wald "schwankt heran" (11844) und "wogt" (11875). "Felsenabgrund",
      "Wasserfülle", "Blitz" usw. sind "Liebesboten", die "verkünden, was ewig
      schaffend uns umwallt" (11882).
 Das 'Jenseits', in das Faust nun gelangt, ist
      eine Welt des Werdens, wie sie die Engel nach dem Willen des Herrn
      betrachten sollen (345 ff.) und wie sie Fausts Erkenntnisziel gewesen ist.
      Während Homunculus, um zu "entstehn", d. h. um die materielle
      Körperlichkeit zu erhalten, in das feuchte Element eintauchen musste (s. S.
      102), "steigt" Faust auf dem Wege der Vergeistigung aus der Sphäre des
      Feuchten "hinan zu höherm Kreise" (11918), in den 'freien Äther'. Die seligen
      Knaben reagieren mit "Schreck und Grauen" auf den Anblick dieser
      bewegten Natur (11916). 
      Engel nahen mit "Faustens Unsterblichem" und verkünden, dass er gerettet
      sei, weil er "immer strebend sich bemüht" (11936) und "die Liebe ... von
      oben" an ihm "teilgenommen" habe.
  
      l berichten voller Genugtuung vom Kampf mit den Teufeln und ihrer
      Kriegslist.  
 
      Die vollendeteren Engel weisen darauf hin, dass eine Auflösung der
      "geeinte(n) Zwienatur" (11962), in der die "Geisteskraft" mit "Erdenrest(en)"
      vermischt ist, ohne Hilfe der "ewigen Liebe" nicht gelingen kann. Im
      Unterschied zur christlichen Lehre, die an die 'Auferstehung des Fleisches'
      glaubt, besteht die Erlösung hier also in der Abtrennung des Geistes von den
      "Elementen". Der Leib bleibt unerlöst.  
      Die seligen Knaben nehmen Faustens Unsterbliches daher noch "im
      Puppenstand" (11982) in Empfang, weil von ihm noch "Flocken" losgelöst
      werden müssen, ehe es in die "obere Welt" (11977) gelangen darf. 
 
      Diese Sphäre wird nun vom Doctor Marianus als ein Bereich von Frauen
      vorgestellt, in dem die "Himmelskönigin" von "Büßerinnen" umgeben ist, die
      der "Gnade" bedürfen.
 Dieser Teil des Himmels ist ganz im Hinblick auf die
      Gretchen-Tragödie des ersten Faust-Teils gestaltet. Er ist ausdrücklich für
      "die leicht Verführbaren" (12022) reserviert, die sich vertrauensvoll an die
      Jungfrau Maria wenden, wie es Gretchen getan hat. Die Worte des Doctor
      Marianus sind voller Verständnis für die "Schwachheit", die sich nicht selbst
      aus "der Gelüste Ketten" befreien kann und zu Fall kommt (12024 ff.). 
      Im letzten Teil der Schlussszene ist Gretchen die Hauptperson. Der Chor der
      Büßerinnen spricht ein Mariengebet, das an Gretchens Gebet im 'Zwinger'
      anklingt (3587 ff.
). Dann erscheinen drei kanonische Sünderinnen der
      christlichen Überlieferung, die Sünderin, die Jesus Füße salbte (Lk 7, 36 ff.),
      die Samariterin, die Jesus am Jakobsbrunnen traf (Joh 4, 7 ff.), und die
      ägyptische Einsiedlerin Maria (Acta Sanct. v. 2.
 April), und verrichten jede
      eine Fürbitte für Gretchen. Die Himmelskönigin möge ihr ihre Schuld
      "verzeihen" (12068).  
      Gretchen stimmt in das Gebet ein und begrüßt dankbar den "früh
      Geliebte(n)", nun geläutert zurückkehrenden Faust, den die seligen Knaben
      bringen, die noch etwas von ihm lernen wollen. Gretchen sieht, dass er die
      "alte Hülle" abgelegt hat und nun im "ätherischen Gewande" wieder über
      seine "erste Jugendkraft" verfügt.  
      Sie bittet Maria, "ihn ..
. belehren" zu dürfen. Das gewährt ihr die 'glorreiche
      Mutter'; es sind die einzigen Worte, die sie in der Szene spricht.  
 
      Zum Abschluss gibt der mystische Chor die Anweisung, das ganze
      Spielgeschehen als ein "Gleichnis" zu nehmen und zu bedenken, dass hier
      etwas in Szene gesetzt wurde, wo man gewöhnlich nicht hingelangen kann
      ("das Unzulängliche", "das Unbeschreibliche"). Aber "hier ist's getan", d. h.
      auf die
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