Angelika gutsch
Thema: Interpretieren und vergleichen Sie die Fabeln!
1. Phädrus: Wolf und Lamm2. Gotthold Ephraim Lessing: Der Wolf und das Schaf
Schon in der Antike befassten sich Schriftsteller mit der Fabeldichtung. Besonders bedeutend war der Grieche Äsop, der angeblich um die Mitte des 6. Jahrhunderts v. Chr.
lebte. Seine „Tiergeschichten“ beruhen wahrscheinlich auf mündlich überlieferten Stoffen.. Er gab der Fabel ihre klassische Form und war das Vorbild vieler Dichter.
Der aus Rom stammende Phädrus aus dem 1. Jahrhundert n.
Chr. schuf nach dem Muster Äsops Fabeln, die im Mittelalter viel gelesen wurden. Sein „Wolf und Lamm“ ist deshalb in die Epoche der Antike einzuordnen.
Gotthold Ephraim Lessing (1729 – 1781) befasste sich ebenfalls tiefgreifend mit der Äsop’schen Fabelform, was bedeutenden Einfluss auf seine Abhandlungen „Von dem Wesen der Fabel“ und „Von dem Gebrauch der Tiere in der Fabel“ hatte. In Lessings „Der Wolf und das Schaf“ wird die lehrhaft – moralisierende Absicht der Literatur der Aufklärung deutlich. In der Fabel geht es um das eigentlich schwache und unterlegene Schaf, das die Sicherheit des breiten Flusses ausnutzt, um sich an dem stärkeren und mächtigeren Wolf zu rächen.
In Phädrus’ dagegen zieht das Lamm den Kürzeren und wird vom hungrigen und gierigen Wolf gerissen.
Im Mittelpunkt beider Fabeln stehen Tiere mit menschlichen Eigenschaften. Sie handeln, denken und sprechen. Den Grund dafür beschreibt Lessing in seiner zweiten Abhandlung „Von dem Gebrauch der Tiere in der Fabel“: (Zitat) „Man hört: Britannicus und Nero. Wie viele wissen, was sie hören? Wer war dieser? Wer jener? In welchem Verhältnis stehen sie gegeneinander? – Aber wenn man hört: der Wolf und das Lamm; sogleich weiß jeder, was er höret, und weiß, wie sich das eine zum anderen verhält.“.
Auch Die Grundsituation ist in beiden Fabeln gleich: Der Wolf und das Lamm beziehungsweise das Schaf werden durch den Durst an einen Fluss getrieben.
Der Verlauf der Handlungen ist jedoch verschieden.
Im Folgenden soll der Aufbau von Phädrus’ „Wolf und Lamm“ im Vergleich zu Lessings „Der Wolf und das Schaf“ beschrieben werden:
Der Bezug zu Äsop macht deutlich, dass die Grundform in beiden Fabeln gleich sein muss. Zuerst wird die Situation dargestellt: In Phädrus’ von Vers 1 bis 4, in Lessings in den Zeilen 2 und 3. Es folgt die Auslösung der Handlung (Phädrus: Vers 5; Lessing: Zeile 3 bis 5) und die Reaktion des Betroffenen (Phädrus: Vers 6 bis 8; Lessing: Zeile 5 bis 8). Lessings Fabel ist an dieser Stelle zu Ende.
In Phädrus’ schließen sich noch das Ergebnis (Vers 9 bis 14) sowie die nachgestellte Epimythion (Vers 15 und 16) an. Dadurch wird die belehrende und unterhaltende Absicht des Autors deutlich.
Phädrus stellt den Wolf als gierigen (V. 3 „wilde Gier“), streitsüchtigen (V. 4 „einen Streit vom Zaun brechen“), und rechthaberischen (V. 9 „Die Macht der Wahrheit war selbst für den Wolf zu stark“) Räuber (V.
4) dar. Er sucht eine Rechtfertigung für sein Handeln, indem er das Lamm für das angebliche Schmähen durch dessen Vater verantwortlich macht (V. 13 „Dann wars dein Vater eben, ja, beim Herakles“).
In Lessings Fabel hat der Wolf ähnliche Eigenschaften. Er wird als stolzer (Z. 8) und kluger Räuber (Z.
3), der geduldig (Z. 8) auf den Moment der Rache wartet, beschrieben.
Im Großen und Ganzen ist der Wolf in beiden Fabeln als stark und mächtig einzuschätzen.
Das Lamm stellt Phädrus als verschüchtert (V. 6), wollig weich (V. 6), freundlich und schmeichelnd (V.
7 „Mein lieber Wolf“) sowie klug und aufrichtig (V. 8 „Das Wasser fließt doch erst von dir zu mir herab.“) dar.
Lessing dagegen beschreibt das Schaf als höhnisch (Z. 3) und spötterisch (Z. 5) sowie übertrieben höflich (Z.
4 „Herr Wolf“). In beiden Fabeln sind Lamm und Schaf schwach und unterlegen. Doch in Lessings Fabel zieht das Schaf die Wut des Wolfes auf sich, weil es sich auf dumme und spöttische Art und Weise die Sicherheit des breiten Flusses ausnutzt.
„Wolf und Lamm“ ist in Versform und ohne Reim geschrieben. Das Metrum ist durch einen 6-hebigen Jambus gekennzeichnet. Phädrus verwendet kurze prägnante Sätze sowie mehrere Dialoge.
Er benutzt außerdem Metaphern (V. 3 „des Rachens wilde Gier“), die die Anschaulichkeit erhöhen; Katachresen (V. 4 „darum brach der Räuber einen Streit vom Zaun“; V. 9 „Die Macht der Wahrheit“); Ausrufezeichen (V.10, 12, 13), die die Wut des Wolfes verdeutlichen; Fragezeichen (V. 7) sowie die Verniedlichung (V.
6 „Lämmchen“), die die Unschuld des Lammes hervorheben. Die nachgestellte Nutzanwendung wird durch einen Absatz zwischen Vers 14 und 15 herausgestellt.
Lessings „Der Wolf und das Schaf“ ist in Prosaform, also vers- und reimlos, geschrieben. Die Handlung ist kurz und zugespitzt. Lessing verwendet eine sehr exakte Sprache, lange Dialoge sowie mehrere Semikolons (Z. 1,4,6,8).
Durch das Wortspiel in Zeile 2 (gesichert – Sicherheit) wird die Eindringlichkeit gesteigert. Die Metapher in Zeile 6 („knirschte mit den Zähnen“) veranschaulicht das einfache Handlungsgeschehen.
Phädrus stellt über den Wolf den Bezug zu Herakles (V. 13) her. Dieser war Sohn des Zeus und der Alkmene. Er musste im Dienste des Königs Eurysteus 12 schwere Arbeiten verrichten und war von großer Stärke.
Im Römischen wurde er als Herkules bezeichnet.
Dadurch wird noch einmal die Überlegenheit des Wolfes offensichtlich.
Lessings und auch Phädrus’ Fabel sind durch die Einfachheit der Geschichte leicht zu verstehen und regen zum Nachdenken an.
Die Überzeugung Lessings, dass die Fabel ein Lehrwerk sein müsse und nicht die Belustigung als Ziel habe, wird in „Der Wolf und das Schaf“ an der zugespitzten und knappen Prosaform der Fabel sowie an der Vers- und Reimlosigkeit deutlich.
An die Fabeldefinition aus Lessings erster Abhandlung „Von dem Wesen der Fabel“ (Zitat: „Wenn wir einen allgemeinen moralischen Satz auf einen besonderen Fall zurückführen, diesem besonderen Falle die Wirklichkeit erteilen, und eine Geschichte daraus dichten, in welcher man den allgemeinen Satz anschauend erkennt. So heißt diese Erdichtung Fabel“) halten sich beide Dichter.
Obwohl man erwähnen muss, dass Phädrus schon längst gestorben war, als Lessing die Definition aufstellte.
Phädrus’ Fabel zeigt, dass es für den Stärkeren leicht ist, den Schwächeren zu unterdrücken oder zu vernichten, wenn man ihm falsche Unterstellungen macht. Lessings dagegen greift die Menschen an, die sich durch Dummheit selbst ins Verderben ziehen, indem sie ihre momentane Sicherheit ausnutzen und sich nicht über die Konsequenzen im klaren sind.
Die beiden Fabeln sind auch noch heute von großer Nützlichkeit, obwohl die des Phädrus bereits vor 1900 Jahren und die des Lessing vor etwa 250 Jahren entstand. Sie sprechen jeden Menschen an und sind allgemein gültig. Bestimmte Charakterzüge und Schwächen einzelner Personen werden angegriffen, um darüber nachzudenken, eine Lehre daraus zu ziehen und eventuell das eigene Verhalten zu ändern.
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