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  Jeronimo und josephe: eine scene aus dem erdbeben zu chili vom jahr 1647

JERONIMO UND JOSEPHE: Eine Scene aus dem Erdbeben zu Chili vom Jahr 1647    Novelle von Heinrich von KLEIST, erschienen 10. bis 15. 9. 1807 in Cottas „Morgenblatt für gebildete Stände“, unter dem Titel Das Erdbeben in Chili in redigierter Fassung 1810 im ersten Band der Erzählungen. – Die Novelle ist die erste gedruckte und einer der frühesten Erzählungen Kleists überhaupt, die er wohl in seiner Königsberger Zeit (Mai 1805 bis August 1806) verfasst hat. Unvermittelt wird gleich mit dem ersten Satz der Novelle die doppelte Katastrophe des Einzelnen und der Gemeinschaft thematisch eingeführt.

„In St. Jago, der Hauptstadt des Königreichs Chili, stand gerade in dem Augenblicke der großen Erderschütterung vom Jahr 1647, bei welcher viele tausend Menschen ihren Untergang fanden, ein junger, auf ein Verbrechen angeklagter Spanier, namens Jeronimo Rugera, an einem Pfeiler des Gefängnisses, in welches man ihn eingesperrt hatte, und wollte sich erhenken.“ Darauf folgt die Vorgeschichte: Ein angesehener Edelmann hat Jeronimo, seinen Hauslehrer, wegen des allzu „zärtlichen Einverständnisses“ mit seiner Tochter Josephe und das Mädchen zur Strafe in ein Karmeliterkloster gesteckt. Heimlich hat der Liebhaber wieder die Verbindungen aufgenommen und „in einer verschwiegenen Nacht den Klostergarten zum Schauplatz seines vollen Glückes gemacht.“ Bei der Fronleichnamsprozession wird Josephe von den einsetzenden Wehen auf den Stufen der Kathedrale überrascht. Kaum hat sie ihr Kind im Gefängnis geboren, wird den beiden Menschen der Prozess gemacht und die Mutter, trotz des Fürspruchs der Äbtissin, die sie liebgewonnen hat, zum Tode verurteilt.

Am Tage der Hinrichtung, als sich die ganze Stadt gaffend an den Fenstern drängt, „um den Schauspiel, das der göttlichen Rache gegeben wurde ... beizuwohnen“, und als der verzweifelte Jeronimo seine Geliebte schon für verloren hält und sich erhängen will, bricht urplötzlich die „zerstörende Gewalt der Natur“ über die Stadt herein. Das berstende Gefängnis gibt Jeronimo den Weg frei, und auf seiner Flucht vor stürzende Häusern und sich öffnenden Straßen wird er Zeuge der grauenvollen Zerstörung (die der Dichter in einer atemlose gedrängten Reihe von „Hier“- Sätzen beschwört). Vor den Toren der Stadt dankt er Gott „für seine wunderbare Errettung“, freut sich selbstvergessen einen Augenblick lang „des lieblichen Lebens voll bunter Erscheinungen“ und erinnert sich plötzlich wieder Josephes.

Lange irrt er auf der Suche nach ihr herum und erblickt sie schließlich in einem einsamen Tal an einer Quelle mit ihrem Kind, das sie aus dem brennenden, hinter ihr zusammenstürzenden Kloster hatte retten können. Nun finden die Unglücklichen im Tal eine „Seligkeit, als ob es das Tal von Eden gewesen wäre.“ Am Morgen werden sie von der mit Josephe befreundeten Familie des Don Fernando freundlich aufgenommen, so wie überall „der menschliche Geist selbst wie eine schöne Blume aufzugehen“ schien, „als ob die Gemüter seit dem fürchterlichen Schlage, der sie durchdröhnt hatte, alle versöhnt wären.“ In einer begeisterten Steigerung ihres Lebensgefühls drängt es nun auch die beiden Liebenden, „ihr Antlitz vor dem Schöpfer in den Sand legen“, und sie schließen sich trotz der bösen Ahnungen von Don Fernando zurückbleibender Frau am Nachmittag den Menschen an, die zum Dankgottesdienst in die einzige unversehrte Kirche strömen. „Niemals schlug aus einem christlichen Dom eine solche Flamme der Inbrunst gegen den Himmel.“ Doch der Prediger sieht im Erdbeben eine Strafe Gottes und überantwortet schließlich namentlich die Seelen der beiden Liebenden als der verwerflichsten Sünder „allen Fürsten der Hölle.

“ Die aufgeputschten Christen erkennen die beiden, und trotz des heldenhaften Muts, mit dem Don Fernando seine Freunde verteidigt, dringt „die satanische Rotte“, angestachelt von einem, der sich als Jeronimos Vater ausgibt (es vielleicht sogar ist), mit „ungesättigter Mordlust“ ihnen nach. Beide und dazu, aufgrund einer Verwechslung, das Kind Don Fernandos, werden von rasenden Mob erschlagen. Fernando nimmt sogleich das fremde Kind an Sohnes Satt zu sich; wenn er den Knaben später mit dem eigenen Sohn „verglich, und wie er beide erworben hatte, so war es ihm fast, als müsst er sich freuen.“ Mit diesem vieldeutigen Satz endet eine in mancher Hinsicht rätselhafte Erzählung. Denn stärker noch als in anderen seiner Prosawerke tritt der Erzähler Kleist hier hinter das Geschehen zurück. Nur im scheinbar perspektivisch bedingten, dabei aber blitzartig die Situation erhellenden Wechsel sprachlicher Wendungen und im strukturellen Aufbau der Erzählung setzt der Dichter wiederholt Akzente, die seine innerliche Parteiannahme deutlich offenbaren.


Die Anmaßung einer göttlichen Richterrolle und ein engherziger religiöser Fanatismus stehen dem ungetrübten natürlichen Gefühl der in ihrem Herzen kindlich-unschuldigen Liebenden und dem kurzen paradiesischen Zustand der zu elementarer Menschlichkeit geläuterten Menge gegenüber. Die vom Dichter geträumte Insel der Seligkeit wird umrahmt von den Höllen am Beginn und Ende der Erzählung – eine sehr eigenartige, spannungsreiche Tektonik. Die zerstörerische Kraft der Natur am Anfang wird am Ende von der Wildheit der Menschen noch überboten. Die Frage, ob eine unbegriffene Gottheit den eruptiven Untergang einer bisher gültigen Ordnung gewollt hat, bleibt in den einander widersprechenden Tatsachen unbeantwortet. Die häufigen „Als ob“-Sätze betonen diese ungelöste Frage, deren Undurchdringlichkeit den Menschen unweigerlich auf sich selbst verweist und so hervorhebt, dass zumindest die von Menschen ausgelösten Untaten mit Gott nichts zu tun haben. Wenn die rein Empfindenden in dieser Novelle auch tragisch an der von keiner eindeutigen Instanz abhängigen Wirklichkeit zerbrechen, so bleibt doch die momentan erfüllte irdische Glückseligkeit als positives Ideal, das schnell verschüttet, aber auch wiedergewonnen werden kann, in Don Fernandos Seelengröße und in dem angenommen Kind als inneres Pfand und als sichtbare Spur erhalten.

Kleist steht mit dieser Erzählung in der Tradition der philosophischen Auseinandersetzung um das Theodizeeproblem die sich u.a. anlässlich des katastrophalen Erdbebens von Lissabon 1755, das in der Geschichte des 18. Jh. s. ein Weltereignis darstellt, neu entspann.

Die rationalistische Diskussion der Frage nach dem Dasein und Wesen Gottes und des Verhältnisses zwischen den seit W. LEIBNIZ eingeführten Kategorien des natürlichen und moralischen Übels wurde vor allem zwischen J. J. ROUSSEAU und VOLTAIRE eingeführt. Auch I. KANT beschäftigte sich mit dem Phänomen des Erdbebens, allerdings hauptsächlich als einem natürlichen Übel, während er die metaphysischen und theologischen Deutungen zurückwies.

Kleist hat vermutlich diese Diskussion gekannt, und seine Erzählung zeigt am deutlichsten eine gewisse Nähe zu Voltaire in dem dialektischen Verhältnis von natürlichem und moralischem Übel. Wie in Candide folgt auch bei Kleist auf die Überwindung des natürlichen Übels (Erdbeben) der Untergang durch das moralische Übel (Inquisition bei Voltaire, Anprangerung durch den Prediger bei Kleist), während umgekehrt in theologischer Interpretation das natürliche ein Folge des moralischen Übels darstellt. Kleist ist jedoch weit davon entfernt, eine Lösung anzubieten und steht damit nicht in der Tradition der „contes moreaux“ bzw. „contes philosophiques“ im Frankreich des 18. Jh. s.

, auch wenn er seine Ausgabe der Erzählungen zunächst „Moralische Erzählungen“ betiteln wollte. Wie in anderen Prosawerken auch, entfaltet Kleist in der Novelle Das Erbeben von Chili „nur in der ästhetischen Besonderung ein philosophisches Problemfeld, wobei die Bescheidung auf das „nur“ ihren geschichtlichen und bleibenden ästhetischen Rang ausmacht.“ Trotzdem würde ich diese „Erzählung“ als eine Kurzgeschichte betrachten, da Kleists Darstellung in markanten Details von den Berichten über das historische Erbeben abweicht! Denn das eigentliche Erdbeben fand in der Nacht statt und nicht zum Fronleichnamsfest! Die Geschichte von Jeronimo und Josephe hat er im Grunde genommen nur erfunden, um das Erdbeben zu dramatisieren, denn auf tragische Weise sterben so viele Menschen, aber den beiden Verurteilten schenkt „Gott“ ihr Leben, das aber nur von kurzer Dauer ist! Denn als sie zur einzig verschonten Kirche pilgern, um dort in der Messe für ihr Leben zu beten, werden sie wider Willen entdeckt und umgebracht. Es wird geschrieben, dass Kleist zu seinen Lebzeiten nicht viel Anerkennung bekommen hat, vielleicht weil er die Wahrheit geschrieben hat, die viele Leute nicht sehen wollen: Warum lässt uns „Gott“ in unseren schwersten Zeiten alleine? (persönliches Nachwort)

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