Kabale und liebe
Kabale und Liebe
Ein bürgerliches Trauerspiel
Erste Aufführung: 13. April 1784 in Frankfurt a. M.
Personen:
Präsident von Walter, am Hof eines deutschen Fürsten - Ferdinand, sein Sohn, Major - Hofmarschall von Kalb - Lady Milford, Favoritin des Fürsten - Wurm, Haussekretär des Präsidenten - Miller, Stadtmusikant oder wie man sie an einigen Orten nennt, Kunstpfeifer - Dessen Frau - Luise, dessen Tochter - Sophie, Kammerjungfer der Lady - Ein Kammerdiener des Fürsten -
Verschiedene Nebenpersonen:
Der adelige Ferdinand, Major und Sohn des Präsidenten, liebt das bürgerliche Mädchen Luise, Tochter des Stadtmusikanten Miller. Doch sowohl Ferdinands als auch Luises Vater lehnen die unstandes - gemäße Verbindung ab. Auf Wunsch des Präsidenten soll Ferdinand Lady Milford, die Mätresse des Herzogs, unter dessen Herrschaft das Land leidet, heiraten.
Ferdinand lernt Lady Milford, die sich für das Wohlergehen des Volkes einsetzt, zwar schätzen, gesteht ihr jedoch seine Liebe zu Luise. Im Hause Miller kommt es daraufhin zur offenen Konfrontation zwischen dem Präsidenten und Luises Familie.
Nur Ferdinands Drohung, seines Vaters verbrecherischen Aufstieg zum Präsidenten öffentlich zu machen, hält letzteren davon ab, Luise an den Pranger zu stellen. Ferdinand versucht, Luise zur gemeinsamen Flucht zu überreden. Doch diese will ihrer Liebe, die sich ihr als ein Verstoß gegen die göttliche Ordnung darstellt, entsagen. Währenddessen schmiedet der Präsident mit Ferdinands erfolglosem Nebenbuhler, Wurm, eine Intrige: Luises Eltern werden verhaftet.
Um sie zu retten, muß Luise einen Liebesbrief an den Hofmarschall von Kalb verfassen, den ihr Wurm diktiert. Sie verpflichtet sich unter Eid, zu versichern, den Brief freiwillig geschrieben zu haben. Ferdinand, dem der Brief in die Hände gespielt wird, wird von rachsüchtiger Eifersucht erfaßt und beschließt, sich und Luise zu töten. Währenddessen wird Luise zu einer Unterredung mit Lady Milford herbeigerufen, die sich - von Luises Tugend beeindruckt - entschließt, den korrupten Herzog zu verlassen. Ferdinand veranlaßt ein letztes Treffen mit Luise und vergiftet sich und die Geliebte. Erst kurz vor ihrem Tod fühlt sich Luise vom Eid befreit und gesteht Ferdinand die Wahrheit.
Sie stirbt mit Worten der Vergebung. Im Sterben reicht Ferdinand dem von ihm verdammten Vater die Hand.
1. Erste Gedanken und Entwürfe
Über den mutmaßlich ersten Plan zu dem Stück liegt ein kurzer Bericht von Schillers Schwägerin Caroline von Wolzogen (1763-1847) vor:
»Zur zweiten Vorstellung der Räuber, im Mai 1782, wagte er [Schiller] wiederum eine heimliche Reise; um sie ausführen zu können, ließ er sich als krank angeben; sie wurde entdeckt, und natürlich militärisch mit Arrest bestraft. Während dieses Arrestes war es, wo er den Plan zu Cabale und Liebe entwarf; und so erklären sich leicht die etwas grellen Situationen und Farben dieses Stückes.«
Da sich nach diesem Arrest das Verhältnis zu Herzog Karl Eugen weiter verschlechterte und dieser das über Schiller verhängte Publikationsverbot nicht aufhob, floh Schiller am 22.
September 1782 mit seinem Freund, dem Musiker Andreas Streicher (1761-1833), unter dem Namen Dr. Ritter von Stuttgart nach Mannheim. Aus Streichers Buch »Schillers Flucht« (1836) wissen wir über die folgenden Monate recht gut Bescheid. In Mannheim kam es nicht zu der von Schiller erhofften Anstellung am dortigen Theater als Theaterdichter, auch sein neuestes Stück, »Die Verschwörung des Fiesco zu Genua«, wurde sehr kühl aufgenommen; zudem mußte man die Auslieferung des Regimentsmedikus Schiller als Deserteur nach Stuttgart befürchten. So machten sich Schiller und Streicher zu Fuß nach Frankfurt auf (3.-5.
Oktober). Streicher schreibt über die Reise, indem er an seine Beobachtung anknüpft, daß Schiller »keine Ruhe früher genoß, als bis er das Gedachte, Empfundene dargestellt hatte«:
»Ebenso beschäftigte er sich während der Fußreise, die wir von Mannheim nach Frankfurt machen mußten, trotz des Verdrusses über die fehlgeschlagenen Hoffnungen unablässig mit dem Plane eines neuen Trauerspiels ›Luise Millerin‹, und kaum konnte die herrliche Bergstraße sowie die damals noch vorhandenen Ruinen seine Gedanken auf einige Augenblicke ableiten. Selbst in Frankfurt, wo die gegenwärtige Verlegenheit sowie die finstere Zukunft alles Denken und Empfinden in Anspruch nahm, dichtete und arbeitete er doch immerfort [. . .].
«
Über Schillers Arbeit in Frankfurt notiert Streicher:
»Zu Haus angelangt, überließ sich Schiller aufs neue seinen dichterischen Eingebungen und brachte den Nachmittag und Abend im Auf- und Niedergehen oder im Schreiben einiger Zeilen hin. Zum Sprechen gelangte er erst nach dem Abendessen, wo er dann auch seinem Gefährten erklärte, was für eine Arbeit ihn jetzt beschäftige. Da man allgemein glaubt, daß bei dem Empfangen und An-das-Licht-Bringen der Geisteskinder gute oder schlimme Umstände ebenso vielen Einfluß wie bei den leiblichen äußern, so sei dem Leser schon jetzt vertraut, daß Schiller seit der Abreise von Mannheim mit der Idee umging, ein bürgerliches Trauerspiel zu dichten, und er schon so weit im Plan desselben vorgerückt war, daß die Hauptmomente hell und bestimmt vor seinem Geiste standen. Dieses Trauerspiel, das wir jetzt unter dem Namen Kabale und Liebe kennen, welches aber ursprünglich Luise Millerin hatte benannt werden sollen, wollte er mehr als einen Versuch unternehmen, ob er sich auch in die bürgerliche Sphäre herablassen könne, als daß er sich öfters oder gar für immer dieser Gattung hätte widmen wollen. Er dachte so eifrig darüber nach, daß in den nächsten vierzehn Tagen schon ein bedeutender Teil der Auftritte niedergeschrieben war.« Doch auch in Frankfurt konnten Schiller und Streicher nicht lange bleiben, da Schillers finanzielle Lage aussichtslos war.
Auf Anraten des Mannheimer Theaterregisseurs Christian Dietrich Meyer reisten sie nach Oggersheim bei Worms, wo sie am 13. Oktober 1782 ankamen. Dort, im Gasthaus »Zum Viehhof«, arbeitete Schiller bis zum 30. November sowohl an der neuen Fassung des »Fiesco« als auch an seinem neuen Stück »Louise Millerin«. Über die Arbeit schreibt Streicher:
»Gleich bei dem Entwurf desselben hatte er sich vorgenommen, die vorkommenden Charaktere den eigensten Persönlichkeiten der Mitglieder von der Mannheimer Bühne so anzupassen, daß jedes nicht nur in seinem gewöhnlichen Rollenfache sich bewegen, sondern auch ganz so wie im wirklichen Leben zeigen könne. Im voraus schon ergötzte er sich oft daran, wie Herr Beil den Musikus Miller so recht naiv-drollig darstellen werde und welche Wirkung solche komische Auftritte gegen die darauffolgenden tragischen auf die Zuschauer machen müßten.
Da er die Werke Shakespeares nur gelesen, aber keines seiner Stücke hatte aufführen sehen, so konnte er auch noch nicht aus der Erfahrung wissen, wie viele Kunst von seiten des Darstellers dazu gehöre, um solchen Kontrasten das Scharfe, das Grelle zu benehmen, und wie klein die Anzahl derer im Publikum ist, welche die große Einsicht des Dichters oder die Selbstverleugnung des Schauspielers zu würdigen verstehen. Er war so eifrig beschäftigt, alles das niederzuschreiben, was er bis jetzt darüber in Gedanken entworfen hatte, daß er während ganzer acht Tage nur auf Minuten das Zimmer verließ. Die langen Herbstabende wußte er für sein Nachdenken auf eine Art zu benützen, die demselben ebenso förderlich als für ihn angenehm war. Denn schon in Stuttgart ließ sich immer wahrnehmen, daß er durch Anhören trauriger oder lebhafter Musik außer sich selbst versetzt wurde, und daß es nichts weniger als viele Kunst erforderte, durch passendes Spiel auf dem Klavier alle Affekte in ihm aufzureizen. Nun mit einer Arbeit beschäftigt, welche das Gefühl auf die schmerz-hafteste Art erschüttern sollte, konnte ihm nichts erwünschter sein, als in seiner Wohnung das Mittel zu besitzen, das seine Begeisterung unterhalten oder das Zuströmen von Gedanken erleichtern könne.
Er machte daher meistens schon bei dem Mittagstische mit der bescheidensten Zutraulichkeit die Frage an S[treicher]: ›Werden Sie nicht heute abend wieder Klavier spielen?‹ - Wenn nun die Dämmerung eintrat, wurde sein Wunsch erfüllt, währenddem er im Zimmer, das oft bloß durch das Mondlicht beleuchtet war, mehrere Stunden auf und ab ging und nicht selten in unvernehmliche, begeisterte Laute ausbrach.
Auf diese Art verflossen einige Wochen, bis er dazu gelangte, über die bei Fiesco zu treffenden Veränderungen mit einigem Ernste nachzudenken; denn solang er sich von den Hauptsachen seiner neuen Arbeit nicht loswinden konnte, solange diese nicht entschieden vor ihm lagen, solang er die Anzahl der vorkommenden Personen und wie sie verwendet werden sollten, nicht bestimmt hatte, war auch keine innere Ruhe möglich.«
2. Die Bauerbacher Fassungen
Da Schiller in Oggersheim vor möglichen Verfolgungen des württembergischen Herzogs nicht sicher war, begab er sich auf das bei Meiningen in Thüringen gelegene Gut Bauerbach, das ihm von Henriette v. Wolzogen, einer mütterlichen Freundin und Gönnerin, die er von Stuttgart her kannte, als Zuflucht angeboten worden war. Er kam dort am 7. Dezember 1782 nach siebentägiger Reise an.
In der Abgeschiedenheit von Bauerbach beendete er die erste Fassung der »Louise Millerin«. Schiller an den Meininger Hofbibliothekar Wilhelm Friedrich Hermann Reinwald (1737-1815), 17. Dezember 1782:
»Nach Verfluß von 12 oder 14 Tagen bringe ich ein neues Trauerspiel zu Stande, davon ich Sie zum geheimen Richter ernennen will.«
Schiller an Reinwald, 23. Dezember 1782:
»Mein Spaziergang nach Meiningen dörfte sich vermutlich bis nach den Feiertagen verzögern. Erstlich, weil ich gern ununterbrochen an meinem vorliegenden Stüke fortarbeiten möchte, biß es zu Ende ist, und dann zweitens weil ich nicht mit Equipage genug versehen bin, um mich sonntäglich in der Stadt zu producieren.
Sie werden mir einen Dienst erzeigen, wenn Sie mir die Romeo u[nd] Juliette mit dem bäldisten verschaffen, weil ich etwas daraus zu meinem S[tück] zu schlagen gedenke.«
Schiller an Streicher, 14. Januar 1783:
Mein neues Trauerspiel ›Louise Millerin‹ genannt, ist fertig.«
Schiller an Reinwald, 29. Januar 1783:
»Meine L[ouise] Millerin geht mir im Kopf herum. Sie glauben nicht, was es mich Zwang kostet, mich in eine andre Dichtart hineinzuarbeiten.
«
Schiller an Reinwald, 14. Februar 1783:
»Heute, mein Lieber, werden Sie mit allerley Aufträgen heimgesucht. [. . .] Zum Vierten (lachen Sie mich nicht aus) schenken Sie mir doch etwas Dinte, oder weisen Sie die Judith an, wo man gute bekommt.
Doch will ich sie lieber von einem Gelehrten als von einem Schulmeister. [. . .] Zum Sechsten [schicken Sie mir] ein Buch recht gutes Schreibpapier, meine ›Louise Millerin‹ darauf abzuschreiben. Das holländische stumpft mir die Federn so ab.
«
Mitte März 1783 wandte sich der Mannheimer Theaterintendant Heribert von Dalberg wieder an Schiller und zeigte Interesse an »Louise Millerin«. Schiller ging auf Dalbergs Angebot ein und begann mit der Fertigstellung bzw. Umarbeitung des Stücks.
Schiller an Henriette von Wolzogen, 27. März 1783:
»Die Mannheimer verfolgen mich mit Anträgen um mein neues ungedruktes Stük, und Dalberg hat mir auf eine verbindliche Art über seine Untreue Entschuldigung gethan.«
Schiller an Reinwald, 27.
März 1783:
»Ob ich mit Dalberg zu Rande kommen kann, zweifle ich. Ich kenne ihn ziemlich, und meine Louise Millerin hat zerschiedene Eigenschaften an sich, welche auf dem Theater nicht wol passieren Z[um] e[xempel] die gothische Vermischung von komischem und tragischem, die allzu freie Darstellung einiger mächtigen Narrenarten, und die zerstreuende Mannichfaltigkeit des Details. Eröfnen Sie mir Ihre Meinung darüber.«
Schiller an Dalberg, 3. April 1783:
»Eure Exzellenz verzeihen daß Sie meine Antwort auf Ihre gnädige Zuschrift erst so spät erhalten. [.
. .] E. E. scheinen, ungeachtet meines kürzlich mislungenen Versuchs noch einiges Zutrauen zu meiner Dramatischen Feder zu haben. Ich wünschte nichts, als solches zu verdienen, weil ich mich aber der Gefar, Ihre Erwartung zu hintergehen, nicht neuerdings aussezen möchte, so nehme ich mir die Freiheit, Ihnen einiges von dem Stüke vorauszusagen.
Außer der Vielfältigkeit der Karaktere und der Verwiklung der Handlung, der vielleicht allzufreyen Satyre, und Verspottung einer vornehmen Narren- und Schurkenart hat dieses Trauerspiel auch diesen Mangel, daß komisches mit tragischem, Laune mit Schreken wechselt, und, ob schon die Entwiklung tragisch genug ist, doch einige lustige Karaktere und Situationen hervorragen. Wenn diese Fehler, die ich EE. mit Absicht vorhersage, für die Bühne nichts anstößiges haben so glaube ich daß Sie mit dem übrigen zufrieden seyn werden. Fallen sie aber bei der Vorstellung zu sehr auf, so wird alles übrige, wenn es auch noch so vortreflich wäre, für Ihren Endzwek unbrauchbar seyn, und ich werde es beßer zurükbehalten. Dieses überlaße ich nun dem Urtheil EE. Meine Kritik würde zuviel von meiner Laune und Eigenliebe partizipieren.
«
1. Literarische Einflüsse
»An erster Stelle muß aus dem Sturm und Drang, der in den siebziger Jahren seine hohe Zeit in der deutschen Literatur gehabt hatte, Heinrich Leopold Wagner mit seinem Drama ›Die Reue nach der Tat‹ (1775) genannt werden. Daß Schiller dieses Stück kannte, geht aus dem Aufsatz ›Über das gegenwärtige teutsche Theater‹ hervor. Die Handlung läuft in ›Kabale und Liebe‹ ganz ähnlich ab wie in ›Die Reue nach der Tat‹; außerdem gleicht Musikus Miller, als Vater von Luise, Wagners Kutscher Walz, dem Vater der unglücklichen Friderike. Ein anderes Wagnersches Stück, ›Die Kindermörderin‹ (1776), wurde Schiller bei seinem zweiten Mannheimer Aufenthalt Ende Mai 1782 von Dalberg mitgegeben (vgl. Schillers Brief vom 15.
Juli). Hier stellt Wagner, wie es dann auch Schiller tut, dem biederen Vater eine bornierte Mutter zur Seite, der es schmeichelt, daß ein adliger Offizier an ihrer Tochter Gefallen findet.
Auf Ferdinand hat offensichtlich der Held in ›Julius von Tarent‹ (1776) von Johann Anton Leisewitz abgefärbt. Beide machen gegenüber dem ›menschlichen Regelwerk‹, d. h. gegenüber der Gesellschaftsordnung, das Recht des Herzens als natürliche Weltordnung geltend.
Einige Stellen stimmen fast bis aufs Wort überein (vgl. ›Kabale und Liebe‹ I,4 und ›Julius von Tarent‹ II,1). Das Verhältnis, in dem Schiller zu Friedrich Maximilian Klingers Drama ›Das leidende Weib‹ (1775) steht, hat Otto Brahm untersucht. Noch 1803 schreibt Schiller: ›Sagt dem General Klinger, wie sehr ich ihn schätze. Er gehört zu denen, welche vor 25 Jahren zuerst und mit Kraft auf meinen Geist gewirkt haben.‹Einen überraschend starken Eindruck hat der junge Schiller außerdem von seinem Landsmann Freiherrn Otto von Gemmingen empfangen.
Dessen weinerliches Familienschauspiel ›Der deutsche Hausvater‹, eine Bearbeitung von Diderots ›Le Père de Famille‹, fand er, nach einem Brief vom 12. Dezember 1781 an Dalberg, ›ungemein gut‹. Graf Karl liebt hier die Tochter eines Malers und nimmt bei ihm Zeichenstunde, wie Ferdinand bei Musikus Miller das Flötenspiel lernt. Der Lady Milford entspricht eine Gräfin Amaldi, nach den Worten des Grafen ›ein großes, herrliches Weib, eine männliche Seele‹. Mit dem Hinzutreten eines geschwätzigen Gecken, dem Hofmarschall von Kalb vergleichbar, ergibt sich in Gemmingens Stück schon fast die selbe Personengruppierung wie in ›Kabale und Liebe‹. Der Schauplatz wechselt hier wie dort zwischen Adelspalais, Bürgerstube und Boudoir der großen Dame.
In der Ausgestaltung der Charaktere freilich und in der Handlungsführung erscheint uns ›Der deutsche Hausvater‹ alles andere als ›ungemein gut‹. Die tränenreichen Verwicklungen, durch die Gemmingen jeder Person Gelegenheit gibt, mehr oder weniger Edelmut an den Tag zu legen, laufen schließlich auf ein happy end hinaus. Weitere Anregungen verdankt Schiller seinem Landsmann Johann Martin Miller, der mit ›Sigwart, eine Klostergeschichte‹ (1776) einen der beliebtesten Moderomane in der Nachfolge des ›Werther‹ geschrieben hatte. In einer Szene dieses Romans dringt der Vater des adligen Liebhabers bei einem Amtmann ins Haus ein, um dessen empfindsame Tochter zur Aufhebung ihres Verhältnisses mit dem jungen Herrn zu zwingen; dieser soll eine Dame seines Standes heiraten können. Miller gestaltet solche Szenen oft dialogisch und gibt mit manchen den Ton für ›Kabale und Liebe‹ an: ›Kronhelm . .
. (Er sah sie scharf an; sie wandte das Gesicht weg): Sie scheinen mir so mißtrauisch und so kalt zu seyn. Therese: Das bin ich nicht. - Soll ich etwas auf dem Klavier spielen? Kronhelm: Wenn Sie wollen. Aber dißmal spräche ich lieber. Therese: Auch gut! Wovon wollen wir denn sprechen? Kronhelm: Wovon, meine Liebe? Das fragten Sie doch sonst nicht.
Therese: Ach, ich weiß nicht. Mir ist heut so wunderlich zu Muth! Ich habe Kopfweh‹ (Ausgabe von 1778, 2. Band, S. 69). Aus der Ahnenreihe der adligen Gegenspielerin des Bürgermädchens, der Ahnenreihe von Schillers Lady Milford, lernten wir die Gräfin Amaldi bei Gemmingen kennen. Natürlich gehören dazu auch Lady Marwood in Lessings ›Miss Sara Sampson‹ und Gräfin Orsina in ›Emilia Galotti‹.
Am Anfang steht Lady Millwood im ›London Merchant‹ von Lillo (1731). Lessings Marinelli können wir als eines der Vorbilder des Sekretärs Wurm ansprechen. Wie eingehend Lessing von Schiller studiert wurde, beweisen die Stellen in ›Kabale und Liebe‹, an denen nach Lessings Manier ein Gesprächspartner in rhetorischer Frage die Aussage seines Gegenüber wiederholt. So nimmt Ferdinand (II,3) Worte der Milford auf: ›Gezwungen, Lady? gezwungen gab? und also doch gab?‹ Nur an drei Einzelheiten sei noch erinnert. Indem er auf den Kirchgang Emilias anspielt, sagt Appiani (II,7): ›So recht, meine Emilia, ich werde eine fromme Frau an Ihnen haben‹; Wurm versichert in gleichem Zusammenhang (II,2): ›Das freut mich, freut mich. Ich werd einmal eine fromme, christliche Frau an ihr haben‹.
Zu Ende der II. Szene des III. Aktes ruft Appiani: ›Geh, Nichtswürdiger!‹ und fügt daran die Bemerkung: ›Ha! das hat gut getan. Mein Blut ist in Wallung gekommen. Ich fühle mich anders und besser‹; fast ebenso beschließt Lady Milford die 6. Szene des IV.
Aktes: ›Hinweg! Ich befehls! . . . gut! Recht gut, daß ich in Wallung kam. Ich bin, wie ich wünschte‹. Selbst das Motiv, das den ersten Anstoß zur Handlung gibt und gleichsam die Lawine ins Rollen bringt, daß nämlich der Fürst vor der eigenen Hochzeit seine Favoritin loswerden und durch eine Heirat versorgen will, fand Schiller in ›Emilia Galotti‹ vorgezeichnet.
Klopstocks Diktion klingt in den Dialogen zwischen Luise und Ferdinand, Luise und der Lady wider. Dem Vorgang Klopstocks verdankt wohl auch Ferdinand den Stolz auf sein Deutschtum. Letzten Endes jedoch steht Schillers Drama im Kraftfeld von Rousseau und Shakespeare.«
2. Württembergische Zustände unter Herzog Karl Eugen
Herzog Karl Eugen (1728-93) regierte seit 1745, damals noch minderjährig, sein Land selbständig.
»Der Hof eines Landes, das nicht mehr als 600000 Einwohner auf 155 Quadratmeilen zählte, wurde der prächtigste in Europa.
Der Hofstaat umfaßte 2000 Personen, unter denen sich 169 Kammerherren von Adel nebst 20 Prinzen und Reichsgrafen befanden. Wenn der Herzog auf Reisen ging, und er reiste leidenschaftlich gern, so bestand sein Gefolge aus 700 Personen und 610 Pferden. Die Feste drängten sich, Bälle, Konzerte, Schlittenfahrten, Jagden, Feuerwerke reihten sich aneinander und zogen Vornehme in Scharen an. Manchmal hat der Herzog 300 Personen von Rang wochenlang unterhalten und mit den feinsten und teuersten Leckerbissen bewirtet. Einzelne dieser Veranstaltungen kosteten 3 bis 400000 Gulden, erhielten die Damen doch manchesmal dabei Geschenke im Werte von 50000 Talern. Ganz besonders berühmt waren die Feiern, mit denen der Herzog seinen Geburtstag beging.
1763 war in Ludwigsburg bei dieser Gelegenheit eine Orangerie errichtet worden, die tausend Fuß lang war, so daß die Orangen- und Zitronenbäume hohe, gewölbte Gänge bildeten. Als die Eingeladenen sich in ihnen dem Schloß nähern, befinden sie sich plötzlich in Wolken, die sich aber auf einen Wink des Herzogs teilen und den Olymp mit allen Göttern sehen lassen. Zeus befiehlt, den Palast der Pracht zu errichten, worauf auch die letzte Wolke verschwindet und man im mittleren Schloßhof den Palast erblickt, den goldene Säulen tragen und 200000 Kerzen und Lampen erleuchtend.«
Die Art und Weise, wie der Herzog seinem Land das Geld für sein aufwendiges Leben abpreßte, kannte Schiller teils aus eigener Erfahrung, teils durch die Tätigkeit seines Vaters, der seit 1775 Leiter der herzoglichen Hofgärtnerei auf dem Schloß Solitude war. Das letzte große Geldverschleudern des Herzogs erlebte Schiller vor seiner Flucht aus Stuttgart und vor der Niederschrift von »Louise Millerin« im Sommer 1782 anläßlich des Besuchs des Großfürsten Paul von Rußland, der seit 1776 mit der Prinzessin Sophia Dorothea von Württemberg verheiratet war. Die Theateraufführungen, Bälle und Jagdveranstaltungen, die der Herzog ausrichtete, kosteten Unsummen.
Gotthilf Kleemann hat die entsprechenden Dokumente aus dem Hauptstaatsarchiv Stuttgart (HStASt) und dem Staatsarchiv Ludwigsburg (StAL) aufgearbeitet und z. T. zusammengefaßt:
Gebersheim: Wegen dem von Tag zu Tag fürdauernden ›Gejaid‹ und der dahin abzugebenden halben Jagensmannschaft und da auch die Maurer und ein Zimmermann bereits in herrschaftlicher Arbeit stehen, können bei der geringen Anzahl der Taglöhner keine Handfröner mehr auf die Solitude geschickt werden. - Warmbronn: Für die Solitude kann kein Mann gestellt werden, da bereits das Jagen rings um unsern Ort stehet und die ganze Bürgerschaft zum Verfeuern gebraucht wird. (Rings um alle Jagddistrikte mußten unter ungeheurem Holzverbrauch nächtliche Feuer unterhalten werden, um das Wild von dem Ausbrechen abzuschrecken.) - Gerlingen: Die Gemeinde kann vom 20.
August an keine 25 Mann und 3 Truhenkästen je mit einem Pferd stellen, weil das Jagen im Gerlinger Wald stehet und alle Tage über 50 Mann gebraucht werden, auch alle Tage viel Pferde, um die Zeugwagen zu führen. Bisher schon über 80 Pferd gebraucht, teils zum Holzführen für das Verfeuern. (Die Gemeinde mußte trotzdem täglich 12-20 Mann zu Arbeiten am Bärensee hergeben.) Wegen vielem Feldgeschäft suchen die Bauern nach Buben zur Aushilfe, anstatt 6 Kreuzer muß man für diese 18 bis 20 Kreuzer geben und noch Brot und Trinken zur Belohnung. -
HStASt, A 572, Bü. 100.
[. . .]
Vor Ankunft der Hohen Russischen Herrschaften haben viele Handwerksleute als Hofdreher, Hofflaschner, Vergolder, Stukkators u. dgl. auf der Solitude gearbeitet, dort im Wirtshaus keine Unterkunft gefunden.
Damit aber doch nach höchster Intention Serenissimi noch alles repariert und ausgeführt werden konnte, mußten dergleichen Arbeiter über Nacht behalten werden, weilen sonsten durch das Hin- und Herlaufen nach Stuttgart wenigstens 3-4 Stunden des Tags sie an der Arbeit versäumt hätten. Es mußte noch vor solcher Hoher Ankunft in vielen Zimmern, worinnen Handwerksleute geschafft, die Trumeaux, Malereien, Tapeten u. dgl. mit Lailacher (Leintücher) überdeckt werden. - Bei der Solituder Hausschneiderei mußten Domestiquen eingestellt werden. -
StAL, A 27, 1.
[. . .]
Hier sei eine von Pfarrer Flattich (Münchingen) überlieferte Geschichte eingefügt, die jene üppig besetzten Festwochen trefflich charakterisiert. Auf einem Spaziergang traf Großfürst Paul einen biederen Mann aus dem Volk und fragte ihn, ob er auch begierig sei, den Großfürsten zu sehen? Der Angeredete sprach: Ich brauche den hohen Herrn nicht persönlich zu sehen, denn ich weiß im voraus, daß ich ihn 10 Jahre lang in meinem Steuerzettel sehen werde. Diese offenherzige Antwort belohnte der Großfürst mit einem Goldstück.
«
Während eines großen Feuerwerks für die russischen Gäste auf der Solitude verließen Schiller und Streicher am Abend des 22. September 1782 Stuttgart. Wenn es um das Geld für ihre aufwendige Hofhaltung ging, waren viele deutsche Fürsten nicht wählerisch. Eine Möglichkeit zur Geldbeschaffung sahen sie in der Vermietung oder dem Verkauf von Soldaten an ausländische Herrscher. Diese Praxis begann während des Siebenjährigen Krieges (1756-63) und fand ihre Fortsetzung während des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges (1775-83). Auch Herzog Karl Eugen von Württemberg suchte sich diese Geldquelle zu erschließen.
Der schwäbische Dichter und Journalist Christian Friedrich Daniel Schubart (1739-1791), der wegen seiner Kritik am Herzog von 1777 bis 1787 auf dem Hohen Asperg eingekerkert war, schrieb in der von ihm herausgegebenen »Teutschen Chronik« am 25. März 1776:
»Hier ist eine Probe der neuesten Menschenschatzung! - Der Landgraf von Hessenkassel bekommt jährlich 450000. Thaler für
Fragment der ersten Niederschrift und Varianten
Bis auf ein Fragment der ersten Niederschrift (aus Szene II,3) liegen weder Entwürfe zu »Kabale und Liebe« vor, noch existiert eine handschriftliche Fassung. Varianten gegenüber dem Erstdruck (»Kabale und Liebe ein bürgerliches Trauerspiel in fünf Aufzügen von Fridrich Schiller. Mannheim, in der Schwanischen Hofbuchhandung, 1784.« und »Kabale und Liebe ein bürgerliches Trauerspiel in fünf Aufzügen von Fridrich Schiller.
Frankfurt und Leipzig. 1784.«) bietet jedoch die Theaterfassung für die Mannheimer Premiere 1784. Diese Theaterfassung, das sogenannte ›Mannheimer Soufflierbuch‹, stammt von Schiller. Über alle Einzelheiten der Textüberlieferung und Textkritik unterrichten der Anhang zu Band 5 der Nationalausgabe (Weimar 1957) und vor allem der Apparat zur kritischen Ausgabe von Herbert Kraft (Mannheim 1967).
1.
Fragment der ersten Niederschrift
(›Bauerbacher Fragment‹)
Das in der Textgeschichte von »Kabale und Liebe« mit der Sigle H bezeichnete Fragment von Szene II,3 ist ein aus der Zeit der ersten Niederschrift in Bauerbach stammendes, von Schiller beidseitig beschriebenes Quartblatt, das »jedenfalls vor dem 23. April 1783 anzusetzen ist«. Die Handschrift befindet sich heute im Goethe-und-Schiller-Archiv in Weimar. Die folgende Transkription gibt aus Gründen der Lesbarkeit den Text der Nationalausgabe, die beste textkritische Wiedergabe findet sich in der Ausgabe von Kraft. Die Zusätze in eckigen Klammern stammen von den Herausgebern Heinz Otto Burger und Walter Höllerer.
»einst gegeneinander stellt - Aber Sie haben die Engländerin in mir aufgefodert,
FERDINAND aufmerksam, auf seinen Degen gestützt LADY Hören Sie also, was ich außer Ihnen noch niemand vertraute, noch jemals einem Menschen vertrauen will.
Ich bin nicht die Abentheurerin, Wieser, für die Sie mich halten. Ich könnte gros thun und sagen, ich bin fürstlichen Geblüts - aus der unglüklichen Thomas Norfolks Geschlechte, der für die schottische Maria ein Opfer ward. Mein Vater - des Königs oberster Kämmerer wurde bezüchtigt, in verräthrischem Vernehmen mit Frankreich zu stehen, durch einen Spruch der Parlamente verdammt, und enthauptet. Alle unsre Güter fielen der Krone zu. Wir selbst wurden [d]es Landes verwiesen. Meine Mutter starb am Tage [d]er Hinrichtung.
Ich - ein dreizehnjähriges Mädchen - [f]lohe nach Teutschland mit meiner Amme, einem Kästchen [J]uweelen, und diesem Familien meine sterbende Mutter mit ihrem letzten Seegen mir in den Busen stekte -FERDINAND
LADY fährt fort unter grosen inern Bewegungen Krank -ohne ohne Vermögen - ohne Namen - eine
ausländische Wayse kam ich nach Hamburg. Ich hatte nichts gelernt als etwas französisch - ein wenig Filet und den Flügel; desto beßer verstund ich, auf Gold und Silber zu speisen, unter damastenen Deken zu schlafen, mit einem Wink zehen Bediente fliegen zu machen, und die Schmeicheleien der Grosen Ihres Geschlechts anzuhören. - Fünf Jare waren schon hingeweint - Die lezte Schmuknadel flog dahin. - Meine Amme starb - und jezt führte mein Schiksal Ihren Herzog nach Hamburg. Ich spazierte an den Ufern der Elbe - sah in den Fluß, und fieng an zu phantasieren, ob dieses Waßer, oder mein Leiden [verb. aus: Elend] wol tiefer wäre? Der Herzog sah mich - verfolgte mich - fand meinen Auffenthalt [verb.
aus: meine Einsamkeit] - lag zu meinen Füßen und schwur daß er mich liebe. Alle Bilder meiner glüklichen Kindheit wachten jezt wieder mit verfürendem Schimmer auf - Schwarz, wie das Grab, gähnte mich eine
Trostlose Zukunft an - Mein Herz brannte nach eine[m] Herzen - Ich sank an das Seinige mit einem Strome von Tränen Jezt verdammen Sie mich! sie will sich hinausstürzen
FERDINAND der diese ganze Zeit über in tiefer Erschütterung stand, fährt mit Heftigkeit auf, folg[t] der Lady, und stürzt ihr zu Füßen Das ist wider die Abrede Lady - Sie solten Sich von Anklagen reinige[n] und machen mich zu einem Verbrecher - Fluch über«
2. Varianten aus dem ›Mannheimer Soufflierbuch‹
Im Februar 1784 begann Schiller sein Stück für eine Aufführung auf der Mannheimer Bühne zu bearbeiten. Seine Streichungen und Zusätze trug der Souffleur und Theaterschreiber Johann Daniel Trinkle - wohl nach Schillers Handexemplar - im März 1784 in ein Exemplar des gerade erschienenen Erstdruckes (Frankfurt und Leipzig 1784) ein. Als Schiller dann - ebenfalls im März - daranging, sein Stück in Mannheim selbst zu inszenieren, nahm er die erneuten Textänderungen dieser Inszenierungsarbeit noch in die offensichtlich schon fertige Theaterfassung auf. Diese zweite Bearbeitung ist nur an einigen Stellen mit Sicherheit von der ersten zu trennen, so z.
B. in der letzten Szene (s. u.). Auf der so entstandenen Fassung beruhte dann die Mannheimer Premiere vom 15. April 1784.
Diese Fassung diente mit verschiedenen Änderungen bis ins 19. Jahrhundert hinein als Regiebuch für Inszenierungen am Mannheimer Theater und wird in der Textgeschichte als das ›Mannheimer Soufflierbuch‹ (Sigle M) bezeichnet. Es befindet sich in der Wissenschaftlichen Stadtbibliothek in Mannheim und wurde ebenfalls von Herbert Kraft ediert (Mannheim 1963). Die Grundsätze, nach denen Schiller seine Bearbeitung vornahm, lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: 1. Beschränkung der Spieldauer, 2. Zugeständnisse an die kirchliche Zensur, 3.
Milderung des Ausdrucks, 4. Politische Rücksichtnahmen, 5. Zurücknahme des bildlichen Ausdrucks, 6. Erleichterung des Verständnisses, 7. Änderungen in der Entwicklung der Charaktere.
Letzte Szene
In der letzten Szene lassen sich die erste und die zweite Bearbeitung verhältnismäßig gut voneinander trennen.
Im folgenden werden beide Bearbeitungen eines Teils dieser Szene abgedruckt, Text und Apparat folgen der kritischen Ausgabe von Kraft. < > bezeichnet Ergänzungen des Herausgebers Kraft, / den Beginn einer neuen Zeile. (a) und (b) bezeichnen Änderungen innerhalb der Bearbeitung, die Reihenfolge ist chronologisch zu verstehen. Die Buchstaben R und T bezeichnen das Schreibmaterial der Änderungen: T = Tinte, R = Rötel, dabei T3 Änderungen mit Tinte, bei denen die Autorschaft Schillers unsicher ist.
Erste Bearbeitung
MILLER (fällt an ihr zu Boden). O Jesus! / FERDINAND.
In wenig
Worten Vater - Sie fangen an mir kostbar zu werden - Ich bin bübisch
um mein Leben bestohlen, bestohlen durch Sie. Wie ich mit Gott
stehe, zittre ich - doch ein Bösewicht bin ich niemals gewesen. Mein
ewiges Los falle, wie es will - auf Sie fall es nicht - Aber ich hab einen
Mord begangen (mit furchtbar erhobener Stimme) einen Mord, den
Du mir nicht zumuten wirst allein vor den Richter der Welt
hinzuschleppen, feierlich wälz ich dir hier die größte gräßlichste
Hälfte zu, wie du damit zurecht kommen magst, siehe du selber (zu
Luisen ihn hinführend). / MILLER (vom Leichnam aufspringend
mit gräßlicher Stimme). Tot ist sie! tot! tot! - (Zum Präsidenten.)
Mörder, gib mir sie wieder! Um Gotteswillen! gib mir sie wieder! /
PRÄSIDENT (eine schreckliche Bewegung des Arms gegen den
Himmel).
Von mir nicht, von mir nicht, Richter der Welt, fodre diese
Seele von diesem! (Er geht auf Wurm zu.) / WURM (auffahrend).
Von mir? / MILLER (heftiger). Mörder! Mörder! Es war meine
Einzige! gib mir sie wieder! Gib mir meine einzige wieder! /
PRÄSIDENT (zu Wurm). Verfluchter von Dir! von dir Satan! - Du, du
gabst den Schlangenrat - Über Dich die Verantwortung - Ich wasche
die Hände. / WURM.
Über mich? - (Er fängt gräßlich an zu lachen.)
Lustig! lustig! So weiß ich doch nun auch, auf was Art sich die Teufel
danken. - Über (a) mich die Verantwortung (b) mich, dummer
Bösewicht? war es mein Sohn? war ich dein Gebieter? - Über mich
die Verantwortung? Ha! bei diesem Anblick, der alles Mark in
meinen Gebeinen erkältet! Über mich soll sie kommen! - Jetzt will
ich verloren sein, aber du sollst es mit mir sein. - Auf! auf! Ruft
Mord durch die Gassen! weckt die Justiz auf! Gerichtsdiener bindet
mich! führt mich von hinnen! Ich will Geheimnisse aufdecken, daß
denen, die sie hören, die Haut schauern soll. (Will gehen.) /
PRÄSIDENT (hält ihn zurück).
Du wirst doch nicht, Rasender? /
WURM (klopft ihn auf die Schultern). Ich werde, Kamerad! Ich
werde - Rasend bin ich, das ist wahr - das ist dein Werk - so will ich
auch jetzt handeln wie ein Rasender - Arm in Arm mit Dir zum
Blutgerüst! Arm in Arm mit Dir zur Hölle! Es soll mich kitzeln, Bube,
mit Dir verdammt zu sein. (Er wird abgeführt.) / MILLER (wieder
vor der Leiche). Luise! meine Luise! hörst du deinen Vater nicht
mehr? (Springt auf.) Mörder! Um Gotteswillen (Lücke) /
PRÄSIDENT (steht schnell auf).
Er vergab mir! (Zu den andern.)
Jetzt euer Gefangener! (Er geht ab.) / GERICHTSDIENER (folgen
ihm). / (Der Vorhang fällt.)«
Zweite Bearbeitung
»MILLER (bleibt eine schreckliche Pause lang in stummer
Verzweiflung u.<nd> mit starrem Blick vor der Leiche stehen.
Dann
hohl u.<nd> schrecklich). Gott sei meiner Seele gnädig! (Er stürzt)
Zeittafel
1759 Geburt von Johann Christoph Friedrich Schiller am 10. November in Marbach am Neckar als zweites Kind von Elisabeth Dorothea (geb. Kodweiß) und Johann Kaspar Schiller, der Wundarzt und später Offizier war.
1764 Nach wechselnden Stationierungen, bedingt durch den Beruf des Vaters, Umzug nach Lorch.
Unterricht bei Pfarrer Moser auch in Latein.
1766 Dezember: Versetzung des Vaters nach Ludwigsburg (Herzog Karl Eugens Hof war bereits 1764 dorthin verlegt worden).
1767 Besuch der Lateinschule bis 1772. Freundschaft mit Friedrich von Hoven.
1772 26. April: Aus Anlaß der Konfirmation zwei Gedichte, eines lateinisch, eines deutsch, als Geschenk für die Eltern.
Die Christen, Absalon (beide verlorengegangen), zwei Trauerspielversuche.
1773 16. Januar: Nach wiederholter Aufforderung an den Vater durch Herzog Karl Eugen Eintritt in die "Militär-Pflanzschule" (später: Hohe Karlsschule) auf Schloß Solitude bei Stuttgart.
1774 Beginn eines Jurastudiums. Geheimer Dichterbund mit Hoven, Georg Friedrich Scharffenstein und Wilhelm Petersen.
1775 Verlegung der Militärakademie nach Stuttgart und Beginn eines Medizinstudiums.
1776 Durch den Einfluß Professor Abels Bekanntschaft mit den Werken Shakespeares. Rosmus von Medici (verlorengegangen) und erste Veröffentlichung von Der Abend in Balthasar Haugs (eines Lehrers an der Militärakademie) Schwäbischem Magazin.
1777 Beginn der Arbeit an Die Räuber.
1779 10. Januar: Festrede zum Geburtstagsfest der Reichsgräfin von Hohenheim. Dissertation Philosophie der Physiologie nicht angenommen.
14. Dezember: Im Gefolge von Karl August von Sachsen-Weimar Besuch Goethes in der Akademie anläßlich der Stiftungsfeierlichkeiten.
1780 11. Februar: Mitwirkung bei der Aufführung von Goethes Clavigo. November: Dissertation Versuch über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen angenommen. Fortsetzung der Arbeiten an Die Räuber.
15. Dezember: Entlassung aus der Akademie und Anstellung als Regimentsarzt im Grenadierregiment des Generals Augé in Stuttgart.
1781 Wohnung bei der Hauptmannswitwe Luise Dorothea Vischer (Oden an Laura). Bearbeitung der Räuber und Herausgabe anonym im Selbstverlag in Stuttgart. Überarbeitung für die Bühne (Erstausgabe: Mannheim: Schwanische Buchhandlung, 1782; Uraufführung: 13. Januar 1782 in Mannheim).
1782 Heimliche Reise zur Uraufführung.
Februar: Anthologie auf das Jahr 1782, eine 83 Gedichte (50 davon von Schiller) umfassende Sammlung (anonym veröffentlicht).
25. Mai: Zweite Reise nach Mannheim. Mitherausgeber des Wirtembergischen Repertoriums der Literatur.
1.
- 14. Juli: Arreststrafe wegen der unerlaubten Reisen.
August: Verbot von weiteren schriftstellerischen Tätigkeiten durch Herzog Karl Eugen.
22./23. September: Flucht mit seinem Freund Andreas Streicher, einem Musiker, nach Mannheim.
Oktober: Reise nach Frankfurt und Oggersheim unter dem Namen Schmidt.
7. Dezember: Als Dr. Ritter auf Gut Baucherbach/Thüringen auf Einladung von Henriette von Wolzogen. Beginn der Arbeit an Kabale und Liebe (Erstausgabe: Mannheim: Schwanische Buchhandlung, 1784; Uraufführung:
15. April 1784 in Frankfurt a.
Main) und Die Verschwörung des Fiesko zu Genua. (Erstausgabe: Mannheim: Schwanische Buchhandlung, 1783; Uraufführung: 11. Januar 1784 in Mannheim).
1783 Januar: Wiederholtes Zusammentreffen mit Charlotte, der Tochter Henriette von Wolzogens.
Juli: Reise über Frankfurt nach Mannheim. Arbeit an Don Carlos (Erstausgabe: Leipzig: Göschen, 1787; Uraufführung: 29.
August 1787 in Hamburg).
1. September: Anstellung als Theaterdichter bis 31. August 1784. Schwere Erkrankung. Bekanntschaft mit Wilhelm Friedrich Hermann Reinwald, Bibliothekar in Meiningen.
1784 Aufnahme in die kurfürstliche deutsche Gesellschaft.
Juni: Geschenke von seinem Verehrer Christian Gottfried Körner und dessen Freundeskreis in Leipzig. Bekanntschaft mit Charlotte von Kalb.
26. Dezember: Lesung des ersten Aktes von Don Carlos.
27.
Dezember: Verleihung des Titels eines herzoglichen Rates durch Karl August von Weimar.
1785 März: Erscheinen des ersten Hefts der Rheinischen Thalia zuerst im Selbstverlag, später bei Göschen unter Thalia fortgesetzt. Bekanntschaft mit Margarete Schwan.
3. April: Reise nach Leipzig als Gast von Christian Gottfried Körner. Bekanntschaft mit Minna und Dora Stock und Ludwig Ferdinand Huber.
Anfang Mai: Übersiedlung nach Gohlis in der Nähe von Leipzig. Bekanntschaft mit dem Verleger Georg Joachim Göschen.
11. September: Umzug nach Dresden in das Weinberghaus Körners in Loschwitz. An die Freude. Ein Rundgesang für freie Männer.
(Erstausgabe 1786). Bekanntschaft mit dem Maler Anton Graff.
1786 22. Juni: Heirat Christophine Schillers, seiner Schwester, mit Reinwald. Arbeit am Menschenfeind. Erscheinen von zwei weiteren Heften der Thalia.
1787 Januar: Begegnung mit Henriette von Arnim. Der Geisterseher (ein Fragment) begonnen (Erstausgabe: Göschen, Leipzig: 1789).
April - Mai: Aufenthalt in Tharandt.
21. Juli: Reise nach Weimar. Wiedersehen mit Charlotte von Kalb, Bekanntschaft mit Wieland und Herder.
21. - 27. August: Besuch in Jena.
28. August: Besuch des Geburtstagsfestes für Goethe in dessen Abwesenheit.
6.
Dezember: Erster Besuch in Rudolstadt bei der Familie Lengefeld. Erste Kontakte zu den Töchtern des Hauses, Caroline und Charlotte.
1788 20. Mai: Umzug nach Volkstädt bei Rudolstadt. Häufige Besuche bei Lengefelds. Die Götter Griechenlands, Briefe über Don Carlos in Wielands Teutschem Merkur veröffentlicht.
August - November: Aufenthalt in Rudolstadt.
Geschichte des Abfalls der Niederlande von der spanischen Regierung (Erstausgabe: Leipzig: Crusius, 1788).
7. September: Erste Begegnung mit Goethe bei der Familie von Beulwitz.
15. Dezember: Berufung als a.
o. Professor für Geschichte nach Jena.
1789 11. Mai: Übersiedlung nach Jena.
26. Mai: Antrittsvorlesung: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?
2.
August: Besuch der Lengefeldschen Schwestern in Bad Lauchstädt. Verlobung mit Charlotte von Lengefeld.
18. September - 22. Oktober: Abermaliger Aufenthalt in Rudolstadt und Volkstädt. Freundschaft mit Wilhelm von Humboldt.
1790 Januar: Ernennung zum Hofrat.
22. Februar: Heirat mit Charlotte von Lengefeld in der Dorfkirche zu Wenigenjena.
1791 3. Januar: Aufnahme als Mitglied der kurfürstlichen Akademie in Erfurt.
Januar: Schwere Erkrankung an Lungenentzündung, Rückfall im Mai.
Man verbreitete sogar schon eine Meldung über seinen Tod. Von der Krankheit, hinzu kam eine chronische Bauchfellentzündung, sollte er sich nie mehr richtig erholen. Beginn des Kant-Studiums.
Juli: Kur in Karlsbad, anschließend Nachkur in Erfurt bis Anfang Oktober.
Dezember: Auf Veranlassung des dänischen Dichters Jens Baggesen, der ihn ein Jahr zuvor besucht hatte, erhält er eine Pensionszahlung durch Friedrich Christian von Augustenburg und Graf Ernst von Schimmelmann.
1792 10.
April: Reise nach Dresden zu Körner. Kontakte zu Friedrich von Hardenberg (Novalis) und anderen jungen Studenten, die ihn wiederholt während seiner Erkrankung besuchen.
10. Oktober: Verleihung der französischen Bürgerrechte ("citoyen français") durch die Pariser Nationalversammlung. Neue Thalia.
1793 Fortsetzung der Neuen Thalia: Über Anmut und Würde, Vom Erhabenen.
Anfang August: Abreise nach Schwaben.
8. September: Ankunft in Ludwigsburg.
14. September: Geburt seines Sohnes Karl Friedrich Ludwig. Kontakte zum Verleger Cotta.
Beginn der Arbeiten an Wallenstein.
1794 15. Mai: Rückkehr nach Jena. Einladung an Goethe zur Mitwirkung an den Horen, einer literarischen Monatsschrift, an der auch Wilhelm von Humboldt mitarbeitete. Bekanntschaft mit Johann Fichte.
Juli: erneutes Zusammentreffen mit Goethe in der Naturforschenden Gesellschaft, daraus die entstehende Freundschaft.
14. - 27. September: Aufenthalt bei Goethe in Weimar.
1795 Die erste Nummer der Horen erscheint, darin Über die ästhetische Erziehung des Menschen.
Februar und März: Wiederholte Berufungen nach Tübingen abgelehnt.
Juni: Über naive und sentimentalische Dichtung erscheint in einer der weiteren Ausgaben der Horen.
1796 Arbeiten an der Herausgabe des Musenalmanachs. Xenien zusammen mit Goethe für den Musenalmanach 1797.
11. Juli: Geburt des Sohns Ernst Friedrich Wilhelm.
7. September: Tod des Vaters.
Fortsetzung der Arbeit an Wallenstein (Erstausgabe: Tübingen: Cotta, 1800).
1797 Balladenjahr. Der Taucher, Die Kraniche des Ibykus für den Musenalmanach 1798.
2. Mai: Übersiedlung in das Jenaer Gartenhaus.
Juli: Besuch in Weimar.
Umdichtung des Wallenstein.
1798 März: ordentlicher Honorarprofessor.
12. Oktober: Uraufführung von Wallensteins Lager zur Neueröffnung des Weimarer Theaters.
1799 30. Januar: Uraufführung der Piccolomini in Weimar.
20. April: Uraufführung von Wallensteins Tod in Weimar. Das Lied von der Glocke für den Musenalmanach 1800.
11. Oktober: Geburt der Tochter Karoline Friederike Luise. Maria Stuart (Erstausgabe: Tübingen: Cotta, 1801).
3. Dezember: Übersiedlung nach Weimar.
1800 Februar/März: Nervenfieber. Ein erster Band Gedichte erscheint. Bearbeitung von Shakespeares Macbeth für die Bühne (Erstausgabe: Tübingen: Cotta, 1801).
14.
Juni: Uraufführung von Maria Stuart in Weimar. Arbeit an der Jungfrau von Orleans begonnen (Erstausgabe: Berlin: Unger, 1802 [Kalender auf das Jahr 1802]).
1801 August/September: Reise nach Dresden.
11. September: Uraufführung der Jungfrau von Orleans in Leipzig. Bearbeitung der Turandot nach Gozzi (Erstausgabe: Tübingen: Cotta, 1802) und Lessings Nathan der Weise sowie Goethes Iphigenie.
1802 März: Kauf des heutigen Schillerhauses an der Esplanade - Plan des Wilhelm Tell.
29. April: Tod der Mutter. Braut von Messina begonnen (Erstausgabe: Tübingen: Cotta, 1803).
16. November: Erhebung in den erblichen Adelsstand.
1803 19. März: Uraufführung der Braut von Messina in Weimar. Wilhelm Tell begonnen (Erstausgabe: Tübingen: Cotta, 1804).
1804 Zu Beginn des Jahres Vollendung des Wilhelm Tell.
17. März: Uraufführung des Wilhelm Tell in Weimar.
April/Mai: Reise nach Berlin. Arbeit an Demetrius (ein Fragment).
25. Juli: Geburt der Tochter Emilie Friederike Henriette.
November: Huldigung der Künste (Erstausgabe: Tübingen: Cotta, 1805).
1805 Übersetzung von Racines Phaedra für die Bühne (Erstausgabe: Tübingen: Cotta, 1805, Uraufführung: 30.
Januar). Fortführung des Demetrius.
29. April: Letzter Theaterbesuch: Klara von Hoheneichen von Christian Heinrich Spieß. Fieberanfall. Friedrich Schiller stirbt am 9.
Mai gegen Abend.
Kabale und Liebe
Tragödie der Säkularisation
Sieh doch nur erst die prächtigen Bücher an, die der Herr Major ins Haus geschafft haben« (I,1) - in der häuslichen Szene, über der sich der Vorhang zu Kabale und Liebe hebt (1784), hält die Frau des Stadtmusikanten Miller diesen Trumpf ihrem Mann entgegen, als dieser mit Kraftausdrücken von Lutherscher Drastik bezweifelt, daß es dem seiner Tochter Luise den Hof machenden jungen Baron Ferdinand von Walter »pur um ihre schöne Seele zu tun« sei. Wenn Schiller die gute Frau dann aber noch hinzufügen läßt: »Deine Tochter betet auch immer draus«, so schlägt er ein Thema an, das vielleicht das dominante des ganzen Stücks ist, ohne daß es in den ungewöhnlich weit auseinandergehenden Deutungen bisher als solches erkannt worden wäre. Was in dem Satz der Frau Miller durch die pointierte Einführung eines Wortes aus dem Bereich der religiösen Devotion in einen an sich nicht-religiösen Kontext signalisiert wird, ist bei aller Komik jene - nicht zuletzt in der Literatur betriebene - Sakralisierung des Profanen, speziell des Eros, die im deutschsprachigen Raum das entscheidende geistesgeschichtliche Ereignis der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts darstellt, für das sich das Kennwort Säkularisation eingebürgert hat. Eine ausgefallene Vermutung? Wohl kaum, wenn man sich etwa erinnert, daß Goethe eins der literarischen Hauptdokumente eben dieser erotischen Sonderform der Säkularisation, seinen Werther, brieflich einmal anstandslos ein »Gebetbuch« genannt hat.
Und sinnfälliger als durch die einander entsprechenden Stellen in Schillers Drama und Goethes Brief könnte nicht in die Augen springen, daß die Bedeutung dieses Säkularisationsvorgangs nicht darin besteht, daß das Profane einfach das Sakrale, im Bereich der Literatur also die weltliche Dichtung einfach die religiöse ablöste, sondern darin, daß das Profane die Funktionen des Sakralen, die weltliche Literatur die Funktionen der Erbauungsliteratur übernimmt und weiterführt: man liest jetzt Romane wie früher die Bibel; eben das imponiert der Millerin, während ihr Mann es für »gottlos« hält (I,3). Denn von was für Büchern ist doch die Rede? Von jener säkularen Belletristik offenbar, die in der Zeit, als Schiller schreibt, auf dem Buchmarkt einen ungeheuren Aufschwung nimmt in dem Maße, wie die Erbauungsschriftstellerei zurückgeht. Gegen das Lesen an sich hat der alte Miller sicherlich nichts; die Bibel, das Gesangbuch, der fromme Traktat wären ihm schon recht; die weltlichen Bücher - aus »der höllischen Pestilenzküche der Bellatristen« - sind es, die er verdammt, und das deswegen, weil sie, wie auf der Buchmesse, die christlichen verdrängen und so die Werte der christlichen Lebensführung unterminieren. »Ins Feuer mit dem Quark. Da saugt mir das Mädel - weiß Gott, was als für? - überhimmlische Alfanzereien ein, das läuft dann wie spanische Mucken ins Blut und wirft mir die Handvoll Christentum noch gar auseinander, die der Vater mit knapper Not soso noch zusammenhielt« (I,1). Mit dem Hinweis auf die aphrodisischen Spanischen Fliegen wird vollends deutlich, was für Bücher es sind, durch die der kleinbürgerliche Hausvater die kirchlich behütete Wohlanständigkeit seiner Tochter so akut gefährdet sieht.
Und gefährlich werden sie nicht etwa oder doch nicht in erster Linie durch die krasse Sexualität, an die die derbe Bildlichkeit seiner Rede denken läßt, sondern durch ihre »überhimmlischen Alfanzereien«. Was kann das aber anderes bedeuten als die - wie man damals sagte - »enthusiastische« Überhöhung des Eros zum quasi-religiösen Erlebnis? Auch diese Stelle bedeutet daher nicht so sehr, daß die orthodoxe Gläubigkeit, in der Luise als Tochter ihres Vaters aufgewachsen ist, verdrängt würde durch eine diesseitige Lebensorientierung, sondern daß sie ersetzt und sogar übertrumpft wird durch eine weltliche Anschauung, die sich ihrerseits alle Weihen der Religion gibt, ja die Weihen einer höheren Religion - nicht nur himmlisch, sondern »überhimmlisch«. So ungefähr muß der Alte es aus dem Mund seiner Tochter vernehmen, wenn sie, aus der Kirche kommend, ihn mit seinen eigenen Denkformen von der religiösen Dignität des Profanen, nämlich ihrer Liebe zu Ferdinand, zu überzeugen versucht: »Wenn meine Freude über sein Meisterstück mich ihn selbst übersehen macht, Vater, muß das Gott nicht ergötzen?« (I,3) Woraufhin Miller, die Scheinlogik der säkularen Frömmigkeit durchschauend, sich mit einem »Da haben wirs!« unmutig in den Stuhl wirft: »Das ist die Frucht von dem gottlosen Lesen.« Luise scheint ihre Belletristik gut zu kennen. Welche Werke es genauer sind, die Ferdinand ihr mitgebracht hat, verrät Schiller zwar nicht. Aber seine eigene Lektüre, Arbeitslektüre sozusagen, während der Entstehungszeit von Kabale und Liebe darf man als Fingerzeig auffassen, der uns, wenn wir ihn nur recht verstehen, direkt in das Sinnzentrum des Dramas weist (was man andrerseits von den eigentlichen ›Vorlagen‹, von Emilia Galotti bis zu Gemmingens Deutschem Hausvater und J.
C. Brandes Landesvater, nicht behaupten kann). Mitten aus der Arbeit an der Louise Millerin, wie das »neue Trauerspiel«, das 1784 als Kabale und Liebe erscheinen wird, damals noch heißt, schreibt Schiller am 9. Dezember 1782 aus Bauerbach bei Meiningen (wo er nach dramatischer Flucht aus dem Herrschaftsbereich des nur unvollkommen aufgeklärten Despoten Karl Eugen ein Refugium gefunden hatte) dem Meininger Bibliothekar W. F. H.
Reinwald einen Brief, in dem er unter anderem um Shakespeares Othello und Romeo und Julia bittet. Offensichtlich sieht er einen Zusammenhang zwischen diesen Stücken und dem Liebes- und Eifersuchts-Drama, das er unter der Feder hat; für das zweite bestätigt er das ausdrücklich, wenn er zwei Wochen später Reinwald mahnt: »Sie werden mir einen Dienst erzeigen, wenn Sie mir die Romeo und Juliette mit dem bäldisten verschaffen, weil ich etwas daraus zu meinem St[ück] zu schlagen gedenke.« Etwas - aber was? Vielleicht dasselbe, was er im Othello brauchbar fand, da er die beiden Stücke doch im gleichen Atem nennt und beide unverkennbar ihre Spuren hinterlassen haben im thematischen Gefüge von Kabale und Liebe? Was ihn an Othello interessierte, deutet er in den Philosophischen Briefen in dem spätestens gleichzeitig mit Kabale und Liebe entstandenen Abschnitt über die »Theosophie des Julius« unmißverständlich an: »Eine Regel leitet Freundschaft und Liebe«, lesen wir dort. »Die sanfte Desdemona liebt ihren Othello wegen der Gefahren, die er bestanden; der männliche Othello liebt sie um der Träne willen, die sie ihm weinte.« Der Passus, in dem dies steht, ist »Liebe« überschrieben; Liebe aber bedeutet im Zusammenhang der dort entwickelten Philosophie des »Enthusiasmus« tatsächlich nichts geringeres als säkularisierte Religion. Denn Liebe ist eine Beziehung zu jenem Göttlichen, das die Welt im Innersten zusammenhält, ist ein »himmlischer Trieb«, »die Quelle der Andacht und der erhabensten Tugend«, und »wenn sie nicht ist«, ist »die Gottheit« aufgegeben und mit ihr alles, was der Religion heilig ist, einschließlich der Unsterblichkeit.
Um solche Liebe - die säkularisierte Religion der Liebe - geht es auch in Shakespeares Othello, meint Schiller, und sicher nicht zu unrecht. Sind die Liebenden in dieser Tragödie doch überzeugt, »der Himmel« habe sie füreinander »gemacht« (I,8), und ist die Liebe dort doch der einzige und absolute Wert, der als solcher zugleich mit der Aura des Transzendenten umgeben wird. Ein besseres Beispiel noch für diese Thematik der »Theosophie des Julius« wäre die Tragödie der »star-crossed lovers« gewesen, die Schiller für Kabale und Liebe offenbar noch wichtiger war als Othello und deren Beziehung zu Kabale und Liebe denn auch sichtlich noch enger ist. Nicht zufällig ist Romeo and Juliet ja eins der frühen Kardinalbeispiele für jene Thematik der Sakralisation der Liebe, die, wie es scheint, in Kabale und Liebe zwar im verborgenen, aber desto mächtiger wirkt. Das spürt man selbst noch in der Wielandschen Übersetzung, die Schiller (mit dessen Englisch es nicht weit her war) benutzt hat. Gleich als Romeo und Juliette sich begegnen, klingt dieser Ton der erotischen Ersatz-Religion auf, die Petrarca die Renaissance gelehrt hatte: Romeo verwendet betontermaßen religiöses Vokabular, um sein Entzücken über die junge Capulet in Worte zu fassen: »Wenn meine unwürdige Hand diesen heiligen Leib entweiht hat, so laß dir diese Busse gefallen: Meine Lippen, zween erröthende Pilgrimme, stehen bereit den Frefel, mit einem zärtlichen Kuß abzubüssen.
« Juliette antwortet im gleichen Stil: »Ihr thut eurer Hand unrecht, mein lieber Pilgrim; sie hat nichts gethan, als was die bescheidenste Andacht zu thun pflegt; Heilige haben Hände, die von den Händen der Wallfahrenden berührt werden, und Hand auf Hand ist eines Pilgrims Kuß.« Und weiter wird dies Motiv des säkularen »Betens« - Luise Millerin »betete« aus den weltlichen Büchern, die Ferdinand ins Haus des kirchenchristlichen Musikus Miller brachte - ausgestaltet mit der anschließenden Wechselrede: »Juliette. Heilige rühren sich nicht, wenn sie gleich unser Gebet erhören. Romeo. O so rühre du dich auch nicht, indem ich mich der Würkung meines Gebets versichre - (Er küßt sie.)« (I,6).
Mag das noch nach concettistischer Spielerei klingen, so präludiert dieses preziöse Wortgefecht doch schon ganz entschieden das alles andere als spielerisch gemeinte religiöse Vokabular der Balkonszene das dort ebenfalls das Weltliche, die Liebe, sakralisiert, wenn Romeo seine »theure Heilige« anredet: »O, rede noch einmal, glänzender Engel! Denn so über meinem Haupt schwebend scheinst du diesen Augen so glorreich als ein geflügelter Bote des Himmels den weitofnen emporstarrenden Augen der Sterblichen« (II,2). Dem korrespondiert Juliettes spätere Bemerkung: »Jede Zunge, die meines Romeo Namen ausspricht, ist die Zunge eines Engels für mich« (III,4). »Der Himmel ist da, wo Juliette lebt« - ausgerechnet dem Bruder Lorenz, dem Mönch, sagt Romeo dies, wodurch die Säkularisation effektiv Blasphemie wird (III,5). Fällt es uns da nicht wie Schuppen von den Augen: das Vokabular der Sakralisierung des Erotischen in Shakespeares Liebes- und Eifersuchtsdramen stimmt wörtlich überein mit dem in Kabale und Liebe bevorzugten. Versuchen wir das als einen Wink aufzufassen, daß Schiller, indem er eine Affinität jedenfalls zwischen der Romeo and Juliet-Tragödie und seinem Ferdinand-und-Luise-Drama wahrnahm, in seinem eigenen Werk (das ihm übrigens bei den frühsten Rezensenten den Titel des »Shakespeare der Deutschen« einbrachte) die Sakralisierung des Profanen oder die Säkularisation des Religiösen am Paradigma der Liebe thematisiert habe. Eine gewisse Ermutigung, dem zunächst hypothetischen Gedanken etwas weiter nachzugehen, finden wir in dem Umstand, daß das zeitgenössische Publikum Kabale und Liebe nicht zuletzt darum mit hochgezogenen Augenbrauen aufnahm, weil es sich an den »gotteslästerlichen Ausdrücken« stieß.
Und das nicht von ungefähr, denn die Sakralisierung des Eros zum »heiligen Gefühl« war ja die besondere Form der Säkularisation oder der Vergöttlichung des Menschen, die in der deutschen Literatur der siebziger und achtziger Jahre bei der rebellisch »shakespearisierenden« jungen Generation geradezu Mode geworden war. Ein Stichwort für diese Heiligsprechung der Liebe hatte Rousseau gegeben, als er die Nouvelle Héloïse dahin interpretierte, daß »der Liebesenthusiasmus sich der Sprache der religiösen Andacht bedient. Er sieht nur noch das Paradies, Engel, die Tugenden der Heiligen, die Seligkeiten des himmlischen Aufenthaltes.« Alle diese religiösen Metaphern für die weltliche Liebe (dazu noch Heiligtum, Reliquie, Segen, Gebet usw.) kehren dann z. B.
in der Liebesdichtung und in den Liebesbriefen des jungen Goethe immer wieder. »Heilige Liebe« lautet seine Abbreviatur dieses weltlichen Kults. Die empfindsamen unter den Zeitgenossen wirken daran lebhaft mit; nur an Johann Martin Millers Siegwart sei erinnert. Wenn die ältere Generation darüber die Hände über dem Kopf zusammenschlug, es »Schwärmerey«, romanhaft oder auch gotteslästerlich nannte, so entging ihr allerdings, daß die literarischen Werke dieser jungen Leute hier und da selbst schon einen Schritt über das weltliche Hosianna hinausgingen und die Problematik der neuen Weltanschauung zum Thema erhoben. Während Novalis noch in schöner Ahnungslosigkeit Liebe als Religion definierte in seiner bekannten Äußerung, er habe »zu« seiner Geliebten »Religion«, so explorierten geniezeitliche Werke schon die Gefahren der Liebesreligion: Werther etwa und Das leidende Weib, Lenore und nicht zuletzt der Roman Beyträge zur Geschichte der Liebe aus einer Sammlung von Briefen (1778) - dessen anonymer Verfasser sich als Jakob Friedrich Abel herausstellt, der Stuttgarter Philosophielehrer des jungen Schiller, dem dieser weltanschaulich derart Entscheidendes verdankt, daß man ihn seinen »Erwecker« genannt hat. Ist nicht auch Kabale und Liebe in diese Reihe zu stellen? Weist die rhetorisch übersteigerte, hyperbolische Sprache der Liebenden (die zeitgenössische Kritik spricht von dem »Galimathias« der »überspanntesten Karaktere«) nicht ebenso deutlich auf die exaltierte Liebesmetaphysik der »Schwärmer«, wie die sich allmählich entwickelnden Spannungen zwischen den Liebenden und der sich daraus ergebende oder doch damit korrelierte Handlungsverlauf auf eine kritische Artikulation dieser Liebesmetaphysik deuten? Man darf die Frage versuchsweise bejahen.
Kurz vorweggenommen: die in der idealistischen Liebesreligion.
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