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Stephan Waba
Seminar-Arbeit
Kulturgeschichtliche Perspektiven im essayistischen und novellistischen Werk Hugo von Hofmannsthals
27 Seiten
8256 Wörter
für das Seminar
„Hofmannsthal und die österreichische Literatur um 1900“
bei O. Prof. Dr. Herbert Zeman
WS 1999/00
Wenn du diese Arbeit verwendest, schick bitte ein email an sjw@gmx.net!
Inhalt
Einführung ..
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Geistige Strömungen im Wien der Jahrhundertwende .....
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2.1 Phäakentum und Weltbühne ....
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2 Das Kaffeehaus als Nabel der Welt ......
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2.3 Die Konfliktfaktoren der Zeit und das Junge Wien .
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Zum essayistischen Werk des jungen Hofmannsthal ..
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3.1 Der Essay als Kunstform .....
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2 Der Essay bei Hugo von Hofmannsthal ......
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3.
3 Die ästhetische Theorie Hofmannsthals ......
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3.
4 Formalästhetische Bezüge in „Poesie und Leben“ ......
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3.5 Die Welt der Bilder in „Bildlicher Ausdruck“ ....
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3.6 Die Rolle des Dichters in „Dichter und Leben“ ..
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Zum novellistischen Werk des jungen Hofmannsthal ....
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4.1 Märchenhaftes in „Das Märchen der 672. Nacht“ ....
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4.2 Rätselhaftes in der „Reitergeschichte“ ...
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4.3 Unerklärliches im „Erlebnis des Marschalls von Bassompierre“ .....
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Bibliographie ......
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Einführung
„Kulturgeschichtliche Perspektiven im essayistischen und novellistischen Werk Hugo von Hofmannsthals” – so der Titel meiner Seminararbeit, in der ich einerseits wichtige Essays und Novellen des jungen Hugo von Hofmannsthal vorstellen und andererseits die geistesgeschichtlichen Strömungen, die auf das essayistische und novellistische Werk Hofmannsthals Einfluss nahmen, untersuchen möchte.
Um eine umfassende Ausarbeitung der Thematik zu erreichen, werde ich zunächst eine allgemeine Darstellung der geistigen und sozialen Strömungen der Jahrhundertwende und der Situation der Autoren des Jungen Wien voranschicken, um danach anhand ausgewählter Essays die Haltung Hugo von Hofmannsthals der Kunst gegenüber zu charakterisieren, deren Verständnis schließlich in die Lektüre dreier Novellen einfließen soll.
Das literarische Leben im Wien der Jahrhundertwende
2.1 Phäakentum und Weltbühne
Im Wien der Jahrhundertwende standen sich zwei, zunächst unvereinbare, Geisteshaltungen gegenüber; das heitere Genießen der Künste oder „Ästhetizismus“ einerseits und Indifferenz gegenüber politischen und gesellschaftlichen Reformen oder „therapeutischer Nihilismus“ andererseits.
Deutsche Dichter machten die Vorstellung populär, dass die Österreicher moderne Phäaken seien, die in Festivitäten, Schmaus und süßem Nichtstun miteinander wetteiferten. In der Tat ermöglichte die finanzielle Sicherheit in den Jahren von 1867 bis 1914 der gehobenen Bourgeoisie eine Jagd nach Vergnügen um ihrer selbst willen. Ein oftmals dargestelltes Bild sind die „Ringstraßen-Dandys“, die Entscheidungen beharrlich aus dem Weg gingen und sich das tägliche Leben lieber durch Schauspiele und Belustigungen versüßten.
In solch einem Milieu wurde die Geselligkeit zu einer Kunst, die sowohl in den Adelskreisen als auch unter Bürgerlichen gepflegt wurde. Der Wiener pflegte seine Gabe, den Menschen Wohlbefinden zu vermitteln, indem er aus dem Genuss des anderen Vergnügen für sich selber zog.
Die ununterbrochen an den Tag gelegte „höfliche Fröhlichkeit, die amüsierte Selbstironie“ verlangte unausgesetztes Theaterspielen.
Ganz nach der barocken Vorstellung des Welttheaters erfreute sich jeder daran, Rollen zu spielen und schlagfertige Antworten zu geben. Frustrationen begegnete man, indem man sie mit schauspielerischem Geschick ästhetisierte, anstatt Veränderungen anzustreben. Dramatisch überhöhte Liebenswürdigkeiten waren durchaus keine glatte Lüge; vielmehr herrschte eine „allgemeine Unaufrichtigkeit mit vergleichsweise wenig Heuchelei“ vor.
In einer Gesellschaft, die die äußere Erscheinung so hoch bewertete, waren alle Menschen einer strengen Etikette unterworfen. Sei es der korrekte Eindruck, den man mit tadelloser Kleidung hervorrief, sei es das Verteilen von Trinkgeldern, was viel über den Stand des Betreffenden verriet, oder das Verhalten des Einzelnen in der Gesellschaft.
2.
2 Das Kaffeehaus als Nabel der Welt
Im gesamten Habsburgerreich blühte das Kaffeehaus als kulturelle Institution, als „literarisches Verkehrszentrum“. Es war eine Art öffentlicher Salon, in dem sich Männer und Frauen aller Klassen zusammenfanden, um zu lesen, ihren Überlegungen nachzuhängen oder Konversation zu treiben. Just in den Kaffeehäusern stellte sich der Ästhetizismus des Jungen Wien dar, dessen Schriftsteller wie beispielsweise Arthur Schnitzler, Hermann Bahr oder Hugo von Hofmannsthal sich zunächst im Café Griensteidl am Michaelerplatz, später im Café Central beim Palais Ferstl versammelten.
Die Intellektuellen des Jungen Wien stammten meistens aus neureichen Familien, denen Ästhetizismus vor allem Flucht vor dem Müßiggang durch Konversation, Liebhabereien und Gelegenheitsschriftstellerei bedeutete. Das zeitweise Aufgehen in dekadenter Sehnsucht nach tödlicher Schönheit oder einem schönem Tod, das sich in unzähligen Werken der Autoren des Jungen Wien zeigt, ist kennzeichnend für eine großbürgerliche Jugend, die für sich keine Chance im politisch-sozialen Bereich mehr sah, die vom Materialismus enttäuscht und von der Vereinzelung und Entfremdung des Individuums in der Gesellschaft betroffen war. Sie wich aus in eine Kunstwelt.
Die Literatur der Jahrhundertwende ist gekennzeichnet durch ein krasses Missverhältnis zwischen dem Selbstbewusstsein ihrer Produzenten und der tatsächlichen öffentlichen Resonanz. Folge dieses Konflikts zwischen dem Bewusstsein, den eigentlichen fortschrittlichen Teil der Kultur zu bilden und der Tatsache, einer Gesellschaft gegenüberzustehen, die dafür keine entsprechende Würdigung findet, war der scheinbar apolitische Rückzug in die Harmonie einer „Subgesellschaft“. Und so unterhielten sich in Hunderten von Kaffeehäusern damals Intellektuelle miteinander, ohne an eine Veränderung der Realität auch nur zu denken.
Unzählige Beschreibungen spiegeln in aufschlussreicher Weise die ambivalente, sich immer wieder selbstironisch artikulierende Situation der lebensfernen Literaten, die die Welt nur durch die Scheiben des Kaffeehauses sehen, wider. In ihrer Ambivalenz waren sie sich ähnlich und gerade durch ihren selbstgewählten Ausschluss von der Gesellschaft, durch ihren Rückzug von dem, was man an der Realität ablehnte, besaßen sie auch ein positives Gruppengefühl.
2.
3 Die Konfliktfaktoren der Zeit und das Junge Wien
Um auch nur ansatzweise verstehen zu können, was in den Autoren des Jungen Wien vorgegangen sein mag, ist ein Blick aus einer größeren Perspektive notwendig, ein Blick auf die Konfliktfaktoren der Zeit. In unserem Zusammenhang ist nun wichtig, zu erörtern wie einzelne und Gruppen, besonders des gehobenen Bürgertums, der sozialen Schichte des Jungen Wien, auf konkrete Erfahrungen dieser Zeit voll konfliktproduzierender Widersprüchlichkeit seelisch reagierten und welche dieser Reaktionen literarisch verarbeitet wurden. Auch auf das Phänomen, warum eine bestimmte Gruppe, wie etwa das Junge Wien, innerhalb des sozialen Großraums, in dem sie steht, in entschiedener Weise eigene Wege geht, muss eingegangen werden. Es soll gezeigt werden, dass die Dichtung des Jungen Wien trotz ihres privaten Charakters in einem klar erkennbaren zeitgeschichtlichen Zusammenhang steht.
Die Verbindung von starker Staatsautorität, Entwicklung bürgerlicher Rechte und wirtschaftlicher Expansion ist für die ersten 25 Jahre nach der Revolution von 1848 charakteristisch. Konzentration und Untergang der Schwächeren waren häufig die Folgen der „konjunkturellen Überhitzung“, die im 1873 in einer Depression mündete, die nur langsam überwunden werden konnte.
Das Nationalitätenproblem hatte innenpolitisch Vorrang und erschwerte die Konzentration auf wirtschaftliche Fragen. Der Staat wirkte überdies in einer Weise auf das Wirtschaftsleben ein, die einer schnellen Besserung der Konjunktur hinderlich war. Erst 1896 wurden Zeichen eines allgemeinen Konjunkturaufschwungs sichtbar.
Der österreichische Liberalismus, zunächst eine Geistesrichtung, später auch eine Partei, setzte einen gesellschaftlichen Ordnungstypus durch, in dem der Mensch als freier Einzelner seine persönliche Freiheitsrechte durch den Staat garantiert bekam. Das Revolutionsjahr 1848 brachte zwar machtvolle liberale Bestrebungen ins Spiel, doch versiegte der freiheitliche Elan bald. Die Unterdrückung vieler liberaler Regungen im Wirtschaftsbereich erschwerte die Arbeit des politisch organisierten Liberalismus und mit der Ausbreitung der Massenparteien, die durch Wahlrechtsreformen gefördert wurden, verlor der Liberalismus als politische Kraft zunehmend an Bedeutung.
Liberales Denken und liberale Lebensführung wandten sich zunehmend den außerpolitisch-privaten Bereichen zu. Einerseits verlor der Liberalismus wichtige Positionen in Wirtschaft und Parteipolitik, andererseits hatten einzelne Liberale weiterhin wichtige Schlüsselpositionen der Gesellschaft inne. Das gehobene Bürgertum, dem sie vorwiegend angehörten, verfügte trotz der stagnierenden Wirtschaft weiterhin über reichliche Mittel. Es war Träger des „goldene[n] Zeitalter[s] der Sicherheit“, in dem sich zunehmend die Vorstellung der Naturgesetzhaftigkeit und Gottgewolltheit der sozialen Ordnung durchsetzte.
Besonders prägnant zeigt sich die Einstellung des Bürgertums an der vermehrten Bautätigkeit der „Ringstraßenzeit“ und an ihrem Epochenstil „Historismus“. Er findet seine Anwendung und Illustration in der Serie von Gebäuden, die die Wiener Ringstraße säumen.
So ist die Universität im italienischen Renaissancestil erbaut, der das Ideal des Humanismus beschwört, das Rathaus im gotischen Stil, Symbol der freien und wirtschaftlich blühenden Städte, und das Parlament im hellenistischen Stil, als Versprechen eines rational organisierten politischen Lebens. Diese Aufladung von Gebäuden mit Symbolen klingt zwar recht eindrucksvoll, in Wahrheit allerdings enthüllt der Siegeszug des Historismus eine Krise der Traditionen und einen Mangel an geschichtlicher Kontinuität. In der Überlagerung der Stile und Traditionsfragmente wird jede Tradition künstlich. Die ältesten sozialen Schichten, der Adel und das Bauerntum, brauchen keinen Historismus, um ihren Sinn für Geschichte zu bekräftigen. Die bürgerlichen Schichten hingegen, die keinen ihm eigenen historischen Stil kennen, kultivieren beim Bau ihrer Palais an der Ringstraße den „neobarocken Stil“ oder den „italienischen Renaissancestil“.
Trotzdem hatte man das Gefühl, auf der Höhe der Zeit zu stehen, am Geistigen teilzuhaben und in vieler Hinsicht frei verfügen zu können.
Der notwendige Verzicht auf Einfluss und politische Macht wurde durch eine Überbewertung des Kulturellen und der überwiegend fast ausschließlichen Orientierung daran wettgemacht. Mehr und mehr verbreiterte sich die Kluft zwischen einer „politischen Öffentlichkeit“, in der Macht ausgeübt wurde, und einer „kulturellen Öffentlichkeit“, die Werte repräsentierte. Das Thema der Dekadenz, sehr verbreitet in der Literatur der Jahrhundertwende, hatte in der Erfahrung der Wiener einen beträchtlichen Wahrheitsgehalt.
Die allgemein subjektivistische Grundlage bürgerlichen Selbstverständnisses lässt sich vor allem mit der beruflichen Tätigkeit des Bürgers erklären. Wer als Gewerbetreibender auf sich gestellt ist und sich zu bewähren und durchzusetzen hat, wird sich als Individuum, als Einzelner fühlen und allem, was mit seiner Persönlichkeit zu tun hat, besondere Aufmerksamkeit widmen. Zudem trug der straff organisierte absolutistische Staat, in dem der Einzelne wenig galt, seine Kälte, Anonymität und Hartherzigkeit, dazu bei, dass die Werte des Inneren zur Solidarisierungsbasis Bürgerlicher wurden.
Sie wirkten verbindend und vermittelten das Gefühl sozialer Geborgenheit. Die immer konsequentere Besinnung auf subjektive Werte erwies sich aber als immer unangemessener, wirklichkeitsfremder und den zu lösenden Problemen gegenüber hilfloser.
Außenseiter waren dabei stets die Juden. Sehr viele Juden schlossen sich auf Grund ihrer Tätigkeit in der Wirtschaft dem Kreis des gehobenen Bürgertums an. Nutzten sie anfangs noch den bürgerlichen Selbstbestätigungsbereich zur eigenen Etablierung, bildete sich in Wien rasch eine jüdische Elite, der fast alle Jugendfreunde Hugo von Hofmannsthals angehörten. Aber die Situation der Juden in Wien, denen Kaiser Franz Josephs ihre Existenz und Freiheit größtmöglich sicherte, hatte sich 1897 mit der Ernennung des christlichsozialen Antisemiten Karl Lueger zum Bürgermeister von Wien völlig geändert.
Die Dichter um den jungen Hofmannsthal, denen wohl nichts ferner gelegen hatte, als die neuerfundene konfessionelle und rassistische Problematik, wurden sich ihrer nun schmerzlich bewusst. Das waren gewiss keine Themen für den jungen Hofmannsthal. Und doch spürte er die Verfinsterung der Wiener Atmosphäre.
Neben wirtschaftlichen, politischen und sozialen Problemen spielten nationale eine immer größere Rolle. Mit der Gründung des deutschen Reichs 1871 hatte sich das Heilige Römische Reich unter der Führung Österreichs endgültig aufgelöst. Österreichs Position wurde geschwächt, Resignation und Lethargie breiteten sich aus und man bemühte sich nun, eine betonter nationalösterreichische Politik zu verfolgen.
Auch den Autoren der Jahrhundertwende blieb nach dem Scheitern der Schaffung eines österreichischen Naturalismus in Analogie zum deutschen nichts anderes übrig, als sich verstärkt um das Eigene zu bemühen, um das Seelische und Sensitive, um Stimmungen und Empfindungen.
Bei vielen Vertretern des Jungen Wien verlief der Prozess der Identitätsbildung weitgehend im Bildungsraum und Erfahrungsbereich der Gesellschaft, der sie angehörten. Die institutionelle Bildung des Gymnasiums und der Universität wurde stets von der individuellen, privaten Erziehung überwölbt. Kultur wurde gegen Zivilisation ausgespielt, das heißt Bildung, Kunst und Lebensart gegen die neuen Errungenschaften der Technik und gegen die Organisationsformen von Staat, Wirtschaft und Politik. Frei von Dienstverhältnissen, im Privaten, war der Raum für Entfaltung, für die Pflege von Bildung, Kunst und Lebensart. Es herrschte die Gewissheit vor, dass Bildung, Kunst und Lebensart den Menschen nicht nur in besonderer Weise qualifizieren, sondern dass sie mehr als alles andere seiner höheren Bestimmung entsprechen.
Bei vergleichbaren Voraussetzungen bezüglich des Elternhauses, der Schule und der Tradition werden Anstöße von außen offenbar auf eine sehr ähnliche Weise verarbeitet und integriert. So standen viele Söhne des gehobenen Bürgertums nicht nur in einer analogen Sozialstruktur, die durch die gleichen zeitgeschichtlichen Faktoren begründet war, sondern man hielt auch an gemeinsamen Traditionen fest und pflegte gemeinsame Bildungsideale, Wertmaßstäbe und Verhaltensmuster.
Erfahrungen dieser Art führen Menschen zueinander und halten sie aneinander, in der Regel jedoch nur so lange, wie die gemeinsamen Interessen und Bedürfnisse andauern. Angesichts des elitär-selbstgefälligen und kompensatorisch-überhöhten Bildungsbewusstseins, das das Verhalten nicht weniger Angehöriger des gehobenen Bürgertums der jüngeren Generation bestimmte, übersieht man leicht, dass dieser Kreis in Wahrheit eine verschwindend kleine Minderheit darstellte, „eine kleine Insel, die – in einem Meer von Halbbildung schwimmend – sich und den anderen einzureden suchte, das Meer zu sein“.
Das besondere Interesse an Bildung, Kunst und Lebensart, das im gehobenen Bürgertum vorherrschte, scheint im Kreise des Jungen Wien stark verdichtet. Dem Literaturbetrieb gegenüber nahm die Gruppe zunächst eine Außenseiterstellung ein.
Sie verstanden sich als ein Kreis Interessierter, der engen persönlichen Kontakt hatte und der durch die Gleichartigkeit der Interessen verbunden war. Die Literatur war nicht nur der überragende Gesprächsgegenstand, sondern ihre Kategorien, Wendungen und Figuren stellten auch ein Mittel der Verständigung dar. Das Gefühl, auf diese Weise an einem vielstimmigen Gespräch teilzuhaben, vermittelte die Gewissheit, im Besitz von Literatur und damit Kultur zu sein.
Dies führte aber mitunter auch zu konflikthaften Erfahrungen, die sogleich thematisiert wurden. Der unausgefüllte private Bereich, insbesondere der Liebe und der Freundschaft, stellte sich auf Grund der Tatsache, dass sich das Leben nicht nur auf den Umgang mit Kulturellem beschränken ließ, den Autoren des Jungen Wien als Versäumnis dar. Die Behandlung von Problemen, die sich aus der Unvereinbarkeit zwischen hochgestochenen Bildungsvorstellungen und den Bedürfnissen nach einem in zwischenmenschlicher Hinsicht erfüllten Leben ergab, erklärt die Besonderheit der Literatur der Jahrhundertwende; vor allem ihr Interesse am Seelischen, am Sensitiven und Psychologischen.
Die Widersprüchlichkeit, die sich in zahlreichen Texten dieser Zeit zeigt, ist Ausdruck und Folge einer widersprüchlichen Sozialstruktur, in der die Träger dieser Literatur standen.
Zum essayistischen Werk des jungen Hofmannsthal
Der Essay, ein meist kulturkritischer Prosatext, der, im Unterschied zur diskursiv-wissenschaftlichen Abhandlung, bestimmte Möglichkeiten des Denkens durchspielt und zur Debatte stellt, war neben dem Feuilleton besonders für Autoren der Jahrhundertwende eine reizvolle Möglichkeit, zu aktuellen Themen oder Fragen der Literatur Stellung zu nehmen.
Auch Hugo von Hofmannsthal hat den Essay genutzt, bei ihm liege die außerordentliche Bedeutung dieser Arbeiten aber nicht nur in ihrer „schönen Sprache“, sondern in der „Einheit von Stoff und Form – genauer: in der Koinzidenz von Themenentfaltung und Sprachgestaltung“. Ob dem wirklich so ist und welche Haltung der Kunst gegenüber der junge Hofmannsthal in seinen Essays einnimmt, wollen wir auf den folgenden Seiten erörtern.
3.1 Der Essay als Kunstform
Der Essay sei, so die Meinung vieler Literaturwissenschaftler, die „spezifische Ausdrucksform des nicht systematisch, sondern künstlerisch schaffenden Denkers“.
In der Erörterung von Problemstellungen im Essay stehe nicht die Ebene des begrifflich Fassbaren im Vordergrund, sondern es geht um ein „Einordnen der Werke, Gestalten, Ereignisse in die eigene Lebensbewegtheit des Betrachters“. Das mache den Essay so persönlich und auch so künstlerisch.
Was gesagt wird, bezieht sich immer auf bestimmte Fakten aus dem Bereich der historisch beglaubigten Wirklichkeit. Es gehört aber zum Wesen des Essays, dass er diese, außerhalb seiner eigenen sprachlichen Welt und unabhängig von ihr existierenden Fakten durch Reflexion erhellt. Er bringt seine Erörterungen auch auf eine kunstmäßige Weise zum Ausdruck und eben diese Tendenz zur Gestaltung dessen, was mitgeteilt werden soll, unterscheidet die literarische Form des Essays von der Sachdarstellung oder der Abhandlung.
Von der Dichtung wiederum unterscheidet den Essay, dass er die Thematik zwar künstlerisch aufarbeitet, aber nicht seine eigene Gegenständlichkeit schafft, da er die Fakten in der Regel nie soweit integriert, dass die außerliterarischen Bezüge jemals vollkommen irrelevant werden könnten.
Der Essay gibt mit der Darstellung lediglich eine Deutung seiner Fakten.
Das ästhetische Grundproblem des Essays liegt in der möglichen Durchdringung von Mitteilung und Gestaltung, von Reflexion und Imagination. Darum bleibe der Essay, so Ernst-Otto Gerke, immer ein „Mittelgeschöpf zwischen Poesie und Rhetorik, [...] ein Werk aus Wissen und Einbildungskraft“.
3.2 Der Essay bei Hugo von Hofmannsthal
Erst spät hat sich die Literaturwissenschaft dem essayistischen Werk Hofmannsthals zugewandt und auf seinen dichterischen Charakter und die unteilbare Personaleinheit von Dichter und Essayist im Falle Hofmannsthals hingewiesen.
Zum ersten Mal näher berührt werden die Probleme unseres Themas in der Dissertation von Elsbeth Pulver, die 1956 auf einen typischen Zug des Hofmannsthalschen Essays hinwies. In ihrer Beschäftigung mit Hofmannsthals Schriften zur Literatur sprach sie von einer „verstehenden Literaturkritik“, in der die subjektive Anteilnahme des Kritikers ein ebenso bedeutsamer Faktor sei wie die Erhellung des Objekts.
Diese Aussage trifft aber nicht nur auf Hofmannsthals essayistische Äußerungen zu literarischen Werken zu, sondern auch auf alle anderen seiner Essays, in denen Hofmannsthals „verstehende Betrachtung“ sich keineswegs nur auf ein „liebevolles oder neutrales Erfassen der Phänomene beschränkt, sondern fast immer eine kritische Auseinandersetzung mit dem Gegenstand impliziert“. Schon beim jungen Hofmannsthal bilden sowohl die verstehende und die wertende Haltung des Dichters, als auch die kritische und die künstlerische Darstellungsform seiner Prosa eine Einheit.
Einen Versuch der Einteilung der Hofmannsthalschen Prosa hat Arno Scholl 1958 in seiner Dissertation unternommen. Er zieht einen Trennungsstrich zwischen der „essayistischen Sachprosa, in der der Gegenstand ein vom betrachtenden Subjekt unabhängiger ist“, und der „essayistischen Erlebnisprosa, die unmittelbar das Ich selbst und sein Erleben darstellt“. Schließlich unterscheidet er, was für unsere Überlegungen von Bedeutung ist, in der essayistischen Sachprosa aus der Frühzeit des Dichters zwei Grundformen, nämlich die „feste“ und die „lockere“ Form, als auch zwei Grundhaltungen Hofmannsthals, die Neigung zu „reizvollem Spiel mit der Gegenständlichkeit“ und die „ernste Bemühung um die rechte Form der Wirklichkeitsaussage“.
3.3 Die ästhetische Theorie Hofmannsthals
Schon als Neunzehnjähriger bringt Hugo von Hofmannsthal in seinen Tagebuchaufzeichnungen die Überzeugung zum Ausdruck, dass ein unerlässlicher Lebensbezug zum Wesen alles Ästhetischen gehöre. Er grenzt dieses Ästhetische damit gegen die mannigfachen Spielarten des Ästhetizismus ab, deren gemeinsames Merkmal gerade darin liege, dass der „fehlende Lebensbezug durch ein formalistisches Raffinement ersetzt wird“ und deren Formen sich schließlich im artifiziellen Reiz erschöpfen müssen, will sie nicht „Ausdrucksformen einer zur Gestalt verdichteten Lebenssubstanz sind“.
Auch nach Jahren wird Hofmannsthal nicht müde, zu wiederholen, dass „jede ästhetische Erfahrung ihre Wurzeln in der Breite des Lebens haben müsse“, wenn sie das wirklich Ästhetische und nicht einen mehr oder weniger gehaltvollen Ästhetizismus repräsentieren will.
Damit ist bereits zu Beginn seiner dichterischen Laufbahn der entscheidende Grundzug erkennbar, der für Hofmannsthal das Verhältnis zwischen Kunst und Leben charakterisiert. Die Kunst muss die Wirklichkeit des Lebens in sich aufnehmen und unter den Bedingungen ihrer eigenen, ästhetischen Realitätssphäre zur Darstellung bringen. Der Wirklichkeitsbezug der Kunst ist also nicht bloße Nachahmung, sondern ein Prozess der Lebensverwandlung, in dem eine „natürliche Realität durch den Akt der künstlerischen Gestaltung in eine neue Daseinsform aufgehoben wird".
Hofmannsthal erhebt die Forderung, dass auch das Kunstwerk vom Standpunkt des Lebens betrachtet werden müsse. Um der Ausübung seiner Kunst willen müsse der Dichter das Leben zwar aus der Distanz des Bildners anschauen, aber er wird sich deshalb niemals davon ausschließen dürfen, da die dichterische Haltung ihrem Wesen nach immer eine dem Leben verbundene und verpflichtete sei.
Das sei die Grundantinomie der dichterischen Existenz; am Leben teilzunehmen und gleichzeitig das Leben aus der Distanz zu betrachten und zu gestalten. Die Aufgabe des Dichters sei es, „diese Spannung von Lebensunmittelbarkeit und Lebensferne in eine schöpferische Polarität zu verwandeln“.
3.4 Formalästhetische Bezüge in „Poesie und Leben“
Im Unterschied zu anderen Essays, Aufsätzen und Tagebuchaufzeichnungen des frühen Hofmannsthal hebt er 1896 in seinem Vortrag über „Poesie und Leben“ die formalästhetischen Züge der Kunst mit besonderem Nachdruck hervor.
Gleich zu Beginn stellt er fest, dass es kaum möglich sei, über die Künste zu reden, ja man nicht einmal über sie reden sollte. „Je tiefer man einmal in die Ingründe der Kunst hineingekommen ist“, desto schweigsamer werde man, bekennt er.
Bald wendet sich Hofmannsthal der zentralen Aussage seines Vortrags zu. Er beklagt, dass der „Begriff des Ganzen“ in der Kunst verlorengegangen sei, dass man „Natur und Nachbildung zu einem unheimlichen Zwitterding zusammengesetzt“ habe. Es geht ihm mit dieser Feststellung vor allem darum, eine Haltung abzuwehren, für die Lebenswirklichkeit und Kunstwahrheit auf einer Ebene liegen und nur durch eine „dichterische Zutat“ zusammengesetzt sind. Dies mag auf den ersten Blick in einem Widerspruch zu Hofmannsthals vorher beschriebener Einstellung zum Verhältnis zwischen Leben und Kunst stehen. Bei genauem Hinblicken erkennen wir jedoch, dass sein Bekenntnis zu einem Bezug zwischen Poesie und Leben nicht aufgegeben wurde. Hofmannsthal weist lediglich auf die Eigenständigkeit der Dichtung als einer durch Sprache errichteten und von der natürlichen Lebensrealität abgehobenen Formenwelt hin.
So gut getroffen der „gemalte Hintergrund“ auch sein möge, in Wahrheit ist jedes Kunstwerk eine autonome Gestaltungsform und bildet als solche ein einheitliches, in sich geschlossenes Ganzes. Die Worte sind dabei alles, sie rufen Gesehenes und Gehörtes wieder zu neuem Dasein hervor. „Es führt kein von der Poesie kein direkter Weg ins Leben, aus dem Leben keiner in die Poesie“ – damit ist die Eigenständigkeit der Dichtung mit aller Deutlichkeit ausgesprochen.
In weiterer Folge widmet sich Hofmannsthal der Betrachtung von formellen Aspekten der Dichtkunst und stellt als Maßstab für den Wert einer Dichtung das Kriterium des Verhältnisses der einzelnen Teile zueinander vor. Er lobt die Regeln der Poesie, da sie für ihn gewissermaßen ein Qualitätskriterium für Dichtung abgeben. „Es gibt [.
..] schon zu viele Dilettanten, welche die Intentionen loben, und das ganze Wertlose hat Diener an allen schweren Köpfen“ kritisiert er. Neben der guten Intention, dem guten Einfall müsse also auch dem formalen Aspekt Aufmerksamkeit geschenkt werden.
Gegen Ende des Vortrags kommt er noch einmal auf die Aussage zurück, die ihm so viel wert scheint: „Sie müssen sich abgewöhnen, zu verlangen, daß man mit roter Tinte schreibt, um glauben zu machen, man schreibe mit Blut“. Mit dieser Feststellung ist getroffen, was im Zentrum von „Poesie und Leben“ steht – die Eigenart des Formcharakters und der dadurch begründete Autonomieanspruch der Dichtung wird hervorgehoben, ohne jedoch dabei den Lebensbezug aus den Augen zu verlieren.
3.5 Die Welt der Bilder in „Bildlicher Ausdruck“
Widmet sich Hugo von Hofmannsthal in seinem Vortrag „Poesie und Leben“ vor allem der autonomen Stellung der Kunst, so setzt er diese 1897 in seinem Aufsatz „Bildlicher Ausdruck“ schon voraus und geht stattdessen auf das ein, woraus seiner Meinung nach jede Dichtung zusammengesetzt ist; Bilder.
Gleich zu Beginn wendet er sich mit Nachdruck gegen die Auffassung, ein Dichtwerk sei „mit bildlichem Ausdruck geziert“. Denn dies rufe eine falsche Vorstellung hervor, die Vorstellung nämlich, dass Bilder in der Dichtkunst etwas Entbehrliches seien, die bloß als schmückendes Beiwerk dienen. Hofmannsthal stellt im Gegenteil fest, der bildliche Ausdruck sei Kern und Wesen aller Poesie: „Jede Dichtung ist durch und durch ein Gebilde aus uneigentlichen Ausdrücken“. Dies unterstreicht die schon in „Poesie und Leben“ erläuterte Auffassung, ein Kunstwerk sei eben nicht ein bloßes Abbild der Natur, sondern schaffe sich seine eigene Bilderwelt.
In diesem Sinne fährt Hofmannsthal fort. Die Handlungen und Personen von literarischen Werken seien nichts anderes als „Gleichnisse, aus vielen Gleichnissen zusammengesetzt“. Genauso verhalte es sich mit der Sprache, die auch voller Gleichnisse sei. Bloß werden diese im normalen Sprachgebrauch nur unbewusst verwendet. Der Dichter sei der Einzige, der sich des Gleichnishaften der Sprache ununterbrochen bewusst ist und damit in seiner Dichtung Bezüge zur Wirklichkeit herstellen kann.
Sprache ist für Hofmannsthal ein zentrales Thema, was sich nicht zuletzt 1902 in seiner Novelle über die Sprachkrise des Lord Chandos niederschlägt.
Erste Ansätze eines Zweifels an der Sprache lassen sich schon in diesem Aufsatz erkennen. Denn obwohl die Sprache das Werkzeug des Dichters sei, sein einziges Ausdrucksmittel, und die Worte, wie schon in „Poesie und Leben“ festgestellt, alles seien, so wären es doch nur die Gleichnisse, mit denen der Dichter das aussagen könne, was das Leben ausdrücke, „aber in seinem Stoff, wortlos“.
Dem Ansinnen vieler Literaturwissenschaftler, unbedingt einen „eigentlichen Sinn“ hinter dem dichterischen Werk erkennen zu wollen, oder, wie ein Deutschlehrer fragen würde, „Was will uns der Dichter damit sagen?“, erteilt Hofmannsthal schließlich eine Absage. Die Unsitte, nicht vorrangig die Bilder auf sich wirken zu lassen und damit den Sinn der Dichtung einzulösen, sondern immer gleich nach einer versteckten Aussage zu suchen, vergleicht er mit „Affen, die auch immer mit den Händen hinter einen Spiegel fahren, als müsse dort ein Körper zu fassen sein“.
3.6 Die Rolle des Dichters in „Dichter und Leben“
Hofmannsthals Einstellung gegenüber der Verbundenheit von Kunst und Leben wurde ja schon ausführlich diskutiert.
Nun wollen wir die Rolle des Vermittlers zwischen diesen beiden Polen, die Rolle des Dichters, besprechen. Hugo von Hofmannsthal hat Betrachtungen über das Verhältnis zwischen dem Leben und dem Dichter zeitlebens eine Fülle an Aufsätzen und Essays gewidmet. Die Abhandlung, die am Prägnantesten seine Einstellung herausstreicht, ist wahrscheinlich der 1897 entstandene Aufsatz „Dichter und Leben“.
„Wer immer mit den Spiegelbildern zu tun hat, wird im Guten und Bösen nicht sehr geneigt sein, an das Feste zu glauben“ – mit diesen Worten umreißt Hofmannsthal gleich zu Beginn seiner Abhandlung das Dilemma, in dem sich der Dichter befindet. Was er produziert, sind Spiegelbilder der Wirklichkeit, die wohl einen Bezugspunkt im Leben haben können, aber letztlich immer der Imagination des Dichters entspringen. Da aber nach dem Hofmannsthalschen Kunstverständnis diese Spiegelbilder so natürlich und lebendig erscheinen, als wären sie Wirklichkeit, besteht auch die Gefahr, nicht mehr unterscheiden zu können zwischen dem Wirklichen, das nicht viel mehr sei „als der feurige Rauch, aus dem die Erscheinungen hervortreten sollen“ und den Erscheinungen, den „Kinder[n] dieses Rauches“.
Immer ist der Dichter zerrissen zwischen der überwältigenden Pracht des Lebens und der Schattenhaftigkeit, die deren Darstellung immer anhaftet. Eine schwache Begabung werde daran zerbrechen und hinabgezogen, so Hofmannsthal, eine starke jedoch nur noch weiter emporgetrieben.
Er beschließt seinen Aufsatz mit einem erneuten Hinweis auf den Blick auf das Ganze, der nicht nur dem literarischen Werk zugute kommen soll, sondern den auch der Dichter auf die Natur wirft: „Der Dichter begreift alle Dinge als Brüder und Kinder eines Blutes“. Er bewundere die einzigartige Verbundenheit, die zwischen allen Elementen der Natur bestehe und um dem Leben in seiner Darstellung gerecht zu werden, setze er „über alles [...
] das einzelne Wesen, den einzelnen Vorgang“. Dieser Hinweis bezieht sich auf Hofmannsthals Bewunderung der Bilder, der Gleichnisse und Symbole. Nur durch das symbolhafte Herausheben von Einzelheiten, die wiederum das Ganze repräsentieren, könne man ihn darstellen, den „Zusammenlauf von tausend Fäden, die aus den Tiefen der Unendlichkeit herkommen und sich nirgend wieder, niemals völlig so treffen“.
Zum novellistischen Werk des jungen Hofmannsthal
Das Verständnis von Hugo von Hofmannsthals theoretischen Abhandlungen über den Ästhetizismus und das Verhältnis von Leben und Kunst soll nun in die Lektüre dreier Novellen, die exemplarisch für sein frühes novellistisches Schaffen stehen sollen, einfließen. Neben der Frage, wie es um das Verhältnis von Wirklichkeit und Imagination in den Erzählungen bestellt ist, soll in den Interpretationen der Novellen auch eine Analyse der wichtigsten geistesgeschichtlichen und psychologischen Einflüsse angestrebt werden.
4.
1 Märchenhaftes in „Das Märchen der 672. Nacht“
Die früheste der hier drei besprochenen Novellen ist das 1895 entstandene „Märchen der 672. Nacht“, ein Märchen dessen Begebenheit so einfach und real ist, dessen tieferer Sinn sich jedoch umso eindrucksvoller enthüllt.
Der Held der Erzählung ist ein reicher Kaufmannssohn, der in seiner eigenen Welt lebt, die ihm „in allen Zügen als ein mit Zauber und Grauen überfüllter Traum erscheint“. Er ist namen- und damit identitätslos und ist unfähig zur Kommunikation. Der Kaufmannssohn geht jedem Kontakt mit anderen Menschen aus dem Weg, nur seine vier Diener sind bei ihm.
Eine Bindung an Freunde oder eine Frau ist ihm unerträglich, sodass er sich immer mehr in ein einsames Leben hineinlebt, „welches anscheinend seiner Gemütsart am meisten entsprach“. Um seinem Leben Sinn zu geben, verwandelt der Narziss alles in ein „für sich“. Er fühlt sich im Besitz aller Dinge. Hinter der Schönheit, aus der er, ähnlich wie Oscar Wildes Dorian Gray, einen Kult treibt, hinter der Ergebenheit seiner Diener und dem fordernden Reiz seiner schönen Dienerinnen, spürt er jedoch ein Verhängnis. Denn durch das stetige Aufrechterhalten seiner Kunstwelt flüchtet der Kaufmannssohn vor der Wirklichkeit.
Zeigt der erste Teil der Erzählung ein behütetes Leben, so beschreibt der zweite ein böses, das immer neues Entsetzen bringt.
Ein Brief ist die Ursache für die plötzliche Wendung. Ein Brief, der „durch die Beunruhigung, die seine Botschaft ist, [...] die Handlung auslöst“. Der Inhalt des Briefes, eine „in unklarer Weise“ formulierte Beschuldigung, ist nicht so wichtig wie die Wirkung, die er hat.
Der Kaufmannssohn muss nämlich seinen Garten verlassen, muss in das Labyrinth der Stadt, wird von einem Pferd getreten und muss schließlich sterben. Speziell im Überstürzen der Ereignisse zum Schluss der Erzählung zeigt sich die „Gestaltung des Subjektinneren des Kaufmannssohns“. Die Darstellung der Bewusstseinsvorgänge des Protagonisten zeige eine „verzerrte Wirklichkeit, weil es sich um traumhaft befangene Bewußtseinszustände handelt“. Der Tod in der Einsamkeit, bestohlen und alleingelassen, ist nun der hässliche Schlusspunkt seines Lebens und nicht der schöne, ästhetische Tod, der so gut in sein Reich der Schönheit gepasst hätte.
In dieser Erzählung herrschen zwei Kontrastrelationen vor, die aber nicht nebeneinander stehen, sondern didaktisch geschickt verhakt sind: Schönheit und Hässlichkeit, als auch Leben und Tod. Sowohl das Leben, als auch der Tod können schön oder hässlich sein.
Die Korrespondenzrelation ist das wiederkehrende Motiv des hässlichen Gesichts. Immer wieder begegnen dem Protagonisten hässliche Gesichter, sei es das der kranken Dienerin oder das des kleinen Mädchens im Glashaus. Selbst das Pferd, das ihm den tödlichen Tritt versetzt, trägt einen “häßlichen Kopf”. Der Tod des Kaufmannssohnes ist also auf der motivischen Ebene sehr gut vorbereitet, aber vom psychologischen Standpunkt gesehen ist der Tod eher unmotiviert.
Warum also, so fragte sich die Hofmannsthal-Forschung immer wieder, muss der Kaufmannssohn sterben. Die ältere Hofmannsthal-Forschung bevorzugte die moralisierende Deutung.
Der Tod wird hier als eine Strafe dafür angesehen, dass sich der ästhetische Mensch vor dem Leben geflohen ist. Die Opposition zwischen dem schönen Leben versus dem gesamten Leben, inklusive aller dunklen Seiten, wird angesprochen und das Leben gleichermaßen als personifizierte Schicksalsmacht dargestellt, die jegliche Verleugnung mit der Todesstrafe ahndet.
Andere Interpreten fühlten sich mehr zur phänomenologischen Deutung hingezogen. Es darf einfach keine Erklärung geben, warum der Kaufmannssohn sterben muss. Das Ende muss unerklärt bleiben. Gerade diese Rätselhaftigkeit des Todes bildet die Unerklärlichkeit der damaligen Zeit ab.
Die rasante Entwicklung technischer Erfindungen brachte ein „Beschleunigungsphänomen”, das sich auf Wahrnehmung, Kommunikation oder Fortbewegung auswirkte und viele Menschen verunsicherte. Im “Märchen der 672. Nacht” bricht das Irrationale, Unverständliche in die geordnete Welt ein. Die Unerkennbarkeit der modernen Welt soll dem Leser dadurch vor Augen geführt werden, indem er selber von der plötzlichen Wahrnehmung des unerklärlichen Todes beunruhigt und irritiert wird; so, wie der Kaufmannssohn in der Geschichte auch.
Der dritte traditionelle Deutungsansatz schließlich ist die psychoanalytische Deutung. Sigmund Freud befand sich zur Jahrhundertwende in seiner Hochblüte und viele seiner Theorien flossen in literarische Werke des Jungen Wien ein.
Zentraler Punkt Freuds Forschung war der sogenannte „Ödipus-Komplex”, der 1910 seinen Namen bekam. Demnach gehöre es zur normalen psychischen und menschlichen Entwicklung aller männlichen Kinder, den Vater tot zu wünschen um anstatt ihm den Platz bei der Mutter einnehmen zu können. Bei der psychoanalytischen Untersuchung literarischer Texte muss zwischen zwei Phasen unterschieden werden; zwischen den Texten, die ab 1910 erschienen sind, und in die das Vorwissen der Autoren über Psychoanalyse eingeflossen war und den vorfreudianischen Texten, die quasi hinter dem Rücken der Autoren psychoanalytisch untersucht werden, ohne deren Originalintention zu berücksichtigen. Das „Märchen der 672. Nacht” ist eindeutig vorfreudianisch, doch hat das zweite Kapitel einen Traumcharakter, in dem stimmungsvolle, rätselhafte Übergänge vorherrschen.
Erste psychoanalytische Interpretationen des “Märchens” folgen dem Grundmuster der ödipalen Lehre.
So stelle der Huftritt des Pferdes eine symbolische Kastration dar. Das Pferd stehe für den strafenden Vater, vor dem der Sohn solche Angst hatte, und den er von der Seite der Mutter verdrängen wollte. Er muss also sterben wegen des Ödipus-Komplexes, die Rolle der Weiblichkeit wird jedoch nicht berücksichtigt. Neuere Interpretationen beziehen auch diesen Faktor mit ein, die Weiblichkeit wird als destruktiv dargestellt. In Hofmannsthals Text tritt sie in der Kette der bösen Gesichter als auch im literarischen Zitat der antiken Medusa, der älteren Dienerin, die der Kaufmannssohn in einem Spiegel erblickt, auf. So heißt es, sie trage “in jedem Arm eine schwere hagere indische Gottheit aus dunkler Bronze”.
Die dunklen Köpfe aber hätten einen “bösen Mund von Schlangen, drei wilde[...] Augen in der Stirn und unheimliche[n] Schmuck in den kalten, harten Haaren”.
Die Weiblichkeit ist deshalb angstbesetzt, weil der Kaufmannssohn auf Grund der fehlenden Identifikation mit seinem Vater seine femininen Anteile nicht leben kann, diese verdrängt, aber ihre – beängstigende – Rückkehr nicht verhindern kann. Solche abgespaltenen Persönlichkeitsanteile stören die Idylle seines Daseins.
Das Pferd, das dem Sohn den Todestritt versetzt, steht seit der Antike als Symbol für Weiblichkeit, die Krise des Subjekts ist perfekt.
4.2 Rätselhaftes in der „Reitergeschichte“
Auch in der „Reitergeschichte“, entstanden 1898, begegnet uns ein vorerst unerklärlicher Tod. Warum muss der Wachtmeister Anton Lerch überhaupt sterben und warum diesen, einen „schimpflichen, unnützen, einen grausamen Tod“?Für die meisten Deutungsversuche bleibt so die unaufhebbare Rätselhaftigkeit der Erzählung und die Unsicherheit der Interpreten kennzeichnend. Die Lebendigkeit der Erzählten und der Anschein, es handle sich um die Darstellung eines historischen Geschehens, führten zudem oft zu einem Missverstehen der Erzählweise dieser Novelle.
In der Tat finden sich zu Beginn der Erzählung eine Fülle von Details militärischer und politischer Art.
Manche entsprächen den historischen Tatsachen, andere wiederum seien ein „freies Spiel mit den geschichtlichen Fakten“. Im ersten Abschnitt der Novelle wird von erfolgreichen Gefechten berichtet. Die sachlich-knappe Form des Berichts vermittelt den Eindruck der Leichtigkeit dieser Kämpfe. Hofmannsthal berichte aber, wie Jacques Le Rider feststellt, von keinen „Bravour- oder Geniestreichen, [...
] sondern bloß[en] Nachhutgefechte[n]“.
Vorgeführt werden nicht Menschen und Tiere mit ihren eigenen Bedürfnissen oder Ängsten, sondern eine aufeinander eingespielte Militärmaschinerie. Nach all den Siegen und der Überzeugung, dass Gleiches in Zukunft zu erwarten sei, beginne jedoch im Siegesrausch eine „allgemeine Begehrlichkeit [...] den gemeinsamen Kampf abzulösen“, erwache unter den Soldaten eine Reizbarkeit nach Teilnahme am Genuss des Lebens.
In dem Maße aber, in dem Versagungen zurücktreten und Begehrlichkeit um sich greift, neigt der Einzelne dazu, sich bei bietender Gelegenheit aus der gemeinsamen Aktion zu lösen. Für Lerch ergibt sich der Anstoß dazu beim Anblick eines „ihm bekannte[n] weibliche[n] Gesicht[s]“ am Stadtrand von Mailand. Der Wunsch nach Erfüllung erwachter Begehrlichkeit beherrscht ihn, nach einem privaten Leben, nach Zivilatmosphäre und Behaglichkeit.
Ähnlich wie im „Märchen der 672. Nacht“ ist dieses Ausscheren aus dem geschützten Bereich der Gemeinschaft der erste Schritt zum schmählichen Ende des Wachtmeisters. Ein ganz alltägliches Erlebnis wird ihn aus der gewöhnlichen Ordnung des Lebens.
Die Krise, in die der Kaufmannssohn schlittert und die, in der sich der Wachtmeister befindet, sind sehr ähnlich. „Ins Leben kommen, auch auf die Gefahr hin, dem Tod ins Auge blicken zu müssen“, so beschreibt Jacques Le Rider diesen Prozess des Sich-selbst-Verlassens, des Sich-selbst-Überwindens.
Im Zustand dieser Triebhaftigkeit, dieser „Träumereien“ erscheint dem Wachtmeister nun gegen Abend ein Dorf „auf verlockende Weise verdächtig“. Der Ritt durch das totenstille Dorf wird als Mitte und Angelpunkt der Erzählung angesehen. Er hat die Funktion, den ambivalenten Zustand des Wachtmeisters darzustellen, ohne dessen präzise Entfaltung das folgende Geschehen unverständlich bleiben müsste. Klimax der gespenstischen Szenerie ist die Begegnung Lerchs mit seinem Doppelgänger.
Zwar ist die Begegnung mit dem Doppelgänger ein seit der Romantik gängiges Motiv für das Vorzeichen des Todes, jedoch tritt in der „Reitergeschichte“ eine weitere Dimension hinzu; das Erscheinen des Doppelgängers sei in dem verwirrten und verträumten Zustand, in dem sich Lerch zu diesem Zeitpunkt befindet, „Wirklichkeit, die durch das empfängliche Innere des Wachtmeisters bedingt ist“. Die dritte Person ermögliche es, diese subjektive Erfahrung Lerchs als objektive Wirklichkeit zu erzählen.
Das Signal zur Attacke reißt den Wachtmeister aus seinen Träumen und er wendet sich dem neuen Gefecht zu. In der Schlacht tötet er einen Offizier und erbeutet dessen Pferd. Dieses Beutepferd hat für ihn zweifellos eine ungeheure Bedeutung gewonnen, ist zum „Inbegriff alles dessen geworden, was das bedrückte und unerfüllte Dasein des Lerch [..
.] nicht ist, aber doch sein könnte“.
Unter diesen Vorzeichen geschieht nun die „unerhörte Begebenheit“, weswegen wir die „Reitergeschichte“ eine Novelle nennen. Der Rittmeister befiehlt der Kompanie, die Beutepferde auszulassen. Im Wachtmeister regt sich ein „bestialischer Zorn“ gegen den Rittmeister, der ihm „das Pferd wegnehmen wollte“. Keiner der Soldaten befolgt diesen Befehl, jedoch scheint Lerchs Befehlsverweigerung von anderer Qualität zu sein als die der anderen Soldaten.
Sie verursacht eine „ungeheure[...] Gespanntheit“, die sich erst durch den Schuss des Rittmeisters auflöst, mit dem dieser Lerch tötet.
Aus militärischen Gründen kann die Tötung Lerchs nicht gerechtfertigt werden. Dass aber gerade der Wachtmeister so unglaublich hart bestraft wird, hält keiner der Interpreten für zufällig.
Das Spektrum der Deutungen ist farbenreich. Sie gehen meistens vom Wachtmeister aus, da beim Rittmeister anscheinend „kein Spalt seiner Seele geöffnet [wird]“. So trage der Rittmeister als „Gegenfigur“ einen psychologischen Gegensatz aus und des Wachtmeisters Tod habe stellvertretende Bedeutung für den „Reinigungsvorgang“, den die Schwadron durchmachen müsse. Auch wird vermutet, der Wachtmeister verkörpere die „freche Auflehnung“, den „Aufstand des Gemeinen gegen das Edle“.
Der Starre, dem Zorn und der Stummheit des Wachtmeisters liegen jedenfalls komplexe psychische Vorgänge auf mehreren Ebenen zugrunde. Vordergründig gesehen stehen im Rittmeister und Wachtmeister Vertreter zweier sozialer Schichten einander gegenüber.
Auf der einen Seite der adelige Rittmeister, der die bestehende Ordnung verteidigt, die sich nicht zuletzt in der Befolgung eines Einzelbefehls zu bewähren hat. Auf der anderen Seite der Wachtmeister, der den unteren sozialen Schichten angehört und in einem langjährigen Dienstverhältnis gelernt hat, Befehle bedingungslos auszuführen. Im Konfliktfall kann der in seiner Ohnmacht hilflose Untergebene, gewöhnt an Gehorsamsübung, gar nicht anders reagieren als durch Befehlsverweigerung. Der Anspruch Lerchs, im Beutepferd vergegenständlicht, trifft den Rittmeister nun an einer empfindlichen Stelle. Nicht nur Rang und Macht, sondern auch das Selbstverständnis des Rittmeisters stehen auf dem Spiel.
Lerchs Verhältnis zu seinem Vorgesetzten ist in seinem Kern ambivalent.
Einerseits ist es bestimmt durch Zutrauen, das aus „vieljährigem Dienstverhältnisse“ hervorgegangen ist, andererseits ist dies auch die Ursache für den Zorn, „wie er nur durch jahrelanges enges Zusammenleben auf geheimnisvolle Weise entstehen kann“. Gerade dieser Widerspruch von Zutrauen und Zorn, versinnbildlicht im oft vorkommenden Bild des unterworfenen Hundes, mache Lerch zu einem psychisch Geschädigten: „Lerch ist kein Revolutionär, sondern ein Gestörter“. Weil Lerch nicht Revolutionär, sondern ein an den Verhältnissen Gescheiterter ist, ist sein Tod Ausdruck einer Ohnmacht, die ihre Ursachen nicht in der Gehorsamsverletzung hat, sondern in seiner gestörten Identität.
Hofmannsthal ziele mit dieser Erzählung, so Wolfram Mauser, auf eine Lösung des Konflikts ab, der der Selbstverwirklichung des einzelnen im Wege steht. Dazu gehört die Überwindung des Gegensatzes Dienst/Leben, an dem der Wachtmeister zerbrochen ist, und die Gewinnung einer Identität, die Dienst und Leben zu integrieren vermag.
4.
3 Unerklärliches in „Erlebnis des Marschalls von Bassompierre“
Besonders Hofmannsthals Neigung zum offenen Schluss könnte vermuten lassen, er habe die Erzählung des Marschalls von Bassompierre, entstanden 1900, wegen der Unerklärbarkeit des Endes aufgegriffen. Hofmannsthal erzählt die Geschichte vom Erlebnis des Marschalls nach Goethes Vorlage aufs neue. Es handle sich aber nicht um eine bloße „Nacherzählung“ des Textes; charakteristische Abweichungen von der Vorlage bezeugen eine eigene Intention.
Angesichts der Gliederung der Erzählung in sechs ungleich umfangreiche Teile lässt sich leicht erkennen, wo das Bedeutungszentrum für Hugo von Hofmannsthal liegt. Erzählt wird die Geschichte des Marschalls von Bassompierre, erfolgreicher Soldat am Hofe König Ludwigs XIII., der eine Beziehung zu einer schönen Krämerin anknüpft.
Ein Rendezvous wird für den nächsten Tag vereinbart. Die Begegnung der beiden in einem der öffentlichen Häuser von Paris und die Schilderung der Liebesnacht nimmt so viel Raum ein wie die übrigen Teile zusammen. Zunächst ist Bassompierre nur oberflächlich betroffen. Obgleich er zweifellos fasziniert ist von der außergewöhnlichen Erscheinung der Krämerin, kann es ihm doch passieren, dass er sie „mit einer ganz anderen aus früherer Zeit verwechselte“. Mitten in der Nacht erwacht Bassompierre und erkennt erst jetzt, „wie groß und schön sie war“. Er sieht sie plötzlich mit anderen Augen, er sieht sie „zum ersten Male“.
Ein unmerklicher grammatischer Wechsel zeigt die Änderung von Bassompierres Einstellung an. Wird bis dahin genau zwischen „sie“ und „ich“ unterschieden, so heißt es von nun an „wir“ und „unser“. Aber der nächste Morgen offenbart peinlich der „Vorsprung“ an Gefühl, um den die Krämerin mit ihrer voll gereiften Liebe dem Marschall mit seiner frisch erwachten voraus ist. So kleinlich erscheinen Bassompierre auf einmal die Ausreden, durch die er sich anfangs verhindert glaubt, die Geliebte wiederzusehen und so wird ein neues Stelldichein für den folgenden Sonntag im Hause einer Tante verabredet.
Doch eine gewisse Unruhe zwingt Bassompierre schon in der folgenden Nacht, die schöne Krämerin wiedersehen zu wollen. Seine Leidenschaft hat nun endlich die ihre eingeholt, nun erst, nachdem es unwiderruflich zu spät ist.
Denn seine Unruhe wird nur noch gesteigert, als er durch die Fensterläden ihres Hauses späht und einen Mann, offensichtlich den Mann der Krämerin, sieht. Er hatte sich diesen als einen „unförmlichen dicken Menschen oder als einen dürren gebrechlichen Alten“ vorgestellt, erblickt aber zu seinem Erstaunen einen „ungewöhnlich großen und sehr gut gebauten Mann [...] mit einer Stirn von fast seltsamer Erhabenheit“. Bassompierre sieht aber nicht nur den Mann, der ihm die geliebte Frau entwendet hat, er bekommt auch einen Einblick in die Welt, in der sie zu Hause und aus der sie zu ihm gekommen ist, eine reinliche und gepflegte Welt.
Anders als das fragwürdige Haus, in dem er ihr begegnet ist, anders auch als der zerstörte Raum, in dem er sie wiederfinden wird.
Die Geheimnisse werden von nun an nur noch vermehrt, nicht mehr erhellt und so sehnt Bassompierre voller Verwirrung den Tag des Wiedersehens entgegen. In seiner Verblendung erwartet er nichts als die Wiederholung der leidenschaftlichen Nacht und begibt sich ohne jede Vorahnung zu dem verabredeten Stelldichein. Zu seinem Erschrecken sieht er aber statt der schönen Geliebten die Leichen zweier anscheinend an der Pest verstorbener Menschen, von Totemwärtern umgeben, die das Bettstroh verbrennen. Dieses Bild sei gewissermaßen die „makabre Travestie der Liebesnacht seiner Erinnerung und seiner Erwartung“. Das Liebesgemach wurde zur Todeskammer, die die getrennten Gatten wieder vereint hat und den Liebhaber ausschließt.
Taumelnd flieht der Marschall und reist am nächsten Tag nach Lothringen ab. Den letzten Abschnitt bilden zwei Sätze, in denen der Bassompierre berichtet, er habe nach seiner Rückkehr vergeblich versucht, etwas von dieser Frau zu erfahren.
Wiederum wird also von dem tödlichen Einbruch eines dunklen Schicksals in ein geordnetes Leben berichtet und erneut begegnen wir im „Erlebnis des Marschalls von Bassompierre“ dieser Rätselhaftigkeit, dieser unerklärbaren Unruhe. Richard Alewyn hat das in eindrucksvoller Weise formuliert:
„Alles, was in dieser Geschichte geschieht, ist von Dunkel umgeben, dem Dunkel der Heimlichkeit in der ersten, dem Dunkel der Unheimlichkeit in der zweiten und dem Dunkel der Zweideutigkeit in der mittleren Nacht.“
Wirkungsvoll verstärkt wird dieser Eindruck dadurch, dass die Geschichte nicht durch einen allwissenden anonymen Erzähler berichtet wird, sondern von dem, der sie miterlebt hat und der daher auch nichts zu sagen weiß, als das, was er selbst gesehen oder gehört hat.
Liebe und Tod sind im Werk des jungen Hofmannsthal keine Feinde, sondern eng verwandt.
Ob der Tod im „Erlebnis des Marschalls von Bassompierre“ ein Liebestod ist oder eine Strafe, ob er nun schön oder grausig ist, das ist genauso wie die Tatsachen, anders als in der „Reitergeschichte“, in Unsicherheit getaucht. Ohne Zweifel bleibt nur des Marschalls unbegreifliche Erfahrung, sein subjektives Erlebnis, nämlich
„die Leidenschaft einer ihm Fremden, die alles hingibt ohne ein anderes als die Stunde zu wollen, und daß er die, die er nach der seltsamen Vereinigung ersehnt, als eine Tote wiederfindet.“
Die Pest wird zum Werkzeug des befremdlich großen Schicksals, das für die Liebenden nie eine Aussicht und für ihre unsägliche Beglückung keine Wiederholung hatte.
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