Johann wolfgang goethe - selige sehnsucht
Lineare Interpretation Johann Wolfgang Goethe – Selige Sehnsucht
Goethes Gedicht “Selige Sehnsucht” wird ein Menschenbild thematisiert, welches sich von einem mechanischen Dahinleben abhebt.
Das Gedicht besteht aus fünf vierzeiligen Strophen, welche jeweils im Reimschema abab usf. geschrieben sind.
Die Strophe I und V richten sich an einen Leser und bilden die Rahmenhandlung.
Die Strophen II – IV erzählen von einem Schmetterling, der sich aus Verlangen immer mehr einer brennenden Kerze nähert, bis er letztendlich verbrennt.
Die erste Strophe beginnt mit der pathetischen Anrede: “Sag es niemand, nur den Weisen”.
Sie setzt bereits zwei Dinge voraus. Zum einen hält sich das lyrische Ich für weise, da es offenbar etwas weiß, was nur an weitere weise Menschen weitergesagt werden dürfe, zum anderen setzt es aber auch einen Leser / Zuhörer voraus, der selber weise ist. Dies ist erforderlich, “Weil die Menge [das was das lyrische Ich mitteilen möchte] gleich verhöhnet” (Zeile2). In den beiden folgenden Zeilen erfährt der Leser, worum es dem lyrischen Ich geht. Das “Lebend`ge soll angepriesen werden, welches sich nach dem “Flammentod” sehnt. Diese scheinbar paradoxe Preisung zu verstehen traut das lyrische ich jedoch scheinbar nur Weisen zu und hofft sich durch die Warnung vor dem Hohn der Menge zu schützen.
In der zweiten Strophe beginnt dann der eigentliche Handlungsstrang.
Ein Lebewesen, welches erst in Strophe IV als Schmetterling enthüllt wird, wird zunächst in seiner beschränken Lebensroutine dargestellt. Der Schmetterling lebt in der “Liebesnächte Kühlung die ihn zeugte wo er zeugte” (Vgl. Z.6). Durch diese Paronomasie wird deutlich, das er den selben Lebensweg der Eltern fortlebt, ohne sich durch eigene Taten von diesen zu unterscheiden.
Dann beginnt er jedoch plötzlich etwas Fremdes zu fühlen, als er “die stille Kerze” (Z.8) leuchten sieht Für eine Kerze die Beschreibung “still” zu verwenden ist ungewöhnlich, da Kerzen eher durch ihr Licht, nicht aber durch ihre Akustik charakterisiert werden. Vielmehr zeigt diese Synästhesie, das die Kerze für den Schmetterling etwas Höheres bedeutet, als nur eine Kerze. Sie bewirkt in ihm eine “Fremde Fühlung” (Z.7) welche ihn erst ermöglicht, in der Kerze etwas besonderes zu sehen.
Strophe III zeigt nun die Wirkung, die dieses fremde Fühlen beim Schmetterling auslöst.
Er bleibt nicht länger in seinem gewohnten Lebensraum, sondern will ihn voll “neuem Verlangen” (Vgl. Z. 11) zur “höheren Begattung (Z.12) verlassen. Die bisherige Umgebung wird mit dem Hendiadyoin “Finsternis Beschattung” beschrieben, welches nochmals die Beschränktheit des Lebensraumes deutlich macht und damit auch die Wirkung erklärt, die durch die Kerze auf den Schmetterling ausgelöst wird.
Die vierte Strophe schildert das Bemühen des Schmetterlings dem Licht immer näher zu kommen.
Während er erst nur von dem Licht “gebannt” (Z.14) ist, wird er “zuletzt, des Lichts begierig” (Z.15). Diese Begierde kann er nicht mehr kontrollieren und verbrennt letztendlich in der Kerzenflamme.
Die letzte, fünfte Strophe endet mit einem Aufruf des Lyrischen Ichs:
“Und solange du das nicht hast, dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde”.
Daran daß das lyrische Ich den paradoxen Grundsatz “Stirb und werde” allgemein erhebt, wird deutlich, daß die Strophen II – IV ebenfalls allgemein, auf der konotativen Ebene betrachtet werden müssen.
Der Schmetterling kann dann als ein Bild für den Menschen gesehen werden. Der Mensch ist ebenso wie der Schmetterling in einer gewissen Lebensroutine festgefahren. Wie auch der Schmetterling wurde er gezeugt und zeugt wieder ohne sich darin von den anderen Menschen zu unterscheiden. Solange der Mensch nicht erkennt, daß es etwas wichtigeres als ihn selber gibt, wird er auch nicht von dieser “fremden Fühlung” ergriffen sein, die den Schmetterling überfällt. Diese “fremde Fühlung”, der Glaube an etwas höheres ist jedoch Voraussetzung dafür, selber etwas höheres zu werden. Wenn der Schmetterling die Kerze erblickt hätte ohne darin etwas Höheres zu sehen, hätte er seine Lebensroutine dafür nicht aufgegeben.
Auch der Mensch beginnt erst etwas Höheres anzustreben, wenn er in diesem Höheren eine Verbesserung sieht.
Nicht das Erreichen dieses Höheren ist eigentliches Ziel, sondern vielmehr die Sehnsucht nach diesem.
Dies erklärt auch die Überschrift “Selige Sehnsucht”. Die Sehnsucht als solche ist bereits selig, also der Zustand vollkommener Glückseligkeit.
Obwohl der Schmetterling in dieser Sehnsucht den Tod findet, scheitert er dennoch nicht.
Zwar stirbt er, aber durch sein Verbrennen wird er zu dem, was er anstrebte: Licht.
Auch Menschen haben oft idealisierte Vorstellungen, die sie im Leben nicht erreichen können. Was diese Ideale auch im einzelnen sind, es bleiben immer nur Ideale, denen man nie entsprechen wird. Die Imitation eines Ideals wird niemals das Ideal erreichen. Allein der Versuch diesem näherzukommen bringt einen weiter. Ebenso wie der Schmetterling im Licht aufgeht. kann der Mensch in seinen Idealen aufgehen und über den Tod hinaus selber ein Teil dieses Ideals werden.
Besonders deutlich zeigen läßt sich dies an der Heiligenlehre der katholischen Kirche. Obwohl die Heiliggesprochenen selber kein Leben führten, welches sie als heilig ausgezeichnet hätte, wurden sie doch für ihr Bemühen hierin selber zu Vorbildern und Heiligen für viele Katholiken.
So läßt sich dann auch der Ausspruch: “Stirb und werde” verstehen.
Nicht sein eigenes Leben zeichnet einen Menschen für nachfolgende Generationen aus, sondern das, was den Menschen aus deren Sicht einzigartig werden ließ.
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