Kleider machen leute
Kleider machen Leute – Keller Gottfried
Erzählung von Gottfried KELLER (1819 – 1890)
erschienen 1874 im zweiten Teil des Novellenzyklus
„Die Leute von Seldwyla“
Hier deckt der Autor das komplexe Verhältnis zwischen Täuschung und Realität und zwischen Schein und Sein unter gesellschaftlichem Aspekt auf. Nicht in einer träumerisch-weltfremden Gebärde erscheint das Wunderbare, sondern in einer der gesellschaftlichen Wirklichkeit kritisch zugewandten Haltung, die durch unverstelltes Gefühl und unbeirrbare Tatkraft glaubhaft wird. Was als romantischer Traum und teils als Betrug begann, wird durch die Unabhängigkeit des natürlichen Gefühls in die bürgerliche Ordnung zurückgeführt.
INHALT
Ein arbeitsloser Schneidergeselle aus Seldwyla, Wenzel Strapinski, hat sich auf die Wanderschaft begeben. Unterwegs darf er aber bald in einer vornehmen Kutsche Platz nehmen, die ihn in das Nachbarstädtchen Goldach bringt. Als er aus dem herrschaftlichen Wagen steigt, wird er vom Kutscher als Herr von aristokratischer Herkunft ausgegeben.
Wenzel erregt sofort Aufsehen durch sein melancholisches Aussehen und vor allem aber durch seinen langen, kostbar wirkenden, samtgefütterten Mantel. Er gilt bald als ein polnischer, mit Reichtümern gesegneter Graf, den die neugierige und gewinnsüchtige Bürgerschaft fürstlich bewirtet und dementsprechend hoch leben lässt. Das verträumte Schneiderlein fördert dieses märchenhafte Missverständnis nicht, unternimmt aber auch nichts, um es aufzuklären.
Die wachsende Zuneigung zur Amtstochter Nettchen verführt ihn endgültig dazu, die allseitige Bewunderung freundlich hinzunehmen und aus der glanzvollen gesellschaftlichen
Anerkennung Nutzen zu zeihen. Sein vornehmes Wesen und sein „fürstlicher“ Aufzug erwecken bald zärtliche Gefühle in Nettchen, die in Wenzel den Märchenprinzen erblickt, den sie in ihren romantischen Träumen erdachte. Doch auf dem aufwendigen Verlobungsfest, das Wenzel mit einem Spielgewinn finanzieren will, entlarven einige schadenfrohe Bürger aus Seldwyla das Brautpaar.
Der Mantelgraf sieht sich nach einer gespielten Pantomime mit dem Wortspiel „Leute machen Kleider – Kleider machen Leute“ entdeckt und flieht verzweifelt in die Winternacht hinaus. Halb erfroren findet ihn Nettchen, die ihm nachgefahren ist, im Schnee. Durch kluge Fragen bringt sie ihn zum Sprechen, und obgleich sie anfangs entrüstet ist, erkennt sie, dass sich hinter seiner romantischen Verwirrung Unschuld und Wahrhaftigkeit verbergen. Demzufolge setzt sie gegen den Willen des Vaters und ohne den Spott der Bürger zu fürchten, die Heirat durch.
Wenzel rechtfertig ausgezeichnet das in ihm gesetzte Vertrauen, indem er ein angesehener Tuchherr in Seldwyla und später auch in Goldach wird. Er kann seinen Besitz, aber auch sein Liebesglück und die Zahl seiner Kinder beliebig erweitern.
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