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  Literaturprotokoll, juli 1996

Literaturprotokoll, Gabriel Maresch Juni 1996   Friedrich Dürrenmatt: “ Der Besuch der alten Dame”  Friedrich Dürrenmatt, geboren am 5. Jänner 1921 in Konolfingen (Kanton Bern), war der Sohn eines protestantischen Pfarrers. Er besuchte ein Gymnasium in Bern und studierte dann in dort sowie in Zürich Theologie, Philosophie und Germanistik. Eine Zeitlang arbeitete er als Graphiker, Journalist und schrieb erste Texte für Kabarett. Im Alter von 22 Jahren begann er mit ersten schriftstellerischen Versuchen. Nach dem Erfolg seiner Theaterstücke, wandte er sich ganz dem literarischen Schaffen zu.

Als Erzähler hat er vorwiegend Kriminalstoffe zum Vorlage genommen. Dürrenmatt hat Romane und Hörspiele geschrieben, das Zentrum seines Werkschaffens ist aber die Dramatik. Entscheidend für ihn war die Konfrontation mit der Dramatik Thornton Wilders und des späten Bert Brechts.   Dürrenmatt wurde vielfach ausgezeichnet und erhielt und unter anderem Ehrendoktorate an den Universitäten von Jerusalem, Neuchâtel und Zürich. Dürrenmatt war Teilnehmer des Friedensforums “Für eine atomfreie Welt, für das Überleben der Menschheit” in Moskau. Außerdem war er Direktionsmitglied am Baseler Theater und Mitherausgeber des Zürcher “Sonntag Journals”.

  Dramen: Romulus der Große, 1950 Die Ehre des Herrn Mississippi, 1952 Ein Engel kommt nach Babylon, 1954 Der Besuch der alten Dame, 1956 Die Physiker, 1962   Romane: Der Richter und sein Henker, 1952 Grieche sucht Griechin, 1955 Die Panne, 1956 Das Versprechen, 1958   Hörspiele: Unternehmen Wega, 1955 Nächtliches Gespräch mit einem verachteten Menschen, 1957   Preise: Hörspielpreis der Kriegsblinden, 1957 Schiller-Preis der Stadt Mannheim, 1959 Buber-Rosenzweig Medaille, 1977 Österreichischer Staatspreis für Europäische Literatur, 1983 Karl-Zuckermayer Medaille, 1984 Georg-Büchner-Preis, 1986 Ernst-Robert-Curtuis-Preis, 1989   Inhaltsangabe  In Güllen, einer heruntergekommenen und wirtschaftlich darnieder liegenden Kleinstadt in der Schweiz, erwartet man einen hohen Gast. Die als wohltätig bekannte Multimilliardärin Zachanassian will ihrer Heimatgemeinde einen Besuch abstatten. Ein Jugendfreund namens Alfred Ill soll Klara Wächter, so hieß Zachanassian bevor sie einen armenischen Ölbaron heiratete, zu einer großzügigen Spende zugunsten der Stadt überreden. Nach dem improvisierten armseligen Empfang durch den Bürgermeister werden der Milliardärin Arzt und Lehrer vorgestellt, bevor sie von ihren Dienern in einen Sänfte in die Stadt getragen wird. Während Unmengen von Koffern, nebst einem schwarzen Panther und einem Sarg ins Hotel geschafft werden, führen Ill und Zachanassian im Konradsweilerwald ein Gespräch. Ill behauptet, sie damals vor 45 Jahren nur deshalb nicht geheiratet zu haben, weil er sie geliebt habe.

Nur weil sie wegen ihm Güllen verlassen habe, sei sie heute so reich, und führe keine solch erbärmliche Existenz wie er. Nach ihrer Rückkehr hält der freudestrahlende Bürgermeister eine Rede im einzigen Gasthaus, dem Goldenen Apostel. Zachanassian verspricht, scheinbar gerührt, Güllen eine Milliarde zu schenken; aber nur unter einer Bedingung: Sie will Gerechtigkeit. Ihr Butler Boby, der ehemalige Oberrichter, tritt vor und erklärt: Alfred Ill habe im Jahr 1910 eine Vaterschaftsklage von Klara Wächter nur dadurch verhindert, daß er zwei Zeugen bestochen habe, zu seinen Gunsten auszusagen. Er führt die beiden herein: Sie sind nun entmannt und geblendet. Die Bedingung der Milliardärin lautet: Eine Milliarde dafür, daß jemand Alfred Ill tötet.

Am Ende des ersten Aktes lehnt der Bürgermeister entsetzt ihr Angebot ab, sie aber antwortet gelassen, daß sie abwarte.   Ill ist sich der Unterstützung seiner Mitbürger sicher und denkt nur an Solidarität gemäß dem Motto “Einer für alle. Alle für einen”, wenn in seinem Laden plötzlich Schokolade, besserer Schnaps und teurerer Tabak verlangt - und auf Kredit verkauft wird. Als auf einmal alle neue Schuhe tragen, wird er mißtrauisch. Er geht zur Polizei und verlangt die Verhaftung der Milliardärin wegen Anstiftung zum Mord, doch der Polizist, aus dessen Mund ein neuer Goldzahn bleckt, erklärt seine Befürchtungen für unbegründet. Der Bürgermeister nimmt gerade eine neue Schreibmaschine in Empfang, als Ill ihn aufsucht.

Auch dieser erklärt, daß seine Furcht unnötig sei, obwohl man durchaus den Standpunkt der Dame verstehen könne, die er ins Elend gestürzt habe. Da der schwarze Panther der Milliardärin ausgebrochen ist, schleicht die gesamte männliche Bevölkerung Güllens mit Gewehren herum. Ill hat nun Angst um sein Leben und flieht zum Pfarrer in die Sakristei, doch als er auch dort das Läuten einer zweiten neuen Glocke vernimmt, bestürmt ihn der Gottesmann, die Güllener nicht durch sein Bleiben in Versuchung zu führen. Ill beschließt zu fliehen; auf dem Weg zum Bahnhof aber schließen sich ihm mehr und mehr Bürger an, um sich von ihm zu “verabschieden”, wie sie vorgeben. Ill wird immer unruhiger als sich die Menschenmenge um ihn schart. Sobald der Zug eintrifft befällt Ill die Angst, daß man ihn am Einsteigen hindern wolle.


Keineswegs sei das der Fall, wird ihm versichert. Der Zug fährt ab, Ill bricht zusammen, bedeckt sein Gesicht und wimmert, daß er verloren sei. Der Vorhang des zweiten Aktes fällt.  Der Arzt und der Lehrer suchen noch einmal die Milliardärin auf und schlagen ihr ein Geschäft vor. Sie müsse keine Milliarde verschenken, um Güllen zu retten; kaufe sie die Wagenwerke und die Platz-an-der-Sonne Hütte, sei beiden Seiten gedient, ohne daß Blut fließe. Doch da ihr alles bereits seit Jahren gehört, ist auch diese letzte Alternative unmöglich geworden.

Zachanassian heiratet im Dom zu Güllen ihren bereits IX. Ehemann. Dementsprechend viele Journalisten und Reporter sind gekommen. Die Bevölkerung, die sich zusehends in immer größere Schulden stürzt, ist bemüht der Presse den Handel um Ill, den sie nun offen verachtet und für das “namenlose Unglück von Klara” verantwortlich macht, vorzuenthalten. Dennoch bekommen zwei Pressemänner Wind von Ills einstiger Beziehung zu Zachanassian und platzen in seinen Laden. Doch Ill schweigt - und bringt den Lehrer, den einzigen der noch um Menschlichkeit und Wahrheit bemüht ist, zum Schweigen.

Er hat die Furcht abgelegt, ist sich seiner Schuld bewußt und hat sich mit seinem Schicksal abgefunden. Der Bürgermeister teilt Ill mit, daß eine Gemeindeversammlung über ihn abgehalten werde. Da das Fernsehen zugegen sein werde, stimme man der Form halber über eine Stiftung, in Wirklichkeit aber über ihn, Ill, ab. Alfred Ill erklärt sich mit jedem Urteil einverstanden, lehnt es aber ab sich, wie vom Bürgermeister vorgeschlagen, selbst zu richten. Ein letztes Mal trifft er Klara im Konradsweilerwald. Sie sprechen über ihr gemeinsames Kind, das im Alter von einem Jahr, gestorben ist, nachdem sich Ill aus der Verantwortung gezogen hat.

Da er um seinen nahen Tod weiß, eröffnet ihm seine einstige Geliebte, daß sie für ihn ein Mausoleum auf Capri errichtet hat, in das sie ihn bringen wird. Die Versammlung wird eine perfekte Inszenierung für Radio und Fernsehen; die Abstimmung verläuft einstimmig. Die Presse wird in ein Restaurant gelotst, die Türen des Versammlungssaales verschlossen. Die Güllener bilden eine Gasse und ermorden alle gemeinsam den Unglücklichen, als er sie entlangschreitet. Den Reportern erklärt man: Tod durch Freude. Während man Ill endlich in den so lange leer gebliebenen Sarg legt, wird der Scheck überreicht.

Den Schluß des letzten Aktes bildet ein gewaltiger, der Antigone des Sophokles nachempfundener Chor der Mörder: Ein Gott bewahre [...] die hohen Güter, damit sie das Glück glücklich genießen.   Stoff  Die Moral hat sich seit dem Ende des Grauens des Zweiten Weltkrieges nicht wesentlich verändert und trägt noch immer dasselbe Antlitz. Die Menschen sind korrumpierbar, käuflich, manipulierbar, Gerechtigkeit ist eine Ware, für die man bezahlen muß - in doppeltem Sinn.

Dürrenmatt versucht mit Satire und Kritik die Gesellschaft wachzurütteln; er macht aufmerksam auf die Gefährdung durch jene Mächte, die sich der Mensch selbst geschaffen hat. Tatsache ist, daß in der vom Krieg verschont gebliebenen Schweiz, die dadurch die Entwicklung zur Wohlstandsgesellschaft schneller und rapider durchmachte als ihre Nachbarländer, viel früher offensichtlich wurde, daß Fortschritt zugleich auch Zerstörung bedeutete. Dürrenmatt reagiert mit diesem Stück kritisch auf die allgemeine Entwicklung der westlichen Welt; seine Intention ist es, die Besinnung des Menschen zu wecken und ihm klarzumachen, daß es von jedem einzelnen abhängt, ob man in einen Zustand der vollständigen Barbarei zurückfällt oder zu einer christlicheren und humanitäreren Lebenseinstellung findet. Aus diesen und ähnlichen Überlegungen heraus dürfte das vorliegende Werk entstanden sein.   Thema  Im Fortlauf der Handlung dieses Dramas sind zwei Themen miteinander verknüpft, wobei das erste (allgemeine Moral) in absteigender, das zweite (Entwicklung der Moral des Einzelnen) in aufsteigender Richtung erfolgt.   Die unumschränkte Macht des Geldes in der heutigen, materialistisch eingestellten Gesellschaft, sowie die Macht und Verführung desselben.

Die Geschichte des schuldigen Alfred Ill, der dazu gelangt, seine Schuld zu erkennen und zu sühnen.   Motive   Die Wandlung der Moral in Abhängigkeit von der ökonomischen Situation Dürrenmatt macht es in seinem Stück den Bewohnern von Güllen zusehends schwerer, sich an “das Gebot der Menschlichkeit zu” halten. Anfangs felsenfest hinter Ill stehend, schleicht sich doch der Gedanke an die Milliarde in ihre Hirne. Die anfangs gemachten Schulden, noch in der Hoffnung auf eine gütliche Einigung mit Zachanassian, kombiniert mit den nun geänderten Wertvorstellungen, die sie jetzt Ill als einen Schuft und Verbrecher sehen läßt, macht sie schließlich zu Mördern. Der Glauben der Milliardärin, oder allgemein eines sehr reichen oder wohlhabenden Menschen, mit Geld alles, auch die Gerechtigkeit kaufen zu können. Der Panther stellt sowohl den einstigen Kosenamen Ills, als auch das Raubtier, das Zachanassian in einem Käfig mit sich führt, dar.

Es besteht also eine Verbindung zwischen Ill und dem Tier: Als es ausbricht, gejagt und schließlich auch getötet wird, bezieht Ill diese Hetze auf sich; am Schluß meint die Milliardärin beim Anblick seiner Leiche “Er ist wieder so, wie er vor langer Zeit war, der schwarze Panther”. Dieses Motiv birgt symbolische Doppeldeutigkeit. Einerseits steht es für die naturhafte Wildheit der Liebesbeziehung zwischen zwei jungen Menschen, andererseits aber auch für das Raubtier im Menschen, das getrieben von der Aussicht auf Milliarden alle Moralkonventionen bricht. Das Vernichtung geistiger und sittlicher Werte durch das allzu große Verlangen und die Gier nach materiellem Besitz oder Geld. Die Güllener, von Dürrenmatt nur als schwach, nicht böse bezeichnet leben mit Ill in intakten Beziehungen; freilich zum Preis bitterer Armut und wollen ihn sogar zum nächsten Bürgermeister machen. Durch das Gebot einer unvorstellbar hohen Summe ist ihnen aber Freundschaft, oder auch nur das nackte Leben eines Menschen weniger wert als Geld.

Die Entwicklung bis zu diesem Punkt verläuft kontinuierlich; Indikatoren des steigenden Wohlstandes (und somit der Konkretisierung des Mordes an Ill) einerseits, sowie der wachsenden Besorgnis des schuldbeladenen Krämers andererseits sind beispielsweise die gelben Schuhe und bessern Lebens- und Luxusmittel der Güllener, das Plakat der Oberammergauer Passionsspiele, der Rathausbauplan und die Konsumorgie des Schlußbildes. Der Lehrer vergleicht Zachanassian mit Medea, einer Figur aus der Mythologie des antiken Griechenlands. Sie verhalf dem Führer der Argonauten, Jason, das Goldene Vlies zu rauben und wurde dessen Frau. Die beiden kehrten nach Jolkos, dem Ausgangspunkt der Abenteuer zurück, wo Medea den Pelias, der Jason auf die gefährliche Reise geschickt hat, täuscht und dann von seinen eigenen Töchtern zerstückeln läßt. Als Jason in Korinth eine Königstochter heiraten will, läßt Medea der Braut ein Kleid überbringen, aus dem beim Ankleiden Flammen emporschlagen und alle Anwesenden verbrennen. Medea ist der Inbegriff einer Frau die, nicht wie Ariadne, aus Rache und Verrat des Mannes zu unglaublichen Grausamkeiten fähig ist.

Die Schuld des Schuldigen wird gesühnt; doch nicht im Namen der Gerechtigkeit, wie im Schlußakt behauptet wird, sondern aus Gier. Ill erkennt seine Schuld und sühnt sie auch. Er beugt sich der scheinbaren Gerechtigkeit der anderen, die durch diese Tat noch viel schwere Schuld auf sich nehmen. Die Tat Ills wird nicht verharmlost, doch steht seinen Richtern ein ähnliches Schicksal, freilich in ferner Zukunft bevor, wie Dürrenmatt es durch die Figur des Lehrers anklingen läßt: “Noch weiß ich, daß auch zu uns einmal eine alte Dame kommen wird, eines Tages, und dann mit uns geschieht, was nun mit Ihnen geschieht [..]” Das Opfer eines einzelnen, in diesem Falle sogar der Tod zum Wohle der Allgemeinheit.

Unweigerlich trägt der Bürgermeister den Vorschlag eines Selbstmordes an den Todgeweihten heran. Ursprünglich zu diesem Schritt bereit, um Güllen aus der Armut zu retten, hat das Verhalten seiner Mitbürger, die Spekulation mit seinem Tod, ihn aber soweit gebracht, trotz dem Erkennen und Eingestehen seiner Schuld, sich nicht zum Handlanger seiner Mörder zu machen. So gesehen stellt seine unausweichliche Ermordung nur den letzten Schritt, in seiner Konsequenz unwiderrufbar, der Entwicklung von Ills Moral dar, während jene der Masse ein Minimum erreicht hat. Der Tod ist ein ständig auftretendes Motiv dieses Dramas. Schwach klingt es am Beginn im heruntergekommenen Güllen an, steigert sich dann, um in den zunächst befremdlichen Bemerkungen der Milliardärin (ob der Pfarrer zum Tode Verurteilte tröste, der Arzt Totenscheine ausstelle oder der Turner schon jemanden erwürgt habe) einen ersten Höhepunkt zu finden. Der Tod bleibt auch danach allgegenwärtig, zum einen Teil in der Wortwahl der Figuren (“Totenstille”, “todsicher”, “Konjunktur für eine Leiche”, “Ein Toter bei einem Götzenbild aus Stein”, “der Tod kriecht näher”, etc.

), zum anderen Teil in den zum Tod verurteilen Sänftenträger und Zachanassian, die Autounfall und Flugzeugabsturz überlebt hat, während andere umkamen. Tod und Tat finden ihren Ausklang in der perversen Heuchelei von Ills Ermordung als “Tod aus Freude”.   Ort der Handlung  Das Stück spielt in Güllen, einer Kleinstadt irgendwo in Mitteleuropa, zumindest wenn man Dürrenmatts Anmerkung Glauben schenken darf; Kritiker und Verfasser von Sekundärliteratur sind sich dagegen einig, daß dieses “Irgendwo” nur die Schweiz sein kann. Der Name Güllen leitet sich vom im landwirtschaftlichen Bereich gebrauchten Wort “Gülle” für Jauche ab. Ebenfalls symbolischen Charakter besitzt am Schluß des Stückes der Antrag den Ort in Gülden, was “wie aus Gold” heißt, umzubenennen.   Die anfängliche Armut wird durch den heruntergekommenen Bahnhof, an dem die Expreßzüge nur noch vorbei rauschen, statt zu halten, und einen verwahrlosten Straßenzug angedeutet.

Auch das einzige Gasthaus, der “Goldenen Apostel” ist in einem verlotterten Zustand, ebenso Ills Laden. Die Industrie (Wagnerwerke, Bockmann, Platz-an-der-Sonne Hütte) ist ruiniert, auch Gymnasium, Rathaus und Kathedrale befinden sich in erbärmlichem Zustand. Erwähnenswert ist auch die geographische Lage Güllens: Zwischen Kaffigen und Kalberstadt liegt sie am Rande des Konradsweilerwaldes in der Niederung von Pückenried. Die Verwandlungen, die Güllens Luxus mehren und auf offener Bühne durchgeführt werden, erfolgen immer wieder von Zeit zu Zeit. Die genaue Gestaltung der Schauplätze hängt jedoch von den Gegebenheiten des Theaters und den Vorstellungen des Regisseurs ab.   Charaktere & deren Konstellation   Der Einfachheit halber werde ich im folgenden von der von Friedrich Dürrenmatt aufgestellten Einteilung der Personen in Besucher, Besuchte, Sonstige und Lästige abgehen, und nur die jeweils Wichtigsten jeder Gruppe behandeln.

  Klara Wächter alias Claire ZachanassianKlara (lat. clarus = hell, berühmt), die Tochter des Baumeisters Gottfried Wäscher, hatte 45 Jahre vor der Gegenwart der Handlung des Stückes eine Liebesaffäre mit Alfred Ill. Sie wird schwanger und klagt ihn in einem Vaterschaftsprozeß, doch er entzieht sich seiner Verantwortung. Sie muß gedemütigt Güllen verlassen und verkommt zur Dirne in einem Hamburger Bordell. Dort fand sie der armenische Ölmilliardär Zachanassian und machte sie zu seiner Frau und Erbin.   Anfangs sehen die Güllener in ihr eine Wohltäterin, die Spitäler, Kirchen und Kinderkrippen spendet, deren hilfreiche Millionen ihnen sicher sind, so sie nur alles geschickt und psychologische Inszenieren.

Doch Zachanassian enttäuscht alle auf Egoismus und Eigennutz gebauten Illusionen; sie bringt nicht Güte, sie will Rache. In allen Komplimenten und Reden erkennt sie die Lüge sofort und stellt sie ungeniert, auch auf ihre Kosten, richtig. Nach Auto- und Flugzeugunfall verstümmelt, scheint sie nur noch aus Prothesen zu bestehen, was sie einem Kunstmenschen, einer gefühllosen Maschine ähnlich macht. Sie hält zu allem eine gewisse Distanz ein (Verbildlichung im 2. Akt - Balkonhandlung), wie zu einer käuflichen Ware. Sie selbst ist starr in ihrem Handeln, unabänderlich, außerhalb einer menschlichen Ordnung und böse (“Meine Liebe konnte nicht leben.

Aber auch nicht sterben. Sie ist etwas Böses geworden, wie ich selber, überwuchert von den goldenen Milliarden”). Sie steht gewissermaßen über den Dingen und ist durch ihr Wirken fähig, andere Menschen zu Fall oder ihrer Wünsche in Erfüllung zu bringen. Ihre Rachsucht hat zwei Ursachen: Zuviel erlittenes Leid und zuviel finanzielle Macht. Diese Kombination entmenschlicht sie: “Die Welt machte mich zu einer Hure. Nun mache ich sie zu einem Bordell”.

Dürrenmatt verwahrt sich im Nachwort dagegen, daß die groteske Figur der Claire Zachanassian “die Gerechtigkeit, den Marshallplan oder gar die Apokalypse darstelle, sie ist nur das, was sie ist, die reichste Frau der Welt, in der Lage [...] absolut grausam zu handeln”.   Das Gefolge der MilliardärinDie Milliardärin wird bei ihrem Besuch von den Dienern Roby und Toby, den Kastraten Koby und Loby, ihrem jeweiligen Ehemann (Moby, Hoby oder Zoby) und dem Butler Boby, der der Grund für die Marotte der Namen auf Y ist (“Den [Butler] hat man schließlich fürs Leben, da müssen sich eben dann eben die Gatten nach seinem Namen richten”) begleitet. Der Butler ist auch der einzige, der während des Stücks für eine kurze Zeit, nämlich für die Dauer der Anklageszene im 1.

Akt, Persönlichkeit erhält; doch auch er wurde vom Geld der Milliardärin geblendet (“Eine vielleicht etwas seltsame Karriere, doch die Bezahlung war derart phantastisch”). Von den Dienern erfährt man nur, daß Zachanassian sie für je eine Million aus der Todeszelle freigekauft hat, um die willenlos gewordenen Gangster zu ihren Sänftenträgern zu machen. Koby und Loby (eigentlich Jakob Hühnlein und Ludwig Sparr) wurden zu den ersten Opfern ihrer Rache. Obwohl sie nach ihrer falschen Zeugenaussage ausgewandert waren, fand sie Zachanassian und ließ sie durch ihre Gangster kastrieren und blenden. Durch das synchrone, aber wiederholte Sprechen ihrer Sätze macht Dürrenmatt auch diese Unglücklichen zu überaus skurrilen Figuren. Die Gatten VII und VIII, ein Tabakplatagenbesitzer und ein deutscher Filmschauspieler (“ein Jugendtraum” der Claire Zachanassian) spielen keine bedeutende Rolle.

Auch vom Gatten IX, einem Nobelpreisträger, ist nur ein Ausspruch bemerkenswert, dem aber wohnt dafür eine besondere Symbolik inne. Nach der Untersuchung einer Ruine nach seinen Ergebnissen gefragt, antwortet er nämlich: “Frühchristlich. Von den Hunnen zerstört.”   Alfred IllEr ist der Krämer der Stadt und anfangs ganz gleich im Wesen wie seine Güllener Mitbürger. Durch seine einstige Beziehung zu Klara Wächter traut man ihm am ehesten zu, der Heimatstadt die Millionen zu holen. Seiner Schuld ist er sich nicht mehr bewußt; er glaubt das Leben hätte sie von selbst getilgt.

Anfangs überschätzt er sich maßlos, nimmt geschmeichelt das Lob der Freunde auf, und glaubt durch Verfälschen der Vergangenheit und Mitleidheischen für seine Existenz von Zachanassian eine großzügige Spende für Güllen zu erhalten, die er dann als sein alleiniges Verdienst hinstellen könnte. Doch er wird nur all zu bald von der Vergangenheit, leibhaftig geworden durch die Figur des anklagenden Oberrichter Hofers alias Butler Boby, eingeholt. Das ist der Augenblick, von dem an, einer Gegenbewegung gleich, die Güllener in Unmoral versinken, während Ill zum “Gewinn seiner Seele” aufsteigt. Als er sich von wachsendem Mißtrauen beunruhigt an die Mächtigen des Ortes wendet, beginnt bereits seine Isolation, denn er wird vom jedem enttäuscht. Fast unmerklich schlägt die Jagd auf den entlaufenen Panther der Milliardärin in eine Hatz nach ihm um. Als Ill am Ende des 2.

Aktes nach seinem zum Scheitern verurteilten Fluchtversuch zusammenbricht, erfährt sein Schicksal eine Wendung. Tagelang von Angst gequält erkennt er seine Schuld - und ist bereit seinen Tod als Sühne zu akzeptieren.   Von da an läuft das Handeln der Güllener als auch jenes Ills unweigerlich auf diesen Endpunkt hin. Zwar ist das Ergebnis (Der Tod Ills) dasselbe, sind doch die Wege verschieden. Er lehnt den Selbstmord ab und erreicht durch die Gewißheit seines Todes Größe, denn gleichzeitig mit seiner physischen Vernichtung erreicht er eine moralische Persönlichkeit, die man dem Krämer nie zugetraut hätte. Sein Sterben ist “sinnvoll und sinnlos zugleich” meint Dürrenmatt, “sinnvoll im mythischen Reich, aber nicht in Güllen, nicht in der Gegenwart.

Zwar stirbt der Krämer als tapferer Mensch, dennoch zeigt sich aber auch hier das Mißverhältnis zwischen begangener Schuld und zu leistender Sühne, das charakteristisch für die früheren Werke Dürrenmatts ist; denn Ill hat durch sein elendes Leben, als seine im Stich gelassene Geliebte bereits Multimillionärin war, schon längst gebüßt. Ein Kritiker meinte dazu sinngemäß: “Die Verbindung zwischen dem sadistisch-rachsüchtigen Gott und der Gesellschaftskritik macht die Figur des Alfred Ill aus. Deshalb ist er die am schwersten zugängliche Gestalt.”  Der Bürgermeister Er repräsentiert die Stadt und verfügt über eine unbestreitbare Autorität. Er gibt die Anweisungen für das Begrüßungszeremoniell; für dessen Untergehen im Lärm des abfahrenden Zuges kann er nichts. Wenige Fakten aus der Biographie Klara Wächters genügen ihm, um eine schönfärberische Rede zu halten.

Daß er dabei die Tatsachen ins Gegenteil verkehrt und von der Milliardärin auch drauf hingewiesen wird stört den Selbstdarsteller herzlich wenig. Die Figur des Bürgermeisters ist ebensowenig böse, wie die der andern Güllener, doch auch sie ist schwach. An ihm vollzieht sich exemplarische eine Wandlung und Wendung. Als er am Ende des 1. Aktes pathetisch ausruft: “Lieber bleiben wir arm, denn blutbefleckt”, meint er dies genauso ehrlich, wie er mit dem Vorschlag zum Selbstmord an Ill herantritt. Bei der Inszenierung des Urteils über Ill wirkt er als Moderator für die Presse; er gipfelt in der verlogenen Diagnose des “Todes aus Freude”.

  Der Polizist Den ausführenden Arm der Gesetze repräsentiert in Güllen der Polizist, in dessen Auftreten sich sowohl Anmaßung und Ergebenheit widerspiegeln. Einerseits versichert er der Milliardärin treuherzig, daß er manches Mal ein, wenn es sein müsse, auch zwei Augen zudrücke, andererseits erwartet Wachmeister Hahncke, daß die Mitbürger seine, ihm von der Uniform verliehene Autorität, anerkennen. Seinen großen Auftritt hat der Wachmeister, als ihn der verzweifelte Ill aufsucht. Er tut aber die offensichtliche Anstiftung zum Mord als nebensächliche Schrulle ab, die jeder rationalen Begründung entbehrt; gleichzeitig zeigt sich aber auch bei ihm der neuerworbene Wohlstand in Form eines Goldzahnes und im Genuß Pilsener Bieres. Im Vergleich zum Bürgermeister steht er auf einer niedrigeren sozialen Stufe; das zeigt sich nicht zuletzt in seiner militärisch abgehackten Sprechweise und seinem Ausdruck (“Erheben Sie sich, Alfred Ill” ® “Steh auf, du Schwein.”).

  Der Arzt Güllens Arzt, Doktor Nüßlin, besitzt das einzige Auto der Stadt. Sein Gesicht weist Mensurnarben auf; er selbst lehnte aus Verbundenheit zu seinem Heimatort einen Lehrauftrag an der Universität zu Erlangen ab. Zusammen mit dem Lehrer unternimmt er einen erfolglosen Versuch, die Milliardärin zum Einlenken zu bringen. Danach wird auch er zum Mittäter und trägt mit der Diagnose einer falschen Todesursache sein Scherflein zum Güllener Mordkollektiv bei.   Der PfarrerFür den Geistlichen stehen offensichtliche nichtssagende religiöse Formeln im Vordergrund, nicht der Mensch zählt für ihn. Als der Bürgermeister von Zachanassian als einziger Hoffnung spricht, fügt er pflichtbewußt hinzu “außer Gott”.

Auch als Ill voller Entsetzen in seiner Sakristei Schutz sucht, meint er nur: “Positiv, nur positiv, was Sie durchmachen.”. Das Erklingen einer neuen Glocke macht klar, daß auch der Pfarrer seinen Teil vom in Aussicht stehenden Wohlstand in Anspruch genommen hat. Doch noch einmal flammt ein Funke echten Christentums auf (“Es tönt die Glocke des Verrats. Flieh, führe uns nicht in Versuchung, indem du bleibst”), ehe auch er sich den Mördern anschließt und dem Delinquenten kurz vor seiner Ermordung noch durch nichtssagende Phrasen Trost spenden will, den dieser freilich von ihm nicht mehr nötig hat.   Der LehrerDer Direktor des Güllener Gymnasiums übertrifft mit seiner Präsenz die der anderen Würdenträger.

Ähnlich wie der Arzt lehnte auch er eine bessere Stellung ab und nahm auch am Bestreben teil, die Meinung der Milliardärin zu ändern. Von ihm, einem Humanisten und Altsprachler, Verehrer Platons, stammen auch die Bezeichnungen der Medea und Moire Klotho für Zachanassian. Er widersteht der Versuchung des großen Geldes am längsten und versucht Ill zu helfen, was Kritiker zu der Feststellung brachte, er sei der einzig gute Mensch in diesem Stück. Alkoholisiert, um seine schlechtes Gewissen zu beruhigen, hat er seinen großen Auftritt in Ills Laden: Fest entschlossen der nahenden Presse die Wahrheit zu erzählen (“auch wenn die Armut ewig währen sollte.”), muß er von den Kunden und selbst Ills Familie zurückgehalten werden. Wieder nüchtern bekennt er seine Seelennot und weiß, daß auch er am unvermeidlichen Mord nicht unschuldig sein wird.

So ist es dann auch; vor den Kameras und Mikrophonen der Presse gibt er mit seiner blendenden Rhetorik dem Mord einen moralischen Untergrund, so hält er doch noch seine ihm zuvor verwehrte Rede - diesmal aber sarkastischerweise unter verkehrtem Vorzeichen.   Die gewöhnliche Bevölkerung GüllensDie im Personenzeichen aufscheinenden Bürger Eins bis Vier müssen als “dramaturgische Mehrzweckwaffe” herhalten. Zum einen verwendet sie Dürrenmatt, um Bäume, Rehe und ähnliches darzustellen (gemäß dem Brechtschen) epischen Theater, zum anderen individualisiert er sie in beschränktem Maße. Der erste verkörpert beispielsweise den Metzger Hofbauer, der Zweite zeitweilig den arbeitslosen Helmesberger; ebenso wie Ills Frau Mathilde, Sohn Karl, Tochter Ottilie, dem Maler, Fräulein Luise mit dem lockeren Lebenswandel und zwei Kundinnen des Illschen Krämerladens sind auch sie, wie bereits erwähnt, nicht böse, nur schwach. Wie alle nimmt die Gier von ihnen Besitz, ihr Wohlstand wächst und am Schluß stehen sie in Frack und Abendkleid mit in der Mördergasse und bewähren sich als brave Chorleute am Ende des Spiels.   Die Vertreter der PresseSie bezeichnet Dürrenmatt als die “Lästigen”; durch die Hochzeit der Milliardärin kommen sie scharenweise nach Güllen, auf der steten Suche nach neuen Stories.

Die in ihrer Doppelbödigkeit makabere Schlußversammlung im “Goldenen Apostel” wird nur für sie, die Vertreter des Fernsehens und Hörfunks, in dieser Medienwirksamkeit inszeniert. Als “größtes soziales Experiment der Epoche” sehen sie die Versammlung; die gesamte Verlogenheit dieser Szenerie wird auch dadurch zum Ausdruck gebracht, daß die Begründung des Urteils wiederholt werden muß (beim ersten Mal streikte die Beleuchtung)  Form der Erzählung & deren Aufbau  “Der Besuch der alten Dame” ist ein Drama, ein Theaterstück also; doch Friedrich Dürrenmatt unterscheidet sehr genau zwischen Theater und Literatur, welche “zwei gänzlich verschiedene Welten” sind; hier ist also immer von der vom Autor als dichtere Fassung gebilligten Version die Rede. In seinem dramatischen Werk setzt Dürrenmatt gekonnt die Stilmittel des epischen Theaters ein. Nicht wie Brecht, vom dem er sich 1959 entschieden distanzierte, setzt er das politische Thesenstück ein, um den Zuschauer aufzurütteln und zum Nachdenken zu zwingen, sondern bedient sich einer andern Sonderform dieser neuen Epik. In Literaturlexika meist dem Stil des neonaturalistisch-psychoanalytischen Dramas zugeteilt, erscheint es mir adäquater, das vorliegende Werk als satirisch-grotesk, einer unheimlichen Hyperbel nicht unähnlich, einzustufen.   Obwohl er sich der gleichen Formelemente wie Brecht bedient, sind ihre Positionen grundverschieden.

Beide glauben zwar, daß die Welt veränderungsbedürftig ist, Dürrenmatt jedoch bezweifelt stark, daß das in Anbetracht der Moral der heutigen Welt überhaupt möglich ist. Er ist nicht Brechts Ansicht daß politische Revolutionen die Welt verändern würden, sondern traut dies eher der Bevölkerungsexplosion, Industrialisierung und Verstädterung zu. Deshalb handeln seine Stücke meist von Individuen, deren Umfeld von Unbeherrschbarem beherrscht wird; daß dies Groteskes, manchmal sogar Paradoxes mit sich bringt liegt auf der Hand. Dadurch, wie auch durch die vielen Kontraste zu den traditionellen Genres, der Opposition zu Althergebrachtem und die Freude und Fähigkeit Normen korrigierende Gegenbilder entstehen zu lassen, machen den Charakter auch dieses Stücks aus. Dürrenmatt schreibt: “In dieser Wurstelei unseres Jahrhunderts, in diesem Kehraus der weißen Rasse, gibt es keine Verantwortlichen mehr. [.

..] Wir sind zu kollektiv schuldig, zu kollektiv gebettet in die Sünden unserer Väter und Vorväter. Wir sind nur noch Kindeskinder. Das ist unser Pech, nicht unsere Schuld. Schuld gibt es nur noch als persönliche Leistung.

Uns kommt nur noch die Komödie bei.” - eine “tragische Komödie” wohlgemerkt, wie sie “Der Besuch der alten Dame” eine ist.  Das Werk ist in drei Akte gegliedert und in äußerlicher Hinsicht befinden sich die Bauelemente in der klassischen Abfolge des aristotelischen Dramas. Im ersten Akt werden in der Exposition die Personen und der Ort der Handlung vorgestellt; am Schluß steht das erregenden Moment, das Milliardenangebot, das schon auf einen künftigen Konflikt hindeutet. Im zweiten Akt spitzt sich der Konflikt zu, die Güllener stürzen sich in Schulden, während Ill bereits Schlimmes ahnt. Im dritten Akt erfolgt die Peripetie.

Nach dem mißlungenen Geschäft zwischen dem Lehrer und Zachanassian gibt es für Ill keine Rettung mehr. Nachdem die grundsätzliche Entscheidung über die Lösung des Konflikts (Ills Tod) gefallen ist, wird die Handlung mit dem Gespräch zwischen Ill und Klara im Konradsweilerwald kurz verzögert, ehe sie auf die Katastrophe zusteuert. Der Höhepunkt der Anteilnahme des Publikums, der mediengerecht inszenierte Mord soll zur Katharsis führen, die allerdings - hier weicht Dürrenmatt von Aristoteles ab - ausbleibt. Zu dieser beinahe klassischen Form fügt Dürrenmatt die Elemente des epischen Theaters: Vier Güllener Bürger spielen Bäume und Rehe, die Umbauten erfolgen grundsätzlich auf offener Bühne, sowie verfremdete Sprachemodelle, wie zum Beispiel beim scheinheiligen Schlußchor.  Eine dramaturgische Sonderstellung in diesem Drama nimmt dabei der zweite Akt ein. Während sich die Haupthandlung in Ills Laden abspielt, führt Dürrenmatt ein zweite simultane Handlungsebene ein.

Die Milliardärin Zachanassian, die in diesem Akt keine besondere Rolle spielt, bleibt dadurch trotzdem immer präsent, daß sie auf einem Balkon sitzend, zwar nicht direkt in die Handlung eingreift, so aber doch ihre Allgegenwart demonstriert. Gelegentlich wird die Haupthandlung von der Balkonhandlung kurz unterbrochen, dann aber ergeben sich Zusammenhänge, denen man eine gewisse Ironie nicht absprechen kann: Als Ill Gesellschaft braucht, benötigt Zachanassian gerade ihr linkes Bein, als der Wachtmeister telefonieren will, läßt die Milliardärin telefonieren  Trotz der komplizierten Dramaturgie des Stückes, geben die drei wesentliche Eckpfeiler Antike, Christentum und Politik diesem Struktur. Für die Antike steht die Gestalt der rachsüchtigen Medea in Form von Claire Zachanassian, Alfred Ill verkörpert eine weltliche Passionsfigur und das Mordkollektiv steht für, die hier wenig schmeichelhaft beschriebene Politik. Jeder dieser Handlungsträger steht im Zentrum je eines Aktes. Dürrenmatt, zurecht als Meister in der Handhabung des Aktschlusses gewürdigt, beschließt sie, indem er ihm als letzem einen Ausspruch in den Mund legt. Im ersten Akt weiß Zachanassian um die Verlockung ihres allzu verführerischen Angebots, sie kann die Dinge sich entwickeln lassen: “Ich warte ab”.

Der zweite Akt, im Zeichen Ills, endet mit dessen schauerlicher Erkenntnis “Ich bin verloren”. Den letzten Akt, die Güllener haben nun endlichen erhalten, was sie wollten, beschließen sie scheinheilig im Chorgebet “Damit wir das Glückliche glücklich genießen”. Charakteristisch für die Entwicklung der Handlung ist auch die Art und Weise mit der Ill von seinen Mitbürgern gesehen wird. Sie läuft synchron zum Verfall der Moral im allgemeinen; aber entgegengesetzt zur Entwicklung Ills im speziellen. Anfangs als künftiger Bürgermeister im Gespräch (1. Akt: “Mein lieber Ill, Sie sind seit langen die beliebteste Persönlichkeit in Güllen”) relativiert sich die öffentliche Meinung, bis bereits der erste Tadel offenkundig wird (2.

Akt: Für den Posten eines Bürgermeisters sind gewisse Forderungen sittlicher Natur zu stellen, die Sie nicht mehr erfüllen, das müssen Sie einsehen”). Im letzen Akt schließlich schlägt ihm offene Feindseligkeit entgegen (“Gott wird ihn strafen), um schließlich wenige Sekunden vor seiner Ermordung (die Umkehrung der moralischen Ausgangssituation) einen Höhepunkt zu finden (“Steh auf, du Schwein!”).   Wirkung & Wertung  Die packende Wirkung des “Besuchs der alten Dame” kommt vor allem durch die langsame Veränderung. Wie eine Seuche greift die Gier nach Geld und die Bereitschaft zu Mord um sich, die jeden zu erfassen scheint, vor der keiner, auch nicht der Lehrer, der ihr am längsten widersteht, gefeit ist. Die elfenbeinenen Prothesen der Milliardärin, die bizarren Wiederholungen der Sätze der Eunuchen und die scheinbar allgegenwärtige makabere Doppelbödigkeit in den Gesprächen der Güllener machen das Groteske und Unheimliche im Stück aus. Die Aussagen über den “Tod aus Freude” und das “Geld, das allein nicht glücklich macht” werden von nicht dazu berechtigten Personen, in unpassenden Momenten gemacht, trotzdem stößt sich keiner daran; und auch der wahnwitzige Schlußchor scheint nur das feierliche Happy-End sein.

Das macht die Beklemmung, die trotz allen komödiantischen und parodistischen Aspekten bleibt, aus. Die Handlung selbst ist unrealistisch, Ill hätte in einer Nacht-und-Nebel-Aktion die Stadt verlassen können und auch seine Familie hätte wohl kaum ihren Ernährer so widerspruchslos in den Tod geschickt, aber urteilt in ihrer Gesamtheit über unsere Realität. “Ich beschriebe Menschen, nicht Marionetten”, meinte Dürrenmatt. Er moralisiert nicht, sondern stellt nur fest; dadurch erscheint bedenklicherweise das Unvorstellbare gar nicht mehr so abwegig, wie wir das gerne hätten.   Verständnis  Jeder, der der deutschen Sprache mächtig ist, ist imstande sich die Theaterfassung dieses Stücks anzusehen. Kann er sogar lesen, steht es ihm offen die Textfassung zu studieren.

Trotz dieser trivialen Voraussetzung ist das Werk nicht verstanden worden; man kann das täglich immer wieder aufs neue leichthin durch Anhören der Weltnachrichten verifizieren.   Verwendete Literatur   [1] Der Besuch der alten Dame, von Friedrich Dürrenmatt, Diogenes Verlag [2] Neues Handbuch der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, dt Verlag [3] Königs Erläuterungen und Materialien zu Friedrich Dürrenmatt, C. Bange Verlag [4] Einführung in die Literatur des deutschen Sprachraums, Braumüller Verlagsbuchhandlung[5] Universallexikon 2000, Wissen Verlag Stuttgart

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