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LK Deutsch Jgst 12.2 Materialiensammlung: Reisen im Spiegel der Literatur                                               Materialiensammlung: Reisen im Spiegel der Literatur Seite 14   Johann Wolfgang von Goethe Italienische Reise   Vorbemerkung:   An der Biographie Goethes läßt es sich besonders gut ablesen, welche Bedeutung die Antike für die Klassik hatte. Goethe hatte schon lange den Wunsch gehegt, Italien kennenzulernen, als er im September 1786, ohne seine Umgebung zu informieren, zu seiner Reise nach Italien. Neben der Italiensehnsucht war wohl auch die Unzufriedenheit mit seiner bisherigen Tätigkeit in der Weimarer Staatsverwaltung ein Motiv für seinen Entschluß. Die Reise fühlte ihn über die Alpen nach Trient, Vicenza, Venedig, Padua und über Mittelitalien (Perugia, Assisi) nach Rom, wo er am 29. Oktober ankam.

Am 22. Februar 1787 reiste er nach Neapel, am 29. März nach Sizilien weiter; am 7. Juni 1787 kehrte er nach Rom zurück. Auf seiner Rückreise nach Deutschland (April bis Juni 1788) lernte er vor allem noch Florenz und Mailand kennen. Erst 1813/14 begann Goethe, die Erfahrungen der ,,italienischen Reise" im Überblick darzustellen; er stützte sich dabei u.

a. auf Notizbücher, Briefe und ein Reisejournal aus der Zeit seines Aufenthaltes in Italien. ,,Es handelt sich also bei der Veröffentlichung der , Italienischen Reise’ weniger um eine Neuschöpfung als um eine Redaktion" (H. v. Einem). Gerade aber der zeitliche Abstand, der zwischen der kunstvollen Komposition dieses Werkes und der Reise selbst liegt, läßt erkennen, welche Bedeutung die Italienreise für Goethe über das unmittelbare Erlebnis hinaus hatte.

  Reiseerfahrungen   Johann Wolfgang Goethe (1749-1832): Italienische Reise [Auszug)   [...] Rom, den 1. November 1786   Endlich kann ich den Mund auftun und meine Freunde mit Frohsinn begrüßen. Verziehen sei mir das Geheimnis und die gleichsam unterirdische Reise hierher.

Kaum wagte ich mir selbst zu sagen, wohin ich ging, selbst unterwegs fürchtete ich noch, und nur unter der Porta del Popele war ich mir gewiß, Rom zu haben. Und laßt mich nun auch sagen, daß ich tausendmal, ja beständig eurer gedenke in der Nähe der Gegenstände, die ich allein zu sehen niemals glaubte. Nur da ich jedermann mit Leib und Seele in Norden gefesselt, alle Anmutung nach diesen Gegenden verschwunden sah, könnte ich mich entschließen, einen langen, einsamen Weg zu machen und den Mittelpunkt zu suchen, nach dem mich ein unwiderstehliches Bedürfnis hinzog. Ja, die letzten Jahre wurde es eine Art von Krankheit, von der mich nur der Anblick und die Gegenwart heilen konnte. Jetzt darf ich es gestehen; zuletzt dürft' ich kein lateinisch Buch mehr ansehen, keine Zeichnung einer italienischen Gegend. Die Begierde, dieses Land zu sehen, war überreif: da sie befriedigt ist, werden mir Freunde und Vaterland erst wieder recht aus dem Grunde lieb und die Rückkehr wünschenswert, ja um desto wünschenswerter, da ich mit Sicherheit empfinde, daß ich so viele Schätze nicht zu eignem Besitz und Privatgebrauch mitbringe, sondern daß sie mir und andern durchs ganze Leben zur Leitung und Fördernis dienen sollen.

[...] je 1813/14)   Johann Wolfgang Goethe: Italienische Reise [Auszug]   [...

] In Assisi, Oktober 1786 Ich verließ Perugia an einem herrlichen Morgen und fühlte die Seligkeit, wieder allein zu sein. Die Lage der Stadt ist schön, der Anblick des Sees höchst erfreulich. Ich habe mir die Bilder wohl eingedrückt. Der Weg ging erst hinab, dann in einem frohen, an beiden Seiten in der Ferne von Hügeln eingefaßten Tale hin, endlich sah ich Assisi liegen. Aus Palladio und Volkmann wußte ich, daß ein köstlicher Tempel der Minerva, zu Zeiten Augusts gebaut, noch vollkommen erhalten dastehe. Ich verließ bei Madonna del Angelo meinen Vetturin1, der seinen Weg nach Foligno verfolgte, und stieg unter einem starken Wind nach Assisi hinauf, denn ich sehnte mich, durch die für mich so einsame 'Welt eine Fußwanderung anzustellen.

Die ungeheueren Substruktionen der babylonisch übereinander getürmten Kirchen, wo der heilige Franziskus ruht, ließ ich links mit Abneigung, denn ich dachte mir, daß darin die Köpfe so wie mein Hauptmannskopf 2 gestempelt würden. Dann fragte ich Materialiensammlung: Reisen im Spiegel der Literatur Seite 15   einen hübschen Jungen nach der Maria della Minerva; er begleitete mich die Stadt hinauf, die an einen Berg gebaut ist. Endlich gelangten wir in die eigentliche alte Stadt, und siehe, das löblichste Werk stand vor meinen Augen, das erste voll ständige Denkmal der alten Zeit, das ich erblickte. Ein bescheidener Tempel, wie er sich für eine so kleine Stadt schickte, und doch so vollkommen, so schön gedacht, daß er überall glänzen würde. Nun vorerst von seiner Stellung! Seitdem ich in Vitmv 3 und Palladio4 gelesen, wie man Städte bauen, Tempel und öffentliche Gebäude stellen i müsse, habe ich einen grollen Respekt vor solchen Dingen. Auch hierin waren die Alten so groß im Natürlichen.


Der Tempel steht auf der schönen mittlern Höhe des Berges, wo eben zwei Hügel zusammentreffen, auf dem Platz, der noch jetzt ,,der Platz" heißt. Dieser steigt selbst ein wenig an, und es kommen auf demselben vier Straßen zusammen, die ein sehr gedrücktes Andreaskreuz machen, zwei von unten herauf, zwei von oben herunter. Wahrscheinlich standen zur alten Zeit die Häuser noch nicht, die jetzt, dem Tempel gegenüber gebaut, die Aussicht versperren. Denkt man sie weg, so blickte man gegen Mittag in die reichste Gegend, und zugleich würde Minervens Heiligtum von allen Seiten her gesehen. Die Anlage der Straßen mag alt sein; denn sie folgen aus der Gestalt und dem Abhange des Berges. Der Tempel steht nicht in der Mitte des Platzes, aber so J gerichtet, daß er dem von Rom Heraufkommenden verkürzt gar schön sichtbar wird.

Nicht allein das Gebäude sollte man zeichnen, sondern auch die glückliche Stellung. An der Fassade konnte ich mich nicht satt sehen, wie genialisch konsequent auch hier der Künstler gehandelt. Die Ordnung ist korinthisch, die Säulenweiten etwas über zwei Madel. Die Säulenfülle und die Platten darunter scheinen auf Piedestalen zu stehen, aber es scheint auch nur; denn der Sockel ist fünfmal durchschnitten, und jedesmal gehen fünf Stufen zwischen den Säulen hinauf, da man denn auf die Fläche gelangt, worauf eigentlich die Säulen stehen, und von welcher man auch in den Tempel hineingeht. Das Wagstück, den Sockel zu durchschneiden, war hier am rechten Platte, denn da der Tempel am Berge liegt, so hätte die Treppe, die zu ihm hinaufführte, vielzu weit vorgelegt werden müssen und würde den Platz verengt haben. Wieviel Stufen noch unterhalb gelegen, läßt sich nicht bestimmen; sie sind außer wenigen verschüttet und zu gepflastert.

Ungern riß ich mich von dem Anblick los und nahm mir vor, alle Architekten auf dieses Gebäude aufmerksam zu machen, damit uns ein genauer Riß davon zukäme [...](e 1813/14)Johann Wolfgang Goethe: Italienische Reise (Auszug)   Neapel, Dienstag, den 20. Mai 1787.   Die Kunde einer soeben ausbrechenden Lava, die, für Neapel unsichthar, nach Ottajano hinunterfließt, reizte mich, zum dritten Male den Vesuv zu besuchen.

Kaum war ich am Fuße desselben aus meinem zweirädrigen, einpferdigen Fuhrwerk gesprungen, so zeigten sich schon jene beiden Führer, die uns früher hinaufbegleitet hatten. Ich wollte Leinen missen und nahm den einen aus Gewohnheit und Dankbarkeit, den andern aus Vertrauen, beide der mehreren Bequemlichkeit wegen mit mir. Auf die Höhe gelangt, blieb der eine bei den Mänteln und Viktualien, der jüngere folgte mir, und wir gingen mutig auf einen ungeheuren Dampf los, der unterhalb des Kegelschlundes aus dem Berge brach; sodann schritten wir an der selben Seite her gelind hinabwärts, bis wir endlich unter klarem Himmel aus dem wilden Dampfgewolke die Lava hervorquellen sahen. Man habe auch tausendmal von einem Gegenstande gehört, das Eigentümliche desselben spricht nur zu uns aus dem unmittelbaren Anschauen. Die Lava war schmal, vielleicht nicht breiter als zehn Fuß, allein die Art, wie sie eine sanfte, ziemlich ebene Fläche hinabfloß, war auffallend genug; denn indem sie während des Fortfließens; an den Seiten und an der Oberfläche verkühlt, so bildet sich ein Kanal, der sich immer erhöht, weil das geschmolzene Material auch unterhalb des Feuerstroms erstarrt, welcher die auf der Oberfläche schwimmenden Schlacken rechts und links gleichförmig hinunterwirft, wodurch sich denn nach und nach ein Damm erhöht, auf welchem der Glutstrom ruhig fortfließt wie ein Mühlbach. Wir gingen neben dem ansehnlich erhöhten Damme her, die Schlacken rollten regelmäßig an den Seiten herunter bis zu unsren Füßen.

Durch einige Lücken des Kanals konnten wir den Glutstrom von unten sehen und, wie er weiter hinabfloß, ihn von oben beobachten. Durch die hellste Sonne erschien die Glut verdüstert, nur ein mäßiger Rauch stieg in die reine Luft. Ich hatte Verlangen, mich dem Punkte zu nähern, wo sie aus dem Berge bricht; dort sollte sie, wie mein Führer versicherte, sogleich Gewölb und Dach über sich her bilden, auf welchem er öfters gestanden habe. Auch dieses zu sehen und zu erfahren, stiegen wir den Berg wieder hinauf, um jenem Punkte von hintenher beizukommen.     Materialiensammlung: Reisen im Spiegel der Literatur Seite 16   Glücklicherweise fanden wir die Stelle durch einen lebhaften Windzug enthüllt, freilich nicht ganz, denn ringsum qualmte der Dampf aus tausend Ritzen, und nun standen wir wirklich auf der breiartig gewundenen, erstarrten Decke, die sich aber so weit vorwärts erstreckte, daß wir die Lava nicht konnten herausquellen sehen. Wir versuchten noch ein paar Dutzend Schritte, aber der Boden ward immer glühender; sonneverfinsternd und erstickend wirbelte ein unüberwindlicher Qualm.

Der vorausgegangene Führer kehrte bald um, ergriff mich, und wir entwanden uns diesem Höllenstrudel. Nachdem wir die Augen an der Aussicht, Gaumen und Brust aber am Weine gelabt, gingen wir umher, noch andere Zufälligkeiten dieses mitten im Paradies aufgetürmten Höllengipfels zu beobachten. Einige Schlünde, die als vulkanische Essen keinen Rauch, aber eine glühende Luft fortwährend gewaltsam ausstoßen, betrachtete ich weiter mit Aufmerksamkeit. Ich sah sie durchaus mit einem tropfsteinartigen Material tapeziert, welches zitzen- und zapfenartig die Schlünde bis oben bekleidete. Bei der Ungleichheit der Essen fanden sich mehrere dieser herabhängenden Dunstprodukte ziemlich ich zur Hand, so daß wir sie mit unsern Stäben und einigen hakenartigen Vorrichtungen gar wohl gewinnen konnten. Bei dem Lavahändler hatte ich schon dergleichen Exemplare unter der Rubrik der wirklichen Laven gefunden, und ich freute mich, entdeckt zu haben, daß es vulkanischer Ruß sei, abgesetzt aus den heißen Schwaden, die darin enthaltenen verflüchtigten mineralischen Teile offenbarend.

[...] (e 1813/14)Johann Wolfgang Goethe: Italienische Reise (Auszug)   [...

] Den 10. November 1786.   Ich lebe nun hier mit einer Klarheit und Ruhe, von der ich lange Lein Gefühl hatte. Meine Übung, alle Dinge, wie sie sind, zu sehen und abzulesen, meine Treue, das Augenlicht sein zu lassen, meine völlige Entäußerung von aller Prätention kommen mir einmal wieder recht zustatten und machen mich im stillen höchst glücklich. Alle Tage ein neuer merkwürdiger Gegenstand, täglich frische, große, seltsame Bilder und ein Ganzes, das man sich lange denkt und träumt, nie mit der Einbildungskraft erreicht. Heute war ich bei der Pyramide des Cestius und abends auf dem Palatin, oben auf den Ruinen der Kaiserpaläste, die wie Felsenwände dastehn.

Hiervon läßt sich nun freilich nichts überliefern! Wahrlich, es gibt hier nichts Kleines, wenn auch wohl hier und da etwa; Scheltenswertes und Abgeschmacktes; doch auch ein solches hat teil an der allgemeinen Großheit genommen. Kehr' ich nun in mich selbst zurück, wie man doch so gern tut bei jeder Gelegenheit, so entdecke ich ein Gefühl, das mich unendlich freut, ja, das ich sogar auszusprechen 15 wage. Wer sich mit Ernst hier umsieht und Augen hat zu sehen, muß solid werden, er muß einen Begriff von Solidität fassen, der ihm nie so lebendig ward. Der Geist wird zur Tüchtigkeit gestempelt, gelangt zu einem Ernst ohne Trockenheit, zu einem gesetzten Wesen mit Freude. Mir wenigstens ist es, als wenn ich die Dinge dieser Welt nie so richtig geschätzt hätte als hier. Ich freue mich der gesegneten Folgen auf mein ganzes Leben.

Und so laßt mich aufraffen, wie es kommen will, die Ordnung wird sich geben. Ich bin nicht hier, um nach meiner Art zu genießen; befleißigen will ich mich der großen Gegenstände, lernen und mich ausbilden, ehe ich vierzig Jahre alt werde. [...](e 1813/14)         1 Vertunin: Wagenfahrer, Kutscher 2 Anspielung auf eine Bekanntschaft, die Goethe kurz vor seiner Ankunft in Assisi gemacht hat 3 Vitruv, eigentl.

Vitruvius Polli: De architectura (um 25 v. Chr.) 4 Andrea Palladio (1508-1580): ital. Baumeister 5 Prätention: Anspruch, Anmaßung               Materialiensammlung: Reisen im Spiegel der Literatur Seite 25   Johann Gottfried Seume Spaziergang nach Syrakus   ROM   Nun bin ich wieder hier in dem Sitz der heiligen Kirche, aber nicht in ihrem Schoße. Wie Schade das ist; ich habe so viel Ansatz und Neigung zur Katholizität, würde mich so gern auch an ein Oberhaupt in geistlichen Dingen halten, wenn nur die Leute etwas leidlicher, ordentlich und venünftig wären. Meiner ist der Katholizismus der Venunft, der allgemeinen Gerechtigkeit, der Freiheit und Humanität; und der ihrige ist die Nebelkappe der Vorurteile, der Privilegien, des eisernen Gewissenszwanges.

Ich hoffte, wir würden einst zusammenkommen; aber seit Bonapartes Bekehrung habe ich für mich die Hoffnung sinken lassen. Dank sei es der Frömmelei und dem Mamelukengeist des großen französischen Bannerherrn, die Römer haben nun wieder Überfluß an Kirchen, Mönchen, Banditen. Er hat uns zum wenigsten wieder einige hundert Jahre zurückgeworfen. Homo sum - sagt Terenz; sonst könntest Du leicht fragen, was mich das Zeug anginge. Aber ich will den Faden meiner Wanderschaft wieder aufnehmen. Den letzten Tag in Neapel besuchte ich noch den Agnano und die Hundsgrotte.

Schon Füger in Wien hatte mich gewarnt, ich möchte mich dort in Acht nehmen: allein im Mai, dachte ich, hat so ein Spaziergang wohl nichts zu sagen. Der Morgen war drückend schwül, und über der Solfatara und dem Kamaldulenser Berge hingen Gewitterwolken. Alles ist bekannt genug; ich wollte nur aus Neugier das Lokale sehen und weiter keinen Hund auf die Folter setzen. Nachdem ich aber ungefähr ein Stündchen am See herumgewandelt war und mir die Lage besehen hatte, ward mir der Kopf auf einmal sonderbar dumpf und schwer, und ich eilte, daß ich durch die Bergschlucht wieder heraus kam. Es war ein eigenes furchtbares Gefühl, als ob sich alle flüssigen Teile mischten und die festen sich auflösen wollten. So wie ich mich von der Gegend entfernte, kehrte mein heller Sinn zurück, und es blieb mir nur eine gewisse Schwere und Müdigkeit von der Wärme.

Eine eigene Erscheinung in meinem Physischen war es mir indessen, als ich gleich nachher in einem Wirtshause nicht weit von Posilippo aß, daß ich mir an einer eben nicht harten Kastanie auf einmal drei Zähne bis fast zum Ausfallen locker biß. Der Agnano und die Hundsgrotte kosten dich ein wenig zu viel, dachte ich, und tat schon Verzicht auf meine drei Vorderzähne. Aber Veränderung der Luft und etwas Schonung haben sie bis auf einen wieder ziemlich festgemacht; und dieser wird sich hoffentlich auch wieder erholen. Will er nicht, nun so will ich ihn der Hundsgrotte opfern. Von Rom nach Neapel war ich zu Fuße gegangen: von Neapel nach Rom fuhr ich der Schnelligkeit wegen mit dem neapolitanischen Kourier. Noch die Nacht fuhrn wir über Aversa nach Kapua, und den Tag von Kapua nach Terracina.

Anstatt einer attellanischen Fabel erzählte man uns in Aversa als wahre Geschichte, daß eben die Räuber vom Berge heruntergekommen wären und einen armen Teufel um sechszig Piaster erschlagen hätten. In Fondi stahl ich mich mit etwas bösem Gewissen voraus, weil ich dem Herrn Zolleinnehmer nicht gern in die Hände fallen wollte. Dieser Herr hatte nämlich auf meiner Hinreise einen sehr großen Gefallen an meinem Seehundstornister bekommen, wollte ihn durchaus haben, und bot mir bis zu drei goldnen Unzen darauf. Ich wollte ihn nicht missen, hatte seiner Zudringlichkeit aber doch einige Hoffnung gemacht, wenn ich zurückkäme: und jetzt wollte ich ihn ebensowenig missen. Wer bringt nicht gern Haut und Fell und alles wieder heil mit sich zurück? Durch die Pontinen ging es diesmal die Nacht, welches ich sehr wohl zufrieden war. Der Morgen graute, als wir in Veletri eintrafen.

Nun kam aber eine echt italienische Stelle, über der ich leicht hätte den Hals brechen können. Ich habe die Gewohnheit, beständig vorauszulaufen, wo ich kann. Zwischen Gensano und Aricia ist eine schöne Waldgegend, durch welche die Straße geht. Oben am Berge bat der Postilion, wir möchten aussteigen, weil er vermutlich den Hemmschuh einlegen wollte, und am Wagen etwas zu hämmern hatte. Der Offizier blieb bei seinen Depeschen am Wagen, und ich schlenderte leicht und unbefangen den Berg hinunter in den Wald hinein, und dachte, wie ich Freund Reinhart in Aricia überraschen würde, der jetzt daselbst sein wollte. Ungefähr sieben Minuten mochte ich so formgewandelt sein, da stürzten links aus dem Gebüsche vier Kerle auf mich zu.

Ihre Botschaft erklärte sich sogleich. Einer faßte mich bei der Krause, und setzte mir den Dolch an die Kehle; der andere am Arm, und setzte mir den Dolch auf die Brust; die beiden übrigen blieben dispositionsmäßig in einer kleinen Entfernung mit aufgezogenen Karabinern. In der Bestürzung sagte ich halb unwillkürlich auf Deutsch zu ihnen: Ei so nehmt denn ins Teufels Namen alles, was ich habe! Da machte einer eine doppelt gräßliche Pantomime mit Gesicht und Dolch, um mir zu verstehen zu geben, man würde stoßen und schießen, sobald ich noch eine Silbe spräche. Ich schwieg also. In Eile nahmen sie mir nun die Börse und etwas kleines Geld aus den Westentaschen, welches beides zusammen sich vielleicht auf sieben Piaster belief. Nun zogen sie mich mit der vehementesten Gewalt nach dem Gebüsche, und die Karabiner suchten mir durch richtige Schwenkung Willigkeit einzuflößen.

  Materialiensammlung: Reisen im Spiegel der Literatur Seite 26   Ich machte mich bloß so schwer als möglich, da weiter tätigen Widerstand zu tun der gewisse Tod gewesen wäre: man zerriß mir in der Anstrengung Weste und Hemd. Vermutlich wollte man mich dort im Busche gemächlich durchsuchen und ausziehen, und dann mit mir tun, was man für gut linden würde. Sind die Herren sicher, so lassen sie das Opfer laufen; sind sie das nicht, so geben sie einen Schuß oder Stich, und die Toten sprechen nicht. In diesem kritischen Momente, denn das Ganze dauerte vielleicht kaum eine Minute, hörte man den Wagen von oben herabrollen und auch Stimmen von unten: sie ließen mich also los, und nahmen die Flucht in den Wald. Ich ging etwas verblüfft meinen Weg fort, ohne jemand zu erwarten. Die Uhr saß, wie in Sizilien, tief( und das Taschenbuch stak unter dem Arme in einem Rocksacke: beides wurde also in der Geschwindigkeit nicht gefunden.

Die Kerle sahen gräßlich aus, wie ihr Handwerk; keiner war, nach meiner Taxe, unter zwanzig, und keiner über dreißig. Sie hatten sich gemalt, und trugen falsche Bärte; ein Beweis, daß sie aus der Gegend waren, und Entdeckung fürchteten. Reinhart traf ich in Aricia nicht; er war noch in Rom. So hätte ich wohl noch leicht in der schönen klassischen Gegend bleiben können. Dort spielt ein Teil der Aeneide, und nach aller Topographie bezahlten daselbst Nisus und Euryalus ihre jugendliche Unbesonnenheit: nicht eben, daß sie gingen, sondern daß sie unterwegs so alberne Streiche machten, die kein preußischer Rekrut machen würde. Wer wird einen schön polierten, glänzenden Helm bei Mondschein aufsetzen, um versteckt zu bleiben? Herr Virgil hat sie, vermutlich bloß der schönen Episode wegen, so ganz unüberlegt handeln lassen.

Hier in Rom brachte man mir die tröstliche Nachricht, daß zwei von den Schurken, die mich in dem Walde geplündert hätten, erwischt wären, und daß ich vielleicht noch das Vergnügen haben würde, sie hängen zu sehen. Dawider habe ich weiter nichts, als daß es bei der jetzigen ungeheuern Unordnung der Dinge sehr wenig helfen wird. Ich habe hier etwas von einem Manuskript gesehen, das in kurzem in Deutschland, wenn ich nicht irre, bei Perthes, gedruckt werden soll, und das ein Gemälde vom jetzigen Rom enthält. Du wirst Dich wundem, wenn ich Dir sage, daß fast alles darin noch sehr sanft gezeichnet ist. Der Mann kann auf alle Fälle kompetenter Beurteiler sein; denn er ist lange hier, ist ein freier, unbefangener, kenntnisvoller Mann, bei dem Herz und Kopf gehörig im Gleichgewicht stehen. Die Hierarchie wird wieder in ihrer größten Ausdehnung eingerührt; und was das Volk eben jetzt darunter leiden müsse, kannst Du berechnen.

Die Klöster nehmen alle ihre Güter mit Strenge wieder in Besitz, die eingezogenen Kirchen werden wieder geheiligt, und alle Prälaten behaupten fürs allererste wieder ihren alten Glanz. Da mästen sich wieder die Mönche, und wer bekümmert sich darum, daß das Volk hungert? Die Straßen sind nicht allein mit Bettlern bedeckt, sondern diese Bettler sterben wirklich daselbst vor Hunger und Elend. Ich weiß, daß bei meinem Hiersein an einem Tage fünf bis sechs Personen vor Hunger gestorben sind. Ich selbst habe Einige niederfallen und sterben sehen. Rührt dieses das geistliche Mastheer? Der Ausdruck ist empörend, aber nicht mehr als die Wahrheit. Jedes Wort ist an seiner Stelle gut, denke und sage ich mit dem Alten.

Als die Leiche Pius des Sechsten prächtig eingebracht wurde, damit die Exequien noch prächtiger gehalten werden könnten, erhob sich selbst aus dem gläubigen Gedränge ein Fünkchen Vernunft in dem dumpfen Gemurmel, daß man so viel Lärm und Kosten mit einem Toten mache, und die Lebendigen im Elende verhungern lasse. Rom ist oft die Kloake der Menschheit gewesen, aber vielleicht nie mehr als jetzt. Es ist keine Ordnung, keine Justiz, keine Polizei; auf dem Lande noch weniger als in der Stadt: und wenn die Menschheit nicht noch tiefer gesunken ist, als sie wirklich liegt, so kommt es bloß daher, weil man das Göttliche in der Natur durch die größte Unvernunft nicht ganz ausrotten kann. Du kannst denken, mit welcher Stimmung ein vernünftiger Philanthrop sich hier umsieht. Ich hatte mich mit einer bittern Philippika gerüstet, als ich wieder zu Borgia gehen wollte. Nil valent apud Vos leges, nil justitia, nil boni moros; saginantur sacerdotes, perit plebs, caecutit populus; vilipenditur quodcunque est homini sanctum, honestas, modestia, omnis virtus.

Infimus et improbissimus quisque cum arrris per oppida et agros praedabundus incedit, furatur, rapit, trucidat, jugulat, incendia miscet. Haec est illa religio scilicet, auctoris ignominia, rationis opprobrium, qua Vos homines liberos et viros fortes adservitia et Iatranes detrudere conamini. * So gor es, und ich versichere Dich, Freund, es ist keine Silbe Redekunst dabei. Aber gesetzt auch, ein Kardinal hätte das so hingenommen, warum sollte ich dem alten, guten, ehrlichen Manne Herzklopfen machen? Es hilft nichts; das liegt schon im System. Man wird schon Palliativen finden; aber an Heilung ist nicht zu denken. Die Herren sind immer klug wie die Schlangen; weiter gehen sie im Evangelium nicht.

Die neuesten Beweise davon kannst Du in Florenz und Paris sehen. Ich ging gar nicht zu Borgia, weil ich meiner eigenen Klugheit nicht traute. Überdies hielt mich vielleicht noch eine andere Kleinigkeit zurück. Die römischen Vornehmen haben einen ganzen Haufen Bedienten im Hause und geben nur schlechten Sold. Jeder Fremde, der nur die geringste Höflichkeit vom Herrn empfängt, wird dafür von der Valetaille in Anspruch genommen. Das hatte ich erfahren.

    Materialiensammlung: Reisen im Spiegel der Literatur Seite 27   Nun kann man einem ganzen Hausetat doch schicklich nicht weniger als einen Piaster geben; und so viel wollte ich für den Papst und sein ganzes Kollegium nicht mehr in Auslage sein. Ich will das Betragen der Franzosen hier und in ganz Unteritalien nicht rechtfertigen: aber dadurch, daß sie die Sache wieder aufgegeben haben, ist die Menschheit in unsägliches Elend zurückgefallen. Ich weiß, was darüber gesagt werden kann, und von wie vielen Seiten alles betrachtet werden muß: aber wenn man schlecht angefangen hat, so hat man noch schlechter geendiget; das Zeugnis wird mit Zähneknirschen jeder rechtliche Römer und Neapolitaner geben. Geschichte kann ich hier nicht schreiben. Durch ihren unbedingten, nicht notwendigen Abzug ist die schrecklichste Anarchie entstanden. Die Heerstraßen sind voll Räuber; die niederträchtigsten Bösewichter ziehen bewaffnet im Lande herum.

Bloß während meiner kurzen Anwesenheit in Rom sind drei Kouriere geplündert und fünf Dragoner von der Begleitung erschossen worden. Niemand wagt es mehr, etwas mit der Post zu geben. Der französische General ließ wegen vieler Ungebühr ein altes Gesetz schärfen, das den Dolchträgern den Tod bestimmt, und ließ eine Anzahl Verbrecher vor dem Volkstore wirklich niederschießen. Die Härte war Wohltat; nun war Sicherheit. Jetzt trägt jedermann wieder seinen Dolch und braucht ihn. Die Kardinäle sind immer noch in dem schändlichen Kredit als Beschützer der Verbrecher.

Man erzählt jetzt noch Beispiele mit allen Namen und Umständen, daß sie Mörder in ihren Wagen aus der Stadt in Sicherheit bringen lassen. Über öffentliche Armenanstalten bei den Katholiken ist schon viel gesagt. Rom war auch in dieser Rücksicht die Metropolis. Jetzt sind durch die Revolution fast alle öffentliche Armenfonds wie ausgeplündert, und die Not ist vor der Ernte unter der ganz armen Klasse schrecklich. In ganz Marino und Albano ist keine öffentliche Schule, also keine Sorge für Erziehung; in Rom ist sie schlecht. Der Kirchenstaat ist eine Öde rund um Rom herum, deswegen erlaubt aber kein Güterbesitzer, daß man auf seimen Grunde arbeite.

Das Feudalrecht könnte in Gefahr geraten. Wenn er nicht geradezu hungert, was geht ihn die Hefen des Romulus an? Die Möncherei kommt wieder in ihren krassesten Flor, und man erzählt sich wieder ganz neue Bubenstücke der Kuttenträger, die der Schande der finstersten Zeiten gleich kommen. Man sagt wohl, Italien sei ein Paradies von Teufeln bewohnt: das heißt der menschlichen Natur Hohn gesprochen. Der Italiener ist ein edler, herrlicher Mensch; aber seine Regenten sind Mönche oder Mönchsknechte; die meisten sind Väter ohne Kinder: das ist Erklärung genug. Überdies ist es der Sitz der Vergebung der Sünde. Ich will nur machen, daß ich hinauskomme, sonst denkst Du, daß ich beißig und bösartig geworden bin.

Die Partien rundherum sind ohne mich bekannt genug: ich habe die meisten, allein und in Gesellschaft, in der schönsten Jahreszeit genossen. Man kann hier sein und sich wohl befinden, nur muß man die Humanität zu Hause lassen.[...]   Neapel [.

..]   In Salerne, wo ich seh zeitig ankam, wollte ich die Nacht bleiben, und den folgenden Morgen weiterfahren. Ich wandelte also in der Stadt herum, und bald faßte mich ein Geistlicher bei der Krause, der mir alle Herrlichkeiten seiner Vaterstadt zeigte. Die Kathedrale mit ihren Wundem war das erste. Das Bassin am Eingange, von einem einzigen Stücke gearbeitet, ließe sich wirklich auch in Rom noch sehen.

Man zeigte mir eine Menge Gräber von alten Erzbischöfen und Salernitaner Advokaten, die den Leuten gewaltig wichtig waren. Einige schöne alte Basreliefs aus Pästum hat man hier und da mit zur Verzierung neuer Monumente gebraucht. Das Merkwürdigste sind mehrere sehr schöne antike Säulen, die man auch aus Pästum geholt hat. Man rührte mich in das Adyton der Krypte des Schutzpatrons, welches Matthäus ist. Hier stand die statua biformis des Heiligen, die einem Janus ziemlich ähnlich sieht. Bei dieser Gelegenheit wurden mir denn alle Wunder erzählt, die der Apostel zum Heile der Stadt gegen die Sarazenen getan hatte.

Es läßt sich wohl begreifen, wie das zuging, und wie irgend ein Spruch von ihm und der Enthusiasmus für ihn so viel wirkten, daß die Ungläubigen abziehen mußten. Und nach der alten Rechtsregel, quod quis per alium - kommt ihm dann die Ehre billig zu. Das wissen die Spitzköpfe unter den Herren gar trefflich zu amalgamieren: die Plattköpfe haben es gar nicht nötig, die nehmen es starkgläubig geradezu. Im Hintergrunde der Krypte stehen noch ein Paar weibliche Heftigkeiten, deren Namen ich vergessen habe, deren Blut aber noch beständig fließt. Ich hörte es selbst rauschen und kann es also bezeugen; ich wagte gläubig keine Erklärung des Gaukelspiels. Unter den vielen Narren war auch ein Vernünftiger, der mir vorzüglich die Säulen aus Pästum alle und von allen Seiten in den schönsten Beleuchtungen zeigte: er drückte mir stillschweigend die Hand als ich fortging.

Nun brachte man mich noch mit Gewalt in eine andere Kirche, wo eine schöne Kreuzigung weder gemalt noch gehauen noch gegossen, sondern ins Holz gewachsen war. Mit Hilfe einiger Phantasie konnte man wohl so etwas heraus- oder vielmehr hineinbringen; und die Wunder überlasse ich den Gläubigen. Einige wunderten sich, daß ich doch gar nichts aufschriebe, wie andere Reisende; und einer der jungen Herren, die mich begleiteten, sagte Materialiensammlung: Reisen im Spiegel der Literatur Seite 28   zu meinem Lobe, ich wäre von allem hinlänglich unterrichtet und überzeugt. Da sagte er denn in beidem eine große Lüge. Als ich wegging, bat sich mein Hauptführer, der sich, glaube ich, einen Kastellan des Erzbischofs nannte, etwas für die Armen aus; das gab ich: sodann etwas zu einer Seelenmesse für mich; das gab ich auch. Schadet niemand und hilft wohl; man muß die Gläubigen stärken, lautet das Schibolet, das Goethens Reinecke der Fuchs von seiner Frau Mutter bekommt.

Dann bat er sich auch noch etwas für seine Mühe aus. Dazu machte ich endlich ein grämliches Gesicht und zog noch zwei Karlin hervor. Als ich sie ihm hinreichte, schnappte sie ein Profaner weg, der sich einen Korporal nannte, und von dem ich ebenso wenig wußte, wie er zur Gesellschaft, noch wie er in den Dienst der Kirche gekommen war. Darüber entstand Streit zwischen dem Klerikus und dem Laien. Der geistliche Herr sagte mir ins rechte Ohr, daß der Korporal ein liederlicher Säufer wäre; dieser zischelte mir gelegentlich ins linke, das Mönchsgesicht sei ein Gauner und lebe vom Betruge: ich antwortete beiden ganz leise, daß ich das nämliche glaube und es wohl gemerkt habe. Es ist ein heilloses Leben.

  Mein Freund, Du suchest in Salerne Den Menschensinn umsonst mit der Laterne; Denn zeigt er sich auch nur von ferne, So eilen Kutten und Kapuzen, Der heiligen Verfinsterung zum Nutzen, Zum dümmsten Glauben ihn zu stutzen. Da löscht man des Verstandes Zunder, Und mischt mit Pfaffenwitz des Widersinnes Plunder, Zum Trost der Schurkerei, zum Wunder: Und jeder Schuft, der fromm dem Himmel schmeichelt, Und wirklich dumm ist, oder Dummheit heuchelt, Kniet hin und betet, geht und meuchelt; Gewiß, Vergebung seiner Sünden Beim nächsten Plattkopf lästerlich zu finden.   Ich kann mir nicht helfen, Lieber, ich muß es Dir nur gestehen, daß ich den Artikel von der Vergebung der Sünden für einen der verderblichsten halte, den die Halbbildung der Vemunft zum angeblichen Troste der Schwachköpfe nur hat erfinden können. Er ist der schlimmste Anthropomorphismus, den man der Gottheit andichten kann. Es ist kein Gedanke, daß Sünde vergeben werde: jeder wird wohl mit allen seinen bösen und guten Werken hingehen müssen, wohin ihn seine Natur rührt. Eine mißverstandene Humanität hat den Irrtum zum Unglück des Menschengeschlechts aufgestellt und fortgepflanzt: und nun wickeln sich die Theologen so fein als möglich in Distinktionen herum, welche die Sache durchaus nicht besser machen.

Was ein Mensch gefühlt hat, bleibt in Ewigkeit gefehlt; es läßt sich keine einzige Folge einer einzigen Tat aus der Kette der Dinge herausreißen. Die Schwachheiten der Natur sind durch die Natur selbst gegeben, und die Herrscherin Vemunft soll sie durch ihre Stärke zu leiten und zu vermindern suchen. Der Begriff der Verzeihung hindert meistens das Besserwerden. Gehe nur in die Welt, um Dich davon zu überzeugen. Soll vielleicht dieser Trost großen Bösewichtern zu Statten kommen? Alle Schurken, die sich nicht bessem können, die von Beichte zu Beichte täglich schlechter, weggeworfener und niederträchtiger werden; diese sollen zum Heile der Menschheit verzweifeln. Jeder soll haben, was ihm zukommt.

Die Verzweiflung der Bösewichter ist Wohltat für die Welt; sie ist das Opfer, das der Tugend und der Göttlichkeit unserer Natur gebracht wird. Verzweifle, wer sich nicht bessem, sich nicht vernünftig beruhigen kann; die Vergebung der Sünden kann ich nicht begreifen: sie ist ein Widerspruch, gehört zu den Gängelbändern der geistlichen Empirik, damit ja niemand allein gehen lerne. Man darf nur die Länder recht beschauen, wo diese entsetzliche Gnade im größten Umfange und Unfuge regiert; kein rechtlicher Mann ist dort seiner Existenz sicher. Die Geschichte belegt. Hier in Salerne erhielt ich einen neuen Führer, der mir sehr problematisch aussah. Er machte mich dadurch aufmerksam, daß ich bei ihm außerordentlich sicher sei, weil er alles schlechte Gesindel als freundliche Bekannte grüßte, und meinte, in seiner Gesellschaft könne mir nichts geschehen.

Das begriff ich und war ziemlich ruhig, obgleich nicht wegen seiner Ehrlichkeit. Er hätte mich öffentlich in der Stadt übernommen; es galt also seine eigene Sicherheit, mich dahin wieder zurückzuliefern: weiter hätte ich ihm dann nicht trauen mögen. Wir fuhren noch diesen Abend ab, und blieben die Nacht an der Straße in einem einzelnen Wirtshause, wo sich der Weg nach Pästum rechts von der Landstraße nach Eboli und Kalabrien trennt. Diese Landstraße geht von hier aus nur ungefähr noch vierzig Millien; dann fängt sie an sizilianisch zu werden, und ist nur für Maulesel gangbar. Es war herrliches Wetter; der Himmel schien mir an dem schönen Morgen vorzüglich wohl zu wollen: meine Seele ward lebendiger als gewöhnlich. [.

..]     Materialiensammlung: Reisen im Spiegel der Literatur Seite 29   Erklärungen: *Nichts gelten bei Euch die Gesetze, nichts die Gerechtigkeit, nichts gute Gesinnung; die Priester mästen sich, der Pöbel geht zugrunde, das Volk ist blind; für verächtlich gilt alles, was den Mensvhen heilig ist, Ehre, Anstand, jede Tugend. Gerade die Niedrigsten und Nichtswürdigsten gehen in Waffen durch Stadt und Land auf Beute. Dies freilich ist jene Religion, eine Schande gegenüber ihrem Gründer, eine Schmähung der Vernunft, mit der iht versucht, freie Menschen und tapfere Männer in Knechtschaft und Räuberei zu stoßen.     statua biformis: Januskopf: Bildnis mit zwei Blickrichtungen quod quis per alium: Sprichwort: vollständig: “Was einer durch einen anderen tut, das gilt , als hätte er es selbst getan” Anthropomorphismus: Vermenschlichung, Vorstellung Gottes in menschlicher Gestalt Mamelukengeist: Treulosigkeit, Egoismus Homo sum - sagt Terenz: vollständig:”Mensch bin ich, nicht Menschliches gilt mir als fremd” Zitat aus einer Komödie atellanische Fabel: Aufschneiderei, dummes Zeug Exequien: Trauerfeierlichkeiten für Pius VI Palliativen: Linderungsmittel Valetaille: Dienstboten Hefen des Romulus: Pöbel von Rom       Otto Julius Bierbaum Eine empfindsame Reise im Automobil     VON TERNI BIS FRASCATI   AN HERRN PROFESSOR FRANZ STUCK IN MÜNCHEN   Rom, den 10.

Juni 1902   Lieber Herr Stuck! Ich wollte Ihnen schon gestern schreiben, aber wie es mir bisher nun immer auf dieser schönen Reise gegangen ist, wenn wir in einer großen Stadt ankamen: Mich überfiel eine Erschlaffung. Wir sind durch das tägliche frische Luftbad so verwöhnt, daß die eingesperrte Luft der Städte uns wie Backofentemperatur vorkommt, in der zu leben uns anfänglich unmöglich scheinen will. Ich weiß nicht, ob es wahr ist, daß Fliegen vor Hitze umfallen, wie man sagt - sicher ist, daß ich hier tatsächlich umgefallen bin und nicht imstande war, die Feder zu rühren. Das ist kein würdiger Beginn eines römischen Aufenthaltes, und ich schäme mich seiner rechtschaffen. Aber das kommt davon, wenn Hyperboräer wie ich zu einer Zeit nach Rom fahren, wo selbst die Römer die Stadt verlassen und die meisten Hotels geschlossen werden. Saison morte.

Selbst die enge Stadt kennt diesen Begriff. Nun haben wir heute eine Rundfahrt gemacht, und die hat mich elektrisiert. Hitze hin und Hitze her - in Rom gibt es Dinge, die alles vergessen lassen, selbst 55 Grad Réaunur. Ob ich aber Worte für sie finden werde? Kann man mit wirbelndem Gehirne schreiben? Ich will es versuchen und mit leichten Dingen beginnen. Die Aussicht von meinem Fenster! Sie wird links von einem Seitenflügel des schönen Palazzo Barberini begrenzt, dessen Garten gerade vor mir liegt. Ein Garten nach unseren Begriffen, mit vielen Bäumen und dichtem Buschwerk, ist das nicht.

Die Bäume sind nur wenige, aber es sind seltene Prachtstücke südlicher Art, immergrüne, die auch im Winter nicht kahl werden. Hinter ihnen hohe Häuser mit glatten Dächern (auf dem einen sitzt, der Kleidung nach zu schließen, ein Kammermädchen, und ich bilde mir ein, daß es ein hübsches Kammermädchen ist, denn es wäre sehr ungeschickt, mir ein häßliches einzubilden; deren gibt es genug in den italienischen Hotels, in denen, so scheint es, grundsätzlich nur Matronen vorgerückten Alters angestellt werden), und rechts hinauf, gleichfalls mit platten Dächern, aber außerdem mit vielen luftigen Balkonen (doch ist es leider zu heiß, als daß sich auch nur der Ansatz zu einem Kranze holder Damen auf ihnen präsentierte), die Via delle quattro fontane, auf der ein lebhaftes Hin und Her von Menschen zu Fuß und zu Wagen ist. Ich sehe und nenne: Mönche, Carabinieri, ein paar verspätete Engländer, Malermodelle aus den Abbruzzen (denn die »Spanische Treppe« ist nicht weit), ein Trupp Bersaglieri (wie Max Schillings mit Recht sagt: die schönsten Soldaten der Welt), ein Zug von Leuten mit Dreimastern und merkwürdigen Uniformröcken, in der Hand Wachskerzen, also wohl eine Begräbnisbrüderschaft, und, siehe da: auch drei »Krebse«. So nennt man nämlich, ihrer roten Soutanen wegen, Materialiensammlung: Reisen im Spiegel der Literatur Seite 30   die deutschen Seminaristen in Rom. An den Straßenecken sitzen junge Burschen, die Kirschen feilhalten, die sie in Form von Trauben zusammengebunden haben, Hinten, wo die Via delle quattro fontane von einer andren Straße gekreuzt wird, sehe ich, einen Trupp Kürassiere voran, einen Trupp Kürassiere hinterher, im schnellsten Tempo eine Hofkalesche fahren. Vielleicht ist es der König oder die Königin.

Die arme Ellena: Sie ist zwar die Königin, aber sie gilt nicht als solche. Noch immer denkt der Italiener an die blonde Margherita, wenn er la regina sagt. - Im ganzen genommen: Das Straßenbild ist lebhaft, bunt, großstädtisch, aber seinethalben würde man kaum hier in der Hitze aushalten. Den Italienern, denen, je nach ihrer politischen Meinung, Rom heilig ist als Wahrzeichen der Unita Italia oder des Papsttumes, gilt in erster Linie das lebendige Rom - uns verschwindet dieses vor den Resten des toten, dem wir doch allein die Ewigkeit zuerkennen. Vor diesem tritt in mir jetzt alles andere zurück, aber ich bin froh, daß ich vorher noch von anderem zu handeln habe, denn ich würde (siehe oben!) noch nicht imstande sein, Worte darüber zu finden. Ich frage mich wieder: Werde ich es später? Das Ziemlichste wäre hier, zu schweigen oder Goethe zu zitieren.

Einstweilen zurück nach Terni! Eine merkwürdige Stadt - sie hat keine Sehenswürdigkeiten. Wenigstens nicht innerhalb ihres Burgfriedens. Doch ist sie trotzdem vielbesucht als Ausgangsort für die berühmten Wasserfälle le marmore. Es versteht sich, daß wir unsern Adlerwagen zu ihnen lenkten, und wir haben sehr wohl daran getan, denn sie sind ein herrlicher Anblick. Man muß aber nicht an das denken, was in der Schweiz oder Tirol ein Wasserfall heißt. Es ist nicht der gewisse Gießbach, der senkrecht eine hohe Schlucht herabfällt, sondern es ist ein Terrassensturz.

Erst in drei Strängen eine hohe Wand herab, in einen mittleren Kessel, von wo aus sich die Gewässer als flüchtiger Staub bis fast zur halben Höhe der Wand wieder erheben, dann in wilden Strudeln zu einer zerrissenen Felsenstufe und nun im gewaltigsten Schwalle herunter zum eigentlichen Bette des Flusses, wo dann der übermütige Springer bald ruhiger wird. Das Ganze hat Majestät und Würde und sieht sich fast wie Kunst an - wobei man aber an das denken muß, was man sich unter antiker Kunst vorstellt. Es ist wie eine Bändigung des Elements: erst hierher, daß sich deine Kraft im wildesten bricht, nun hier, wo sie sich nochmals abmühen mag, den alten Trotz zu gewinnen, und jetzt, kräftig noch, aber machtvoll geregelt, hinab zu gelassener Ruhe. Man nimmt einen großen Eindruck für immer mit sich. - Von Terni an führt die Straße immer aufwärts, wieder über einen Ast des Apennin, und wieder fiel es uns auf, wie öde dieses Gebirge ist und wie groß der Unterschied zwischen den Landschaften, die es trennt. Der Übergang selber ist nicht entfernt so schwierig wie der zwischen Faenza und Florenz; auch ist er viel kürzer.

Die Campagna, in die wir nun eintreten, enttäuschte mich, weil ich unwillkürlich gehofft hatte, einen so überwältigenden Eindruck zu erhalten, wie er mir damals beschert war, als sich zum ersten Male Toskana dem Blicke auftat. Im Vergleiche dazu wirkt die Campagna arm. Sie ist kein Garten wie Toskana, sondern in der Hauptsache Wiesen- und Weidenland, nur spärlich unterbrochen von einzelnen Eichen. Keine Villen, wenig Dörfer, nur ärmliche Farmen und Viehhürden. Wir sahen viele Schafherden und eine große Anzahl von ungebührlich belasteten Eseln. Fast daß die Tiere darunter verschwinden, sind sie mit Heu bepackt, und man sieht die braven kleinen Burschen häufig genug zwei Reiter tragen.

Die Frauen sitzen auf ihnen nach Männerart, was sich recht wunderlich ausnimmt. An ihnen bemerkten wir zum ersten Male die Miedertracht (nicht Niedertracht zu lesen!), das heißt das Korsett als Kleidungsstück ohne nochmalige Verhüllung durch eine »Taille«. Also eine Schale weniger, was zu begrüßen wäre, wenn die Korsetts sauberer aussähen. - Noch Seume erzählt von der Unsicherheit dieser Gegend; jetzt gibt es hier wohl kaum Räuber. Sie hätten dreimal leichte Arbeit mit uns gehabt, denn 25 Meilen vor Rom begann dasselbe Geduldspiel mit den Pneumatiks, das bereits unserm ersten Apenninübergang beschieden gewesen war: Wir mußten dreimal »abmanteln«. Gelassenen Sinnes, wie man wird, wenn man seit acht Wochen im Laufwagen reist, haben wir uns nicht viel daraus gemacht und uns währenddessen genauer in die Campagna vertieft, wobei es uns denn aufging, daß diese Öde einen Zug von Größe hat - zumal wenn man im Hintergrunde die Peterskuppel gewahr wird.

- Die Straße, die man befährt, ist die alte Via Flaminia; es tut mir leid zu sagen, daß wir sie als die schlechteste erfanden, die uns bisher auf italienischem Boden beschieden war. Im Altertum ist sie gewiß so vortrefflich gewesen wie alles, was der antike Staat für die Öffentlichkeit baute (z.B. die schöne Brücke über den Tiber, hinter Otricoli), und sie hat sich nur noch nicht von der Zeit des Kirchenstaates her erholt, denk ich mir, da ich der Partei der »Königlichen« recht gebe, die auf Plakaten ihren Wahlspruch hier so formulieren : In Roma siamo e ci rimaniamo. (Meine Frau belehrt mich eben, daß das ein Ausspruch Viktor Emanuels II. ist.

) »Liebt der Signor den König oder den Papst?« fragte uns ein Mann, der bei uns haltmachte, als wir unserm braven Führer beim Reparieren zusahen, und er war sehr unzufrieden, als wir ihm darauf keinen bestimmten Bescheid gaben. Für den heutigen Römer muß das wohl, wenn er nicht gerade Sozialdemokrat ist, politisch die Hauptfrage sein, und diese Frage drängt sich mit der ganzen Wucht der Peterskuppel auf. Auch dem Fremden wird erst hier die Wunderlichkeit des Zustandes recht auffällig, die darin Materialiensammlung: Reisen im Spiegel der Literatur Seite 31   liegt, daß der einstmalige Souverän des Landes depossediert in seiner ehemaligen Residenz sitzt. Man versteht, überlegt man sich dies, die Redensart von der Gefangenschaft des Papstes - es ist der Aufenthalt im Vatikan für ihn in der Tat wenigstens eine Art relativer Gefangenschaft, und für ein Temperament wie das des Kardinals Rampolla muß dieser Zustand eine arge Pein sein. Der gegenwärtige Papst selber mag ihn persönlich eher erträglich finden, da er körperlich ohnehin kaum die Kraft hätte, die Grenzen des Vatikans zu überschreiten, und da er geistig keinen Trost im vornehmsten aller geistigen Sports findet: in der lateinischen Poesie. Das gläubige Volk ist hier übrigens überzeugt, daß er körperlich gar nicht mehr lebt und daß es nur sein Geist ist, dem die Engel für die Augenblicke, wo er sich öffentlich zeigen muß, zur Materialisierung verhelfen.

Mich kümmert diese Frage wenig; mag der Papst leben oder tot, gefangen oder souverän sein: Die Hauptsache ist für mich in Rom, daß ich mit Augen , sehen kann, was von der Antike noch lebt.   Frascati, den15. Juni 1902   Dies ist einer der Orte, wohin die Römer fliehen, wenn es ihnen in ihrer Capitale zu heiß wird; der König selber, so heißt es, lenkt täglich sein Automobil hierher. Uns trieb nicht nur die Hitze aus Rom, sondern auch ein Gefühl der Unruhe, wie es sich einstellt, wenn man seiner Empfindungen nicht Herr werden kann und wenn man eine Aufgabe vor sich sieht, die zu bewältigen man nicht imstande ist. Rom in fünf Tagen - das erzeugt einen Wirbel der Seele, und ich sage mir heute, es wäre doch besser gewesen, sofort nach der ersten Umfahrt weiterzureisen. Und wenn wir statt fünf Tage fünfzehn geblieben wären oder auch fünfzig - es wäre nichts anderes herausgekommen.

Ein Deutscher braucht für Rom mindestens ein halbes Jahr. - Es gilt ja hier nicht, eine fremde Stadt kennenzulernen; hier handelt es sich um viel mehr: es stellen sich hier leibhaftig alle die Probleme vor der erschauernden Seele auf, die uns im Eigensten angehen. Dieses Rom ist ja unsere Hauptstadt ebensogut wie die der Italiener. Von hierher stammt unsre Gesittung, unser recht; hier wurde uns die Schönheit die Religion gelehrt. Es ist die Hauptstadt der europäischen Kultur. Ob wir darüber froh sein sollen oder ob wir Anlaß haben, darüber zu klagen - gleichviel : Es ist so.

Unsre Vorfahren haben - und wir haben keine Ursache, darauf stolz zu sein - das antike Rom, diese ungeheure Herrlichkeit, in Trümmer geschlagen, aber der Geist war mächtiger als die mächtigen Steine, und er rächte sich an den Wilden, indem er ihnen alles nahm, was sie an eigenem Geiste besaßen. Ihre Götter - was sind sie uns, die wir doch ihres Blutes sind, viel mehr als indianische Ungetüme? Im besten Falle Figuren der Phantasie Richard Wagners. Wir haben in ein paar Märchen Spuren davon gerettet, das ist alles. Die Antike setzte sich, ob sie auch niedergetrümmert war, ästhetisch im Christentume fort, und unser Schönheitskodex stammt nicht weniger aus Rom als der Kodex unsres Rechtes. Und das Christentum selber ist uns auf römisch beigebracht worden. Hier läuft alles in einem Punkte zusammen, was jahrhundertelang fast ausschließlich auf uns gewirkt hat und noch heute fortwirkt, so oder so.

Welcher Deutsche müßte hier nicht nachdenklich werden? - Zuerst ist es ein Gefühl ratlosen Staunens. Man sieht diese wunderbaren Reste der Antike, die alles übertreffen, was man sich davon vorgestellt hat, und man fühlt sich ganz Barbar. Da> ist alles so unerhört gewaltig, Zeuge einer ästhetischen Kultur, neben der das, was wir selbst hervorgebracht haben, vollkommen verschwindet. Und dann fragt man sich: Wie konnte das geschehen? Wie war es möglich, daß dies unterging? Alles dies war im eigentlichsten Sinne auf die Ewigkeit berechnet, und nun stehen Ruinen. Man wird von Zorn ergriffen und ist töricht genug, mit dem Schicksal hadern zu wollen. Was die christliche Zeit an die Stelle des Alten gesetzt hat, erscheint einem kümmerlich, und nur der eine Michelangelo findet Gnade vor den empörten Augen.

Ja, was man Holdseliges und Erhabenes von christlicher Kunst früher mit Entzückung gesehen hat, droht zu verschwinden, will klein, belanglos erscheinen. Man fühlt sich wie entwurzelt. Etwas Übermächtiges ist vor die Seele getreten, und diese Seele wird von einem Überschwange ergriffen, es ganz aufzunehmen, alles dafür hinzugeben, um nur dieses eine ganz zu haben : die Antike. Indessen, es zeigt sich doch, daß diese Seele nicht mehr imstande ist, all das aufzugeben, wovon sie bisher erfüllt war, und daß sie nicht mehr imstande ist, jenen Riesengast aus gewaltigerer Zeit zu beherbergen, und so kommt die Umstimmung. Aus der Empörung wird Resignation und - dank der Kunst, die, wenn auch in anderem Geiste, immer weiter das Schöne als Trost in die Welt gesetzt hat - aus der Resignation ein Gefühl der Zuversicht, daß, wenn auch nichts, was Menschen schaffen, ewigen Bestand hat, doch unverwüstlich die Lust und die Kraft in den Menschen bleibt, Schönes zu gestalten. Wer von sich mit Fug sagen dürfte, daß er einer Kultur wie der antiken gewachsen wäre, der mag mit Nietzsche, der wohl aus sich ein Recht dazu hatte, eine Wiederkunft jenes römischen Geistes heraufbeschwören wollen uns anderen ziemt eine bescheidenere Pose, und wir wollen es nur ruhig gestehen, daß wir jene Gesundheit der alten Welt nicht ertragen könnten.

Wir können nichts als bewundern, aber wir sind differenziert genug geworden, daß wir auch für alles das, was hinterher gekommen Materialiensammlung: Reisen im Spiegel der Literatur Seite 32   ist, Organe besitzen, und wir tun gut daran, diese Organe zu nützen. Wir sind auf eine Bahn gekommen, die von der Antike wegführt, denn unsere Gesittung ist im Grunde sentimentaler Natur. Man denke an das, was Klinger mit seinem »Christus im Olymp« hat ausdrücken wollen : der Schatten des Kreuzes zwischen den genießenden Göttern und Psyche, die sich dem Heiland zu Füßen wirft. Aber dann sind die Naturwissenschaften auf den Plan getreten und die Erkenntnisse, deren großer Schlußfolgerer Nietzsche ist: Damit tut sich eine Perspektive auf, die vielleicht doch wieder zur Bahn der Antike führt. In unsrer jüngsten Generation kann man Anzeichen dafür gewahren, doch ist einige Vorsicht wohl geboten, denn es ist nicht alles Nietzsche, was glänzt. - So führt Rom zu allen Wegen hin, wie alle Wege nach Rom führen.

Eine Stadt, die dazu verlockt, leichte Sprünge zu machen, ist es durchaus nicht, und wer nur eine Spur Ernst in sich hat, der wird dessen hier gewahr. Oder ist es nur unser schweres deutsches Blut? Die Römer von heute, glaub ich, nehmen die Sache leichter. Mit Recht, denn sie würden sonst von ihrer Stadt erdrückt werden. Übrigens: die Römer oder vielmehr die Römerinnen. Ich hatte mir in diesem Punkte allerlei Einbildungen gemacht, die sich, wie ich bekennen muß, wahrscheinlich auf Goethes »Römische Elegien« zurückführen. Mag es daher gekommen sein, daß ich für nichts Augen hatte als für die alten Steine, oder waren alle die schönen Damen und Nicht-Damen verreist kurz, ich habe meine Einbildungen nicht bestätigt gefunden.

Außer ein paar hübschen Modellmädchen, denen man aber auch in München an der Akademietreppe begegnen kann, ist mir nichts aufgefallen, was einen besonderen Eindruck auf mich gemacht hätte. Doch muß man wohl auch hierfür länger als fünf Tage ' in Rom bleiben. Und dann, glaube ich, hat dies auch noch einen anderen Grund: Die besondere Schönheit der italienischen Frau stimmt im allgemeinen nicht zu der modernen Mode; es gehört Kostüm dazu. Und die Kostüme sind in Italien bis auf wenige Gegenden fast völlig verschwunden. Für die Mode ist aber heute der ' Norden tonangebend, und der Süden, indem er sich darein schickt, verliert darunter. Südländer und zumal Südländerinnen, die sich nach den Gesetzen kleiden zu müssen glauben, die King Edward im nebligen London erfunden hat, wo alles auf Nebel und Ruß berechnet werden muß, während hier die Sonne Farbe, Farbe, Farbe heischt, treiben eigentlich eine Maskerade, und eine recht unvernünftige, nämlich unlustige, dazu.

Und nun liegt Rom denn hinter uns, oder nein: Es liegt vor mir, da unten, in der nächtigen Campagna, von der nichts sichtbar ist, und von Rom selber leuchten nur die vielen Lichter des Bahnhofs bis hierherauf. Hier aber in Frascati ist es wunderschön, weil es , sehr schön frisch ist. Ich begreife den Ré vollkommen, daß er täglich sein Automobil hierher lenkt, wo es zudem nicht so viele Klerikale gibt wie in der ewigen , Stadt, die doch noch vielen Römern mehr die Residenz des Papstes als des Königs gilt. Diese Konkurrenz von zwei Souveränen an einem Orte ist die größte moderne Kuriosität Roms. Nach der Meinung der liberalen Italiener ist für den Papst-König nicht das mindeste mehr zu hoffen, aber die Klerikalen sind natürlich anderer Meinung. Sicher ist, daß Rom in dieser Hinsicht aus zwei feindlichen Lagern besteht und daß man den Vatikan eine Insel nennen kann, der es an Brandung nicht fehlt.

Die braven Schweizer in ihren etwas an Maskenvergnügungen erinnernden Wämsern sehen übrigens, wenn sie auch sehr friedlich ihre Schweizer Zeitungen lesen, während sie auf der Bank des Haupteinganges zum Vatikan sitzen, ganz wie Leute aus, die sich, wenn es notwendig sein sollte, für ihren Geldgeber totschlagen lassen. Es sind fast ausnahmslos gewaltige Gesellen, denen nur etwas mehr Bewegung not täte. Es scheint nicht, daß sie viel langsamen Schritt üben, denn der Fettansatz ist bei den Erde emporschreiten und in die Erde niedertreten sollte, was vordem auf ihm gelastet hatte. Die Katakomben, die wir sahen, stehen unter der Obhut von Trappistenmönchen, zu deren Ordensgelübden bekanntlich das der Schweigsamkeit gehört. Demnach war der Frate, der uns herumführte, kein Trappist, denn er sprach sehr viel und geläufig, und man hatte die Wahl, ihn italienisch, französisch oder deutsch sprechen zu hören. Wir entschieden uns natürlich für Deutsch und waren erstaunt, unsre Sprache mit deutlichem niederdeutschen Klänge zu vernehmen, als ob es ein als Mönch verkleideter Matrose von unserer meisten beträchtlich.

- Es war uns angenehm, daß unsere Ausfahrt aus Rom uns noch einmal direkt an der Peterskirche vorbeiführte. Dieser Bau repräsentiert die Ecclesia triumphans wirklich imposant, doch wird man der gewaltigen Raumverhältnisse ganz nur im Innern gewahr. Da aber ist der Eindruck überwältigend, und nicht etwa bloß wegen der ungeheuren Maße, sondern vornehmlich infolge der wunderbaren Maßabwägung. Alles drückt aufs vollkommenste Erhabenheit aus, alles geht aufs Ganze. Es mag wunderbare Einzelheiten darin geben, aber ich wüßte nicht, wer Neigung dafür empfinden sollte, sich hier mit ihnen zu beschäftigen; man sieht nur und empfindet ein intensives Raumwohlgefühl. - Wir mußten an Sankt Peter vorüber, weil wir noch den Katakomben des heiligen Calixtus einen Besuch abstatten wollten, und wir wollten diese gesehen haben, weil uns dies der passenste Abschluß unsres kurzen römischen Aufenthaltes zu sein schien: ein Blick in die versteckten Grabkammern des frühen Christentums, das bald aus der Wasserkante wäre, der hier sprach.

Es war aber der Mönch ein Holländer, und mir scheint, das ist nun Kuriosität genug: ein katholischer Holländer, der als Mönch die Fremden in den römischen Katakomben herumführt. Er tat dies ohne jede Feierlichkeit, vielmehr mit einem Anfluge von niederdeutschem Humor. Materialiensammlung: Reisen im Spiegel der Literatur Seite 33   Sein Hauptbestreben war, meine Frau gruseln zu machen, und er schien es für sehr wichtig zu halten, ihr vor Augen zu führen, daß auch von uns einmal nichts weiter übrig sein werde als ein bißchen Asche. »Hier liegen vornehme Leute begraben - auch bloß Asche. Wollen Sie vielleicht mit in den Gang hier kommen? Kommen Sie nur! So werden Sie auch einmal aussehen. Asche! Asche! Weiter bleibt nichts übrig!« Und dazu lachte er sehr vergnüglich.

»Es riecht ein bißchen schlecht hier unten; aber es sind ja die Katakomben und kein Parfümerieladen. Dort hinten riecht es noch schlechter. Wollen Sie mit dort hinter kommen? Kommen Sie nur! Dies steht uns allen bevor. « Eigentlich paßt diese Art von Kommentar ganz gut in diese Maulwurfsgänge des Todes, in diese unterirdische Stadt der Verwesung, wo die Straßen nicht bloß neben, sondern auch übereinander hin laufen und wo rechts und links nichts zu sehen ist als Grabkammer an Grabkammer. Das etruskische Familiengrab hinter Perugia war weihevoller, muß ich sagen, und auch vornehmer, und der antike Genius des Todes mit der umgekehrten Fackel ist ein schöneres Symbol für das Ende alles Lebendigen als die Symbole, die man hier zu sehen bekommt, obgleich sie alle die Unsterblichkeit der Seele betonen. In diesem Sinne wird die Geschichte des Jonas symbolisch aufgefaßt und dargestellt, der ins Meer geworfen, von einem Fisch verschluckt und wieder ausgespien wurde.

Die Art der Darstellung ist ganz antik, aber unbeholfen. Diesen Künstlern, wenn man sie so nennen darf, kam es offenbar mehr auf den Glauben als auf die Schönheit an. Christus, als guter Hirte dargestellt, erscheint ohne Bart, wie immer in den frühesten Zeiten (z. B. auf den ältesten Mosaiken). - Im ganzen ist so ein Besuch bei den Toten nicht gerade eine lustige Sache, wenn man auch, wie wir, einen schnurrigen Mönch zum Führer und ein Gemüt hat, das sich nicht leicht bange machen läßt.

Man begrüßt das Licht des Tages, die reine Luft der Oberwelt doch mit Vergnügen und freut sich, daß man von dem großen Fische noch nicht verschlungen und daß es nicht der Leichenwagen mit dem Zeichen des Kreuzes ist, der auf einen wartet, sondern der Laufwagen mit dem Fabrikzeichen des Adlers. Ehe wir ihn bestiegen, ließen wir uns von den Mönchen noch ein Paket selbstfabrizierter Schokolade verkaufen, und wir haben im Laufe des Tages gefunden, daß diese römische Trappistenschokolade zu den besten gehört, die man essen kann. Wie denn überhaupt alles vorzüglich ist, was die Mönche an Eß- und Trinkbarem hervorbringen - man denke an die berühmten Kartäuserschnäpse! (Wie tut es mir leid, fällt mir eben ein, daß ich mir in der Certosa bei Florenz keine Schildkrötensuppe habe servieren lassen können, weil just an dem Tage unsres Besuches die Pforte geschlossen war. Eine real turtle soup, die nichts kostet als ein »Vergelt's Gott« - das ist doch wohl ein vornehmes Almosen und ein gutes Argument für den

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