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3. Interpretation
Theodor Storms Novelle „Der Schimmelreiter“ ist nicht als eine einfache Erzählung dargestellt-, nein, Storm stellt sie als Tatsache hin und versucht mit mehreren Mitteln, den Wahrheitsgehalt der Geschichte zu untermalen. Die erzählerischen Mittel, die er dazu benützt, nennt man Rahmenerzählungen. Er bettet die eigentliche Erzählung des Schimmelreiters in mehrere andere, kleine Erzählungen ein. So beginnt er mit der Tatsache, dass er als kleiner Junge in der Zeitung über den Schimmelreiter gelesen hat.
Die Zeitung steht hier für Tatsachen und als Beweis für die wirkliche Existenz des gespenstischen Reiters.
Storm lässt in seiner Novelle niemals die Vermutung zu, es gäbe den Schimmelreiter nicht. Der Erzähler, der den Zeitungsartikel geschrieben hat, sieht ja den Schimmelreiter mit eigenen Augen auf dem Deich, sein Bericht ist also unbezweifelbare Wirklichkeit. Durch die Tatsache, dass das Lesen des Zeitungsabschnitt schon so lange her ist, wird das gespenstische Geschehen in weite Ferne gerückt. Zusätzlich entsteht eine gemütliche Erzählsituation: Der kleine Junge liest, an den Lehnstuhl seiner Urgrossmutter gelehnt, einen Zeitungsartikel. Diese Erzählsituation steht in Kontrast zur etwas unheimlichen und unheilvollen Stimmung der eigentlichen Geschichte.
Das ist aber nur der erste Erzählrahmen.
Es folgt als zweiter das Erlebnis in der Ich-Form des einsamen Reisenden, der von seiner Begegnung mit dem Schimmelreiter erzählt.
Erst jetzt beginnt der dritte Erzählrahmen: Im Wirtshaus gibt der alte Schulmeister seine Version der Geschichte preis, die ihm „aus den Überlieferungen verständiger Leute oder aus Erzählungen der Enkel und Urenkel solcher“ bekannt ist. Diese bildet den Kern der Novelle. Die eigentliche Erzählung ist also in mehrere kleine eingebettet. Durch dieses Ineinanderschachteln betont Storm die Kontinuität der Überlieferung. Gleichzeitig macht er dadurch aber auch klar, dass die Geschichte nicht unbedingt objektiv ist, denn sie wurde ja immer wieder weitererzählt.
Der zweite und dritte Rahmen sind miteinander verbunden: Beide spielen am selben Ort, in beiden steht die Sturmflut im Zentrum, in beiden galoppiert der Schimmelreiter über den Deich.
Nun zur eigentlichen Geschichte des Schimmelreiters. Im Mittelpunkt der Erzählung steht die Figur von Hauke Haien. Er ist unglaublich intelligent, schon als Kind hochbegabt und wissenschaftlich engagiert. Sein ganzes Interesse und auch sämtliche Begabungen richten sich auf das Wissenschaftlich-Rationale.
In seiner Jugend fehlen die Schulfreunde und sonstige Bekanntschaften völlig.
Erst als er Elke kennenlernt ändert sich das. Sie bleibt jedoch seine einzige Bezugsperson neben dem Vater. In der Dorfgemeinschaft fehlt ihm eine gewisse Beliebtheit. Das ist eigentlich paradox. Denn Hauke setzt sich mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln für die Sicherheit der Bauern durch neue Deiche ein. Trotzdem akzeptieren sie ihn nicht als Mitglied ihrer Gemeinschaft.
Sogar als er beim winterlichen Ballwerfen den Sieg für seine Mannschaft holt, reicht das nicht aus. Hauke bleibt für sie immer ein Aussenstehender. Die klare Überlegenheit Haukes und sein unbezwingbarer Wille schaffen ihm Feindschaften.
Seine ganze Liebe gibt er seiner Frau und seiner Tochter. Zu Hause, geschützt von allen bösen Einflüssen, ist er der liebevolle und fürsorgliche Ehemann und Vater. Sobald er aber dieses geschützte Umfeld verlässt, wird er wieder von Ehrgeiz und Machtansprüchen überwältigt.
Er wird zum unnachgiebigen und harten Verhandlungspartner, zum unerbittlichen Arbeitgeber.
Dieser Gegensatz zwischen der Familie Haien und der Dorfbevölkerung zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch. Auf der einen Seite Elke und Hauke, beide rational denkend, wissenschaftlich orientiert, auf der anderen Seite die abergläubische Bevölkerung, die es nicht vermag, die einfachsten Berechnungen anzustellen. Personifiziert wird diese Gegenseite durch Ole Peters. Seine geistigen Fähigkeiten sind beschränkt, dafür ist er körperlich eher kräftig. Hauke Haien ist Ole Peters dank seiner Intelligenz und mathematischen Begabung überlegen.
Während Hauke die Karriereleiter hochklettert und schliesslich Deichgraf wird, bleibt Ole Peters eine Hilfskraft. Aus Neid und Missgunst setzt Ole Peters deshalb Gerüchte in Umlauf, um die Dorfgemeinschaft gegen Hauke aufzubringen.
Es ist nicht nur die intellektuelle Überlegenheit Haukes, die ihn von der Gemeinschaft ausgrenzt. Hauke ist liberal, fortschrittlich, offen für neues. Er ist überzeugt davon, dass die Deiche anders, besser gebaut werden müssen. Ole Peters und die Dorfbevölkerung hingegen wollen nichts wissen von neuen Ideen.
Sie klammern sich lieber an die Vergangenheit, wollen nichts ändern und alles so belassen, wie es immer schon war. Dank seiner klugen Argumente kann Hauke zwar den Oberdeichgrafen jedesmal überzeugen. Nur einmal gelingt ihm dies nicht, nämlich als es darum geht, den alten Deich flicken zu lassen. Hauke ist körperlich geschwächt und bringt die Kraft nicht auf, gegen die dumpfe Engstirnigkeit anzukämpfen. Es ist das erste Mal, dass er sich selber untreu wird. Dies ist der Anfang vom Ende.
Die soziale Isolierung von Hauke Haien hat noch andere Gründe. Sein rationales Denken verbietet ihm, den Aberglauben der Dorfgemeinschaft zu akzeptieren. Immer wieder sehen die Bauern Zeichen, die sie als Vorboten von Unheil deuten. Selbst die sterbende Haushälterin Trin Jans warnt mit ihren letzten Worten: „Gott gnad de annern.“ Immer häufiger entdecken die Dorfbewohner Zeichen, die nichts Gutes ahnen lassen - sei es, dass der Hahn von der Kirchturmspitze hinuntergeweht wird, sei es, dass im Hochsommer Schnee fällt. Auch Hauke Haien rückt immer mehr ins Zentrum der abergläubischen Vorahnungen.
Zum einen ist da die mysteriöse Herkunft seines Schimmels, von dem die Dorfbewohner sich erzählen, er sei des Teufels. Wie sonst sollte das Pferdegerippe am Strand verschwunden sein, wenn nicht durch die Hand des Teufels? Zum andern ist da das Hündchen, das Hauke vor dem Eingraben in den Deich rettet. Damit lehnt er sich in aller Öffentlichkeit gegen den Aberglauben der Leute auf.
Tragischerweise erfüllt sich der Wunsch des Volkes im Deiche doch. Die Bedingung lautete immer, das Lebende müsse freiwillig hineingehen. So lockten etwa die Deichgrafen, die vor Hauke Deiche gebaut hatten, hungrige Zigeunerkinder mit Weissbrot in das Loch im Deich hinein.
Ausgerechnet Hauke erfüllt nun die Prophezeihung. Er stürzt sich in der Sturmflut freiwillig in das Loch im Deich. Damit gibt er dem Druck der Leute nach. Das ist das zweite Mal innert kurzer Zeit, das er seiner tiefsten Überzeugung zuwiderhandelt. Auch diesmal ist er nicht im Vollbesitz seiner Kräfte: Als er Frau und Kind ertrinken sieht, bricht etwas in ihm entzwei. Durch seine Schuld kommt seine Familie um.
Also stürzt er sich mit seinem Schimmel in die Fluten und gibt den Leuten so das Opfer, das ihr Aberglaube verlangt hat. Er lädt die Schuld der Katastrophe auf sich und bittet Gott, die Gemeinschaft zu verschonen. So sorgt er sich selbst mit seinen letzten Worten noch um das Wohlergehen der andern.
Als Hauke dem Schimmel die Sporen gibt, um in die Fluten zu springen, bäumt sich das Tier auf, doch es wird vom Gewicht seines Reiters wieder hinuntergedrückt und muss sich in die Fluten stürzen. Diese Szene ist bezeichnend für Hauke Haien. Denn sein ganzes Leben wird davon bestimmt, die Natur zu beherrschen.
Der neue Deich, den er baut, soll das Meer in Schranken weisen, ihm neues Land abtrotzen. Haukes Umgang mit der Natur wird durch sein strikt rationalistisches Weltbild bestimmt. Nicht umsonst hat er ja in seiner Jugend Euklid gelesen, das mathematisch-geometrische Lehrbuch. Doch obwohl er die bedrohliche Naturkraft des Meeres eindämmen will, ist Hauke vom Meer fasziniert. So sitzt er schon als Kind stundenlang am Deich und beobachtet die Flut, bis ihm der „Schaum ins Gesicht spritzt“. Trotz Sturm und Wetter liegt er mutterseelenallein am Deich, „bis er einsam in der Öde stand, wo nur die Winde über den Deich wehten, wo nichts war als die klagenden Stimmen der grossen Vögel (.
..) zu seiner Linken, die leere weite Marsch, zur anderen Seite der unabsehbare Strand mit seiner jetzt vom Eise schimmernden Fläche der Watten; es war, als liege die ganze Welt in weissem Tod.“
In stundenlangen Beobachtungen lernt Hauke, dass die Wellen „ganze Fetzen“ des Deichs ins Meer reissen. Dies provoziert sein „zorniges Lachen“ - eine eigentliche Kampfansage. Die technischen Mängel der alten Deiche und die unberechenbaren Naturkräfte fordern Hauke heraus.
„Ihr könnt nichts Rechtes“, schreit er in den Sturm hinaus,“so wie die Menschen auch nichts können.“ In dieser Aussage zeigt sich Haukes gefährliche Überheblichkeit. Zwar scheint er mit seinem neuen Deich tatsächlich das Meer bezwingen zu können. Aber eben, nur scheinbar. Mit der Sturmflut stellt die Natur klar, dass sie sich von Menschen oder Technik nicht beherrschen lässt.Als Hauke dies erkennen muss, überfällt es ihn, „als sei hier alle Menschenmacht zu Ende; als müsse jetzt die Nacht, der Tod, das Nichts hereinbrechen.
“ Der brüchige Deich wird zum Symbol für den Sieg der Natur über die Menschen, die sich anmassen, sie beherrschen zu wollen. Dieses Motiv hat bis heute nichts an Aktualität eingebüsst. Vielleicht sollten die Leute, die das Weltall erobern oder mit Gentechnik in ein subtiles Gleichgewicht eingreifen wollen, öfter mal an diesen Deichbruch denken...
In gewisser Weise erinnert der Schimmelreiter an die griechische Sagenwelt.
Wie dort finden wir auch bei Hauke die uns wohlbekannte Hybris. Hauke beleidigt oder kränkt Gott mehrmals. Beispielsweise, als er sich anmasst, das Meer beherrschen zu können. Er masst sich an, die Kontrolle zu übernehmen, die jedoch Gott zusteht. Als seine Frau dem Tode nahe ist, beschwört er Gott und spricht sich grössere Rechte an seiner Frau zu als Gott. Die Strafe hierfür folgt schon kurz danach: Seine Tochter wird geistig behindert geboren, das ist für ihn ein schwerer Schlag.
Letzten Endes rächt sich das Schicksal an Hauke für sein hybrisches Verhalten. Er ist hilflos gegenüber den Mächten, die er herausgefordert hat.
Mit einem Schlag sind all seine Träume wie Seifenblasen geplatzt. Nur eines bleibt ihm in dieser Situation noch übrig: Er will den neuen Deich, sein Lebenswerk, schützen. Schliesslich hat er es selbst prophezeit: „Der Hauke-Haien-Deich, er soll schon halten; er wird es noch nach hundert Jahren tun.“ So reitet Hauke Haien noch heute bei Sturm umher und warnt die Bauern vor Rissen und Löchern im Deich.
Indem er die Leute vor weiteren Unglücken warnt, ist er doch noch ein wichtiger Bestandteil ihrer Gemeinschaft geworden - nach seinem Tod. Sein Opfertod war zwar das Ende von Hauke Haien, zugleich aber der Anfang seines Mythos. Sein Name wird für immer in jedermanns Munde sein. Tatsächlich ist Hauke Haien bis heute lebendig geblieben. Das zeigt sich daran, dass 1961 ein neu eingedeichter Koog nördlich von Husum den Namen „Hauke-Haien-Koog“ erhielt. Auch das Schiff, das das Festland mit den Halligen verbindet, wurde auf den Namen des Schimmelreiters getauft (Bild!).
Irgendwie ist Hauke Haien ein bisschen mit Michael Kolhaas verwandt. Kolhaas kämpft allein gegen die übermächtige Ungerechtigkeit der Welt. Hauke Haien kämpft als einzelner gegen die Kräfte der Natur und die Engstirnigkeit der Menschen. Beide erliegen der Übermacht.
Soll dies etwa heissen, der Einzelne solle sich selber verleugnen und immer schön brav mit dem Strom schwimmen? Ich meine Nein: Nur tote Fische schwimmen mit dem Storm! ( Entschuldigung: Strom)
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