Naturalismus (1880-1900)
8. Kapitel
NaturalismusNaturalismus (1880-1900)
Begriff
Naturgetreue Abbildung der Wirklichkeit ohne Stilisierung oder metaphysische Überhöhung; die im Realismus begonnene objektivierende Tendenz wird radikal fortgesetzt. Gesamteuropäische Bewegung; in Deutschland seit den "Kritischen Waffengängen" der Brüder Hart (1882). Begriff in der Epoche selbst entstanden, als "Revolution der Literatur" gemeint.
Historischer und geistesgeschichtlicher Hintergrund
Blütezeit des politischen und wirtschaftlichen Imperialismus. Kolonialpolitik.
Hochrüstung. Verfall des Bürgertums. Aufstieg der Arbeiterklasse. Landflucht, Bauersterben. Auswanderungswellen (USA). Einerseits selbstgefällig-repräsentative Kultur des Wilhelminismus (z.
B. Siegesallee, Reichstag in Berlin), andererseits Mietskasernen mit lichtlosen Hinterhöfen für ein verelendetes Proletariat. Positivismus als Weltanschauung: Lehre von der Gesetzmäßigkeit aller Dinge ohne metaphysische Voraussetzung. Der Mensch ist wie die Natur wissenschaftlich erklärbar als Produkt von Erbgut, Milieu, geschichtlicher Situation. Einfluß der Lehren von Ludwig Feuerbach, Charles Darwin, Karl Marx. Aufgabe der Kunst: Aufdeckung der Kausalzusammenhänge im menschlichen Schicksal.
ab 1882
Dreibund Österreich - Deutschland - Italien
1888
Dreikaiserjahr, Beginn Wilhelms II. (1888-1918)
1890
Entlassung Bismarcks
Tendenzen und Merkmale
Einfluß der Literaturtheorie von Émile Zola (1840-1902): "roman experimental": "Kunst ist nur ein Stück Natur, gesehen durch ein Temperament"; der russischen Realisten Leo Tolstoj (1828-1910), Fjodor Dostojewski (1821-1881); des psychologischen Dramas von Henrik Ibsen (1828-1906): "Nora", "Gespenster", und von August Strindberg (1849-1912): "Fräulein Julie". Prosa vielfach in Reportage- und Dokumentationsstil (Wilhelm Bölsche: "Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie", 1887).
In Deutschland versuchte nach 1880 eine junge Dichtergeneration eine Literaturrevolution. Im radikalen Protest gegen die bestehenden sozialen Verhältnisse wollte sie einer für sie höchst problematischen Wirklichkeit ungeschminkt Ausdruck verleihen. Sie wollte - geprägt von Erkenntnissen der Naturwissenschaft - die Literatur den Fragen der Zeit öffnen.
Die Naturalisten (allen voran Gerhart Hauptmann) wollten keine schönen Kunstwerke schaffen, sondern das Leben ohne verklärende Hülle auch in seiner Häßlichkeit darstellen. Ihre Stoffwahl bestimmte ein sozialer Pessimismus, der mit schonungsloser Wahrheitsliebe das gesättigte Bürgertum angriff. Der Mensch wurde im Naturalismus als Produkt seiner Erbanlagen, seines Milieus und seiner Zeit gesehen.
Drama
Im Schauspiel Versuch der Herstellung von Wirklichkeit auf der Bühne: Alltagsmenschen (Arbeiter, Kleinbürger), Ausgestoßene (Alkoholiker, Kranke, Geistesgestörte). Alltagssprache (Stottern, Stammeln, Dialekt). Analytische Charakterdramen: geringe Personenzahl, ausführliche Bühnenanweisungen, szenische Details; Sekundenstil, Vermeidung des Monologs als "unrealistisch".
Fiktive "vierte Wand" zum Publikum: Schlüssellochperspektive.
Autoren und Werke
Gerhart Hauptmann (1862-1946). Soziale Dramen: "Vor Sonnenaufgang" (1889), „Die Weber“ (1892), "Der Biberpelz" (1893), "Fuhrmann Henschel" (1898), "Rose Bernd" (1903), "Die Ratten" (1911). Novelle „Bahnwärter Thiel“ (1888).
Arno Holz (1863-1929) mit Johannes Schlaf (1862-1941): naturalistische Kunstlehre. Gedichte: "Phantasus" (1898), Schauspiele: u.
a. "Papa Hamlet" (1889), Novellen.
Textbeispiel
Arno Holz: Vorwort zur Komödie "Sozialaristokraten" (1896, Ausschnitte)
Die Sprache des Theaters ist die Sprache des Lebens. Nur des Lebens! Und es versteht sich von selbst, daß damit für jeden [...
] ein Fortschritt in dieser Kunst eingeleitet ist, eine neue Entwicklungs- , nicht bloß Möglichkeit, sondern Notwendigkeit. [...] Ihr Ziel zeichnet sich klar: [..
.] statt des bisher überliefert gewesenen posierten Lebens [...] das nahezu wirkliche zu setzen, mit einem Wort, aus dem Theater allmählich das "Theater" zu drängen [..
.].
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