Neue sachlichkeit (1918-1945)
11. Kapitel
Neue SachlichkeitNeue Sachlichkeit (1918-1945)
Begriff
Unterschiedliche Benennungen, z. B. „Neue Sachlichkeit“, aus der bildenden Kunst übernommen; umstrittene Kennzeichnung einer wirklichkeitsorientierten Richtung gegen den verblassenden Expressionismus. Seit 1920 Begriff "expressiver Naturalismus": intensiv-subjektive Gestaltung in wiedergewonnener Objektivität.
Historischer und politischer Hintergrund
In knapp einer Generation werden schwerwiegende Erschütterungen der politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse sowie der Weltanschauung erlebt; zwei Weltkriege und der Zusammenbruch mehrerer Systeme - des Kaiserreichs 1918, der "ungeliebten" Weimarer Republik ("einer Republik ohne Republikaner") 1933 und der totalitären nationalsozialistischen Diktatur 1945.
Inflation und Weltwirtschaftskrise (6 Millionen Arbeitslose) bereiten im Kleinbürgertum, das die Proletarisierung fürchtet, den Boden für den Führerstaat. Der Kampf zwischen linken (Rotfrontkämpferbund) und rechten (SA) Extremen führt zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen und einer Verachtung des "versagenden" Parteienstaates. Propaganda für eine Revision des "Schandfriedens" von Versailles findet Resonanz.
Nach 1933 äußere oder innere Emigration angesichts antihumaner Politik, rassischer Verfolgung. Bücherverbrennung am 10. 5.
1933: Werke von Bertolt Brecht, Heinrich und Thomas Mann, Arthur Schnitzler, Erich Maria Remarque, Arnold und Stefan Zweig, Carl Zuckmayer u. a. Persönliches Leid, Verfolgungen in der "inneren", Not und Fremdheit in der äußeren Emigration. Die Schuld am Zweiten Weltkrieg, die Mitverantwortung der Mitwissenden für das Unrecht, das Versagen einer idealistischen Kultur angesichts von Brutalität und Perfektion des Verbrechens werden zentrale Themen der Literatur; ihre Aufarbeitung ist ein Versuch, nach Krieg und Zusammenbruch geistig zu überleben.
9.11.
1918
1919
Ausrufung der Republik
Frieden von Versailles
1918
Österreich: Ende der Monarchie
1919-1934
Deutschland: Weimarer Republik
12.11.1918-1934
Erste Republik (Ö)
1923
1929
Höhepunkt der Inflation
Börsenkrach (Weltwirtschaftskrise)
15.7.1927
Brand des Justizpalastes (Ö)
ab 1933
10.5.
1933
Herrschaft der Nationalsozialisten (D)
Bücherverbrennung
12.2.1934-1938
25.7.1934
autoritärer Ständestaat
Ermordung von Dollfuß
1935
Nürnberger Gesetze gegen die Juden
1936-1939
Spanischer Bürgerkrieg
1942
Richtlinien für die „Endlösung" der Judenfrage
12.3.
1938
„Anschluß“ (Ö)
1939-1945
Zweiter Weltkrieg
20.7.1944
mißglücktes Attentat auf Hitler
8.5.1945
bedingungslose Kapitulation
1945
Abwurf der Atombombe über Hiroshima
Geistesgeschichtlicher Hintergrund
Erneut Fragen nach dem Sinn des Seins: Existenzphilosophie von Martin Heidegger (1889-1976), Karl Jaspers (1883-1969). Der Mensch ist sich selbst und dem Sein entfremdet, ins Nichts gestoßen, bindungslos.
Daher Suche nach neuer Orientierung in gesellschaftlichen Ideologien und Utopien und religiöser Besinnung; Einfluß der "Angstphilosophie" Sören Kierkegaards (1813-1855).
Tendenzen und Merkmale
Roman
Einfluß der Visionen in Kafkas Romanen, vor allem von Thomas Manns psychologischer Erzählweise mit seiner leitmotivischen Grundstruktur. Der Roman wird zur wichtigsten literarischen Gattung, hier findet eine "Bilanzierung" des Zeitalters statt (z. B. Heinrich Mann: "Ein Zeitalter wird besichtigt"). Der große historische Roman gibt die Möglichkeit, im Exil Aufschluß über die eigene historische Situation zu gewinnen (H.
Mann: "Henri Quatre"). Thomas Mann verbindet Gegenwart und fiktive Vergangenheit in seinem "Doktor Faustus".
Episches Theater
Brechts episches Theater ist Lehrtheater, Überwindung des Illusionstheaters. Sein Verfremdungseffekt zerstört die Illusion einer Identifikation mit dem Geschehen auf der Bühne und macht den Zuschauer zum kritischen Beobachter. Die Figuren sind "Niemand"- oder "Jedermann"-Gestalten mit parabolischer Bedeutung. Verschmelzung von Realität und Irrealität, Verwendung von Alltagssprache, Anspielungen, Untertreibung, Zuspitzung auf Modell und Exempel.
Erwin Piscator inszeniert das Agitationstheater (Agitprop).
Autoren und Werke
Thomas Mann (1875-1955): Novelle: „Der Tod in Venedig“ (1912), Roman: "Der Zauberberg" (1924), "Joseph" (1933-1943); "Doktor Faustus" (1947).
Hermann Hesse (1877-1962): Romane: "Siddharta" (1922), „Der Steppenwolf“ (1927), "Das Glasperlenspiel" (1943).
Alfred Döblin (1878-1957), Facharzt für Nervenleiden: Erzählungen, u. a. "Ermordung einer Butterblume" (1913), Großstadtroman „Berlin Alexanderplatz“ (1929).
Bertolt Brecht (1898-1956): Stücke: "Dreigroschenoper" (1928), "Die heilige Johanna der Schlachthöfe" (1930), "Die Gewehre der Frau Carrar" (1937), "Furcht und Elend des Dritten Reiches" (1938), „Leben des Galilei“ (1939), "Der gute Mensch von Sezuan" (1943).
Erich Kästner ():"Fabian" ().
Erich Maria Remarque (): „Im Westen nichts Neues“ ().
Carl Zuckmayer (1896-1977): Schauspiele: "Der Hauptmann von Köpenick" (1931), "Des Teufels General" (1946).
Österreich:
Hermann Broch ():Roman: Schlafwandler-Trilogie ().
Robert Musil (1880-1942): Roman: "Der Mann ohne Eigenschaften" (1930-1943).
Joseph Roth (): Roman: "Radetzkymarsch" ().
Ödön von Horváth (1901-1938): Stücke: "Italienische Nacht" (1931), „Geschichten aus dem Wienerwald“ (1931), "Kasimir und Karoline" (1932). Roman: "Jugend ohne Gott" (1937).
Franz Werfel (): Roman: "Die vierzig Tage des Musa Dagh" ().
Stefan Zweig (1881-1942): Autobiographie "Die Welt von gestern" (1943).
„Innere Emigration“
Werner Bergengruen ():“ ().
Ernst Jünger ():"Auf den Marmorklippen" ().
Exilliteratur
antifaschistische Zeitromane:
Heinrich Mann (1871-1950): Romane: "Henri Quatre" (1935 und 1938). Autobiographie: "Ein Zeitalter wird besichtigt" (1945).
Anna Seghers (): Roman: "Das siebte Kreuz" ().
Carl von Ossietzky (1889-1938) und Jura Soyfer (1912-1939): im KZ ermordet.
NS-Literatur
„Blut und Boden“, historische Romane, Propagandalyrik
Alfred Rosenberg (1893-1946)
Textbeispiel
Bertolt Brecht An die Nachgeborenen (III, 1933/38)
Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut
in der wir untergegangen sind
gedenkt
wenn ihr von unsern Schwächen sprecht
auch der finsteren Zeit
der ihr entronnen seid.
Gingen wir doch, öfter als die Schuhe die Länder wechselnd
durch die Kriege der Klassen, verzweifelt
wenn da nur Unrecht war und keine Empörung.
Dabei wissen wir doch:
Auch der Haß gegen die Niedrigkeit
verzerrt die Züge.
Auch der Zorn über das Unrecht
macht die Stimme heiser. Ach, wir
die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit
konnten selber nicht freundlich sein.
Ihr aber, wenn es so weit sein wird
daß der Mensch dem Menschen ein Helfer ist
gedenkt unserer
mit Nachsicht.
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