Bertolt brecht: mutter courage und ihre kinder. eine chronik aus dem dreißigjährigen krieg. ein kritisches volksstück
Bertolt Brecht: Mutter Courage und ihre Kinder. Eine Chronik aus dem Dreißigjährigen Krieg. Ein kritisches Volksstück
1938/39 im dänischen Exil geschrieben, 1941 Zürich, 1949 Ostberlin
Das Stück ist unter dem Eindruck des erwarteten bzw. beginnenden Hitlerkrieges entstanden und war in erster Linie an jene Kräfte in Europa gerichtet, die glaubten, sich aus dem Krieg heraushalten, aber durch ihn ins Geschäft kommen zu können. Freilich weist das Stück weit über diesen Appell hinaus und richtet sich gegen die ewige Geschäftemacherei im Gefolge eines Krieges (..
.der Krieg geht noch ein bissel weiter, und wir machen noch ein bissel Geld, da wird der Friede um so schöner; S. 68; Es heißt, er (der Krieg) vertilgt die Schwachen, aber die sind auch hin im Frieden. Nur der Krieg nährt seine Leute besser, S. 75)
Will vom Krieg leben/ Wird ihm wohl müssen auch was geben, S.19) meint der Feldprediger zu Mutter Courages Angst um ihren Sohn Eilif und deutet zugleich auf das unerbittliche Ende: Courage hat alle drei Kinder an den Krieg verloren, spannt sich aber nun selbst vor den Wagen und meint: Ich muß wieder in’n Handel kommen, S.
107.
Das Stück ist auch ein Drama des Mitäufers. Ob Mitläufer oder nicht, immer müssen die Kleinen sogar die Siege des eigenen Lagers mitbezahlen
(C: Ich hab nur Verluste von eure Sieg.)
So ist das Stück aus der Sicht des kleinen Mannes, des einfachen Volkes geschrieben. Mit seiner bayrischen Mundart-Einfärbung weist es auf das Volkstheater, ohne dadurch “volkstümelnd” sein zu wollen.
1940 nennt Brecht das Drama ”Volksstück”, nimmt diese Klassifizierung später aber zurück.
Wohl entstammen Figur und historischer Kontext der Courage der volksstückhaften Vorlage von Grimmelshausen (“Lebensbeschreibung Der Ertzbetrügerin und Landstörtzerin Courasche”, 1670), die Behandlung des Stoffes bei Brecht zielt aber in eine ganz und gar andere Richtung.
Die Courage wird zur tragischen Figur, die - einerseits Marketenderin, andererseits Mutter - durch die Zeitumstände und ihre eigene Widersprüchlichkeit ins Verderben gezogen wird. Über dem ganzen Stück liegt die Spannung zwischen Geschäftigkeit und Mutterliebe. Die notwendige (im Sinne von “Not wendende”) Geschäftigkeit der Marketenderin bildet die Grundlage für die allein erziehende Mutter und korrumpiert diese zugleich. Besonders tragisch tritt dieser Umstand im Feilschen um das Lösegeld für ihren zuletzt verlorenen Sohn Schweizerkas zutage. Andererseits schlägt die Courage das Angebot des Kochs auf eine Bleibe aus Liebe zu ihrer Tochter Kattrin aus.
Diese ambivalente Haltung der Protagonistin verleiht ihr die eigentliche Tragik, sichert ihr unser Interesse und Mitgefühl.
Aber auch die politischen Einsichten und Überzeugungen werden angesichts des Krieges und der Not zu überleben korrumpiert (Feldprediger).
Mutter Courages Kritik an der Ideologie bedient sich einer demaskierenden Sprache. Sie stellt sich dumm, um jene bloß zu stellen, die sie kritisieren will. Mir tut so ein Feldhauptmann oder Kaiser leid, er hat sich vielleicht gedacht, er tut was übriges und was, wovon die Leute reden, noch in künftigen Zeiten, und er kriegt ein Standbild, zum Beispiel er erobert die Welt ..
. Kurz, er rackert sich ab, und dann scheiterts am gemeinen Volk, was vielleicht ein Krug Bier will und ein bissel Gesellschaft, nix Höheres, S.65.
Brecht kehrt die Werte in ihr Gegenteil, wenn er ironisch den Feldprediger philosophieren läßt: Man merkts, hier ist zu lang kein Krieg gewesen. Wo soll da Moral herkommen, frag ich? Frieden, das ist nur Schlamperei, erst der Krieg schafft Ordnung..
. Nur wo Krieg ist, gibts ordentliche Listen und Registraturen, kommt das Schuhzeug in Ballen und das Korn in Säck... S.7f.
In der Figur des Feldpredigers verbindet sich die Kritik an der Anpassungsfähigkeit der Kirche mit den Machthabern. Er spricht vom reinen Glaubenskrieg, der Gott “wohlgefällig” ist. “In dem Krieg fallen, ist eine Gnad” (S.34). Der Friede erscheint ihm als “Pause zwischen den Kriegen”, er fühlt sich “jetzt in Gottes Hand” (40), wenn er seinen geistlichen Rock und die Fahne wechselt, um zu überleben.
Brecht läßt seine Figuren verschlüsselt sprechen.
Der Zuschauer/Leser muß ständig auf Finten gefaßt und hellhörig für Kritik sein.
Vor allem in den Songs (erstmals in der “Dreigroschenoper”) treten die Figuren aus ihrer kausalen Handlungsabfolge und weiten den Blick des Hörers für den tieferen Sinn der Szenen und deuten darüber hinaus. Die Lieder bringen Fragen zum Verhältnis des einzelnen und der Gesellschaft ins Spiel, die in der Szene gar nicht thematisiert werden, decken Widersprüche auf, die nicht beantwortet werden. So bietet sich das Thema der Kapitulation (Lied von der großen Kapitulation, S.58f.) im Lied in einer widerspruchs= vollen Komplexität dar, wodurch der Zuschauer in seiner Reflexion weit über die Szene hinausgeführt wird.
Wie überhaupt der Zuschauer sich oft in der Rolle eines kritisch argumentierenden Gegenspielers findet.
Wenn im Lied vom König Salomon (S. 93f.) gegen die Tugenden angesungen wird, die Courage oft “unmoralisch” handelt, eine kalte, abweisende Welt vorgeführt werden, so bildet die “Kontrafigur” Kattrin einen Gegenpol. Sie, die zwar stumm ist, aber mit dem Herzen spricht, nimmt als einzige ihre Verantwortung wahr. Mit ihrer Trommlerei rettet sie die Stadt Halle vor dem sicheren Untergang, verliert aber wissend das eigene Leben.
Wenn eine Figur in diesem Stück tragisch ist, dann Kattrin. In ihr verbinden sich alle Tugenden: Selbstlosigkeit, Hilfsbereitschaft, Mut.
Mit dieser Figur hat Brecht eine Gegenfigur zur Mutter geschaffen.
Brecht meint in seinen Anmerkungen zum Stück, daß er am Ende nicht die Figur der Courage sehend machen wollte, sondern es darauf ankomme, daß der Zuschauer “sieht”.
Dabei liegt es Brecht fern, eine Heldenfigur zu schaffen. Immer steht Kattrin in Kontrast zu ihrer Mutter.
Anfangs erfolglos, sie kann ihre Mutter nicht durch Warnlaute davon überzeugen, ihren Sohn Eilif zurückzuhalten, später hält sie es an der Seite der Mutter nicht mehr aus, als diese um das Leben des Bruders feilscht, und läuft weg. Schließlich bedroht sie ihre Mutter mit einer Holzplanke, als diese das Verbandszeug nicht herausrücken will. Zuguterletzt rettet sie einen Säugling aus den Trümmern.
Die Courage aber bleibt unbelehrbar, unwissend. Bis zum Schluß weiß sie nichts vom Tod Eilifs. Am Ende des Stückes zieht sie - all ihrer Kinder beraubt -, sich selbst vor den Wagen spannend, los, Eilif zu suchen.
Ich muß wieder in Handel kommen S.107.
Der Planwagen, der zu Beginn eine vierköpfige Familie vereinigte, rollt jetzt in einen “hundertjährigen”, also endlos scheinenden Krieg. Das Motiv der Unbelehrbarkeit der Courage setzt sich fort.
Was im traditionellen Volksstück als Tendenz der Läuterung der Figuren am Schluß bezeichnet werden könnte, findet hier bei Brecht einen Gegenentwurf.
Sein “kritisches Volksstück” behält eine gewisse Beunruhigung über das Stück hinaus aufrecht.
Der Zuschauer soll nicht der Illusion erliegen, daß am Ende alles ins Lot kommt, quasi seinen Ausgleich findet.
Brechts Dramturgie will nachhaltig wirken, will aufrühren, will konfrontieren, nicht beschwichtigen.
Dieser Dramturgie dienen die Verfremdungsmittel: Szenen werden bloß aneinandergereiht, ohne feste Verbindung; Raum - und Zeitsprünge zerstören eine durchlaufende Entwicklung; auf eine Leinwand projizierte Texte (Titel) zerstören Spannung und Erwartungshaltung; das Heraustreten der Figuren demaskiert das Spiel, durchkreuzt eine Identifikation, lenkt den Blick auf die eigene Wirklichkeit, die bei Brecht veränderbar gedacht wird.
Im Zentrum Brechts Dramaturgie steht der veränderliche Mensch, der sich am Dargestellten reibt, in Opposition dazu tritt, Entscheidungen trifft und Haltungen einnimmt.
Der Zuschauer soll lernen! Er soll sich nicht vom “Was” der Handlung verführen lassen, sondern sich auf das “Wie” konzentrieren können und dazu in kritische Distanz gehen. Nur so könne Gewinn aus dem Theater gezogen werden.
Quellennachweis
Bertolt Brecht: Mutter Courage und ihre Kinder. Eine Chronik aus dem Dreißigjährigen Krieg. Ein kritisches Volksstück, Frankfurt: Suhrkamp 1963, 108 S.
Bertolt Brecht und das epische Theater. In: Stichwort Literatur. Geschichte der deutschsprachigen Literatur, Linz: Veritas-Verlag 1993, S.
329-335.
Steinbach, Dietrich (Hrsg.): Materialien Bertolt Brecht: Mutter Courage und ihre Kinder, Stuttgart: Klett-Verlag 1984, 39 S.
Walter Hinck: “Mutter Courage und ihre Kinder”: Ein kritisches Volksstück. In: Walter Hinderer (Hrsg.): Brechts Dramen.
Neue Interpretationen. Stuttgart: Reclam 1984, S.162-177.
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