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  Zeit der schuldlosen

        Siegfried LENZ           Zeit der Schuldlosen               Buchbesprechung von Florian Katzinger                   Enns, am 8. Juni 1997 im Rahmen des Deutschunterreichtes am BORG Perg      Der Autor   Siegfried Lenz wurde am 17. März 1926 in Lych in Ostpreußen geboren. Nach dem Krieg aus seiner Heimat vertrieben, studierte Lenz Literatur, Anglistik und Philosophie. Lenz widmete sich dann dem Schreiben und lebt seit 1951 als freier Schriftsteller. Lenz ist einer der renommiertesten Nachkriegsautoren, dessen Erfolg vor allem in der Gegenwartsbezogenheit seiner Werke begründet ist.

    Das Werk   Aus den beiden Hörspielen “Zeit der Schuldlosen” und “Zeit der Schuldigen” entstand das vielbeachtete und auch verfilmte Politdrama “Zeit der Schuldlosen”. Lenz versetzt seine Figuren in Eine Extremsituation, in der ihnen nur die Alternative zwischen dem eigenen Untergang und dem Verrat an anderen bleibt. In diesem Werk bestimmen nicht die Charaktere den Verlauf des Geschehens, sondern diese erscheinen von der Situation bestimmt. Es kommt zur Probe und zur Frage ‚Was kann man aus dem Menschen machen?‘ In einem Selbstkommentar sagte Lenz: “Ich dachte mir eine Lage aus, in der Schuldlosigkeit, die durch schweigende Billigung und Wegsehen erkauft war, auf eine Härteprobe gestellt und widerlegt wird [...

] Ich wollte herausbekommen uns selbst verstehen lernen, wie weit Schuldlosigkeit nur ein Glücksfall ist und unter welchen Bedingungen sie in ihr Gegenteil umschlägt.”     Der Inhalt   Auf Befehl des Diktators werden neun schuldlose Männer solange in Haft gehalten, bis sie an Attentäter Sason zum Verrat seiner Mitgeschworenen gezwungen oder ihn selbst im Dienste der Obrigkeit umgebracht haben. Der Diktator überlässt es Schuldlosen zu tun, was er für richtig hält –zu töten. Von der Straße weg werden die Männer festgenommen und bleiben solange in Haft bis der Fall Sason geklärt ist; eher kommen sie nicht frei. Hunger, Durst, Geschäfte und Familie drängen die Gefangenen ins Leben zurück. Nur der Student und der Konsul bewahren den gefolterten Sason vor den anderen, die immer ungestümer auf das Recht ihrer Mehrheit pochen, da sie nun schon zwei Tage ohne Wasser und Essen eingesperrt sind.

Auch die brutalsten Misshandlungen des Lastwagenführers gegen Sason haben keine Erfolge, Sason verrät seine Freunde nicht. In stumpfer Gleichgültigkeit schlägt der Wächter jedem, der sich dem Gitter nähert, seine Peitsche entgegen. Um den Attentäter Sason vor den anderen zu schützen, richten der Student und der Konsul eine Nachtwache ein. Als aber ein Wachender einige Minuten einschläft, wird Sason erwürgt. Keiner weiß wer es war, aber der Diktator, der sie eingeschlossen hat lässt alle frei, denn die Schuldlosen haben ihre Aufgabe ganz im Sinne des Diktators gelöst. Vier Jahre später haben die Mitgeschworenen von Sason die Macht errungen, den Diktator beseitigt und wollen nun herausfinden, wer damals Sanson tötete.

Die Schuldlosen von damals werden in einem Raum eingeschlossen und dürfen diesen erst verlassen, wenn sie den Schuldigen gefunden haben. Die Männer beschuldigen sich gegenseitig , während sie die Vorgänge der Mordnacht rekonstruieren. Der Student zeigt sich den anderen als Richter, der sich einst den Mitgeschworenen von Sason anschloss. Die Männer dürfen, bei voller Straflosigkeit auf denjenigen schießen, den sie für den Schuldigen halten. Kleinlaut legen sie den Revolver zurück. Der Bauer will die Schuld aller übernehmen und drängt ihnen sein Geständnis auf, das von den anderen gierig aufgenommen wird.

Bei der Abstimmung über den Schuldigen gibt die Mehrheit ihm das “Schuldig!”     Der Student wendet sich langsam, unentschieden an den Bauern, alle sehen zu. Alle spüren die Not, den Widerstreit des Studenten. Niemand achtet auf den Revolver. Der Konsul nimmt ihn beiläufig vom Tisch, tritt abseits. Student: Und du selbst? Bauer: Ja, Herr? Student: Du hast die Schuld auf dich genommen. Wir haben es alle gehört.

Aber es ist etwas andereres: die Schuld auf sich nehmen – oder schuldig zu sein. Jetzt muss ich dich noch einmal fragen: wen von uns hältst du für schuldig? Ein Schuss fällt: alle drehen sich blitzschnell um, sehen den Konsul zusammenbrechen, stürzen auf ihn zu, umgeben ihn. Der Arzt bemüht sich um ihn. Hotelier: Konsul, um Gottes willen – was haben sie getan! Arzt: Es ist zu spät. Er hat sich in den Mund geschossen. Der Artzt richtet sich auf.


Er ist tot. Erregtes, doch lautloses Verhalten. Der Student steht abseits. Lastwagenfahrer: Warum? War er es? Hat er es getan? Der Student beobachtet reglos und mit souveräner Kälte die Männer, von denen sich jetzt einige zu ihm umwenden. Student: Die Abstimmung ist beendet. Ich nehme mir die Stimme des Richters zurück.

Bauer: wie konnte es nur geschehen, Herr? Er nahm den Revolver und schoss. Warum, warum? Student: Er starb für seinen Zweifel. Er war von deiner Schuld nicht überzeugt. Er wollte durch seinen Tod etwas verhindern, was er nicht ertragen hätte. Bauer: Ich vertehe es nicht, Herr. Student: Du wirst es eines Tages verstehen.

Bankmann: Es ist bedauerlich, aber was geschieht denn nun? Student: Die Tat ist gebüsst. Leise, resigniert. Sie können gehen. Sie sind frei. Pause. Er, der dort liegt, hat Ihnen verholfen frei zu sein.

Aber es gibt etwas, wozu er Ihnen nicht verhelfen kann: frei zu sein von Schuld. Gehen Sie, nur zu, gehen Sie: die Tat ist gebüsst, aber die Schuld wir unter uns bleiben. Warum zögern Sie? Die Welt steht Ihnen offen.     Personencharakteristik   Sason   Sason ist der Attentäter, der mit seinen Mitgeschworenen einen Putsch gegen den Diktator versuchte. Daher wollte der Diktator durch Folterung erreichen, dass er die Namen seiner Freunde und verbündeten preisgibt. Da er aber mit Folterung keinen Erfolg hatte, überlässt er ihn den neun Schuldlosen, die dasselbige herausfinden oder andernfalls ihn töten sollen, falls sie wieder frei sein wollten.

Sason selbst sagt, er habe das Attentat im Namen eines besseren Lebens und im Namen des Gewissens getan. Aber auch die logische Mehrheit der neun Schuldlosen gegen ihn veranlässt ihn nicht seine Freunde zu verraten. Denn so meint er, sei im Namen der Logik noch nie Blut geflossen und darum rechtfertigt sie nichts. Ausserdem hält er ihnen vor, dass sie sich immer nur auf das Zahlenverhältnis stützen, er aber nicht gewillt ist die Millionen Menschen, die unter der Diktatur leiden, zu enttäuschen. Er werde nicht seine Freunde verraten und er wird sich nie dem Diktator beugen oder für ihn arbeiten. Diese feste Überzeugung führt auch zu seinem Tod, dessen er sich voll bewusst ist.

    Die anderen Schuldlosen   Sie haben alle keinen Namen, sondern sind nach ihren Berufen benannt. Womit ganz beliebige Menschen gemeint sein könnten. Ganz im Gegensatz zum Attentäter Sason. Ich will aber nur bei einigen ihre Charaktere und Verhaltensweisen in dieser Extremsituation andeuten. Zum Beispiel der Lastwagenfahrer, der in seiner primitiven Art versucht, mit Gewalt aus Sason die Namen herauszuprügeln, aber ohne Erfolg. Beim Arzt muss ich erwähnen, dass er Sason anfangs gepflegt und geschützt hat, dann aber nachdem er ihm erklärt hat, dass er unbedingt nach Hause müsse um seine Forschung weiterzubetreiben und so vielleicht Menschenleben retten könne, erklärte Sason dem Arzt, dass man nicht das Leben des Einen durch den Tod eines anderen rechtfertigen könne.

Darauf hin gibt auch der Arzt die Hoffnung auf, dass diese Situation ohne Tod gelöst werden kann. Zu allen Schuldlosen muss man aber auch sagen, dass sie vor dieser Situation und gleich nachdem sie wieder frei waren (indirekt) dem Diktator ihre Dienste erwiesen haben. Ausgenommen der Bauer, der Student und der Konsul.     Der Diktator   Er steht in Vertretung für die Politik und für Lenz erscheint die Angst als die wichtigste (literarische) Erscheinungsform der Politik. Denn an der Ratlosigkeit und Verzweiflung der Individuen durch die Angst soll deutlich werden, in welch starkem Maße das politische Geschehen den Handlungsspielraum bzw. die Freiheit des Einzelnen einengt.

Der Konsul und der Student erkennen als einige, dass wenn man gegen den Diktator protestiert, ihm nur einen Gefallen macht. Dadurch fühlen sie sich auf das Beste bestätigt.     Der Student   Er ist einer, der immer auf der Seite des Attentäters ist. Denn er erkennt, dass nicht Sason der Schuldige ist, sondern der Diktator. Mit dem Unterschied, dass Sason dies schon vorher bemerkte und sich gegen dieses diktatorische System wehrte. Der Student erkennt auch, so wie der Konsul, dass Schuld gleich Schuld ist.

Diese lässt sich weder ausrechnen noch wegargumentieren. Die Abwägung des Verhältnis 9:1 überzeuge nicht, denn es gibt keine Maßeinheit für Schicksale und Schuld lässt sich nicht im Prozenten ausdrücken. Der Student ist einer der ersten, der erkennt, dass man den Attentäter schützen muss und richtet mit dem Konsul eine Wache ein, denn der Student verspürt, dass sich ein Mord gegen Sason anbahnt, was dann ja auch eintrifft. Nach seiner Freilassung schließt sich der Student, den Verbündeten von Sason an. Nach dem Sturz des Diktators ist der Student Richter geworden und weist die ehemaligen Unschuldigen darauf hin, dass damals alle ein geistiges Verbrechen begangen hatten, aber nur einer von ihnen dieses vollzog. Wer es versäumt zu handeln, ist keinesfalls frei von Schuld.

Niemand erhält seine Reinheit durch Teilnahmslosigkeit. Es muss sich jeder einzelne entscheiden, ob er weg schaut und trotzdem schuldig bleibt oder ob er protestiert und sich opfert.     Der Bauer und der Konsul   Der Konsul ist jene Person, die allen anderen geistig überlegen ist, alles richtig erkennt und die anderen Charaktere an die Wand stellt. Er versucht vergeblich, seine Mithäftlinge von ihrer Schuld zu überzeugen. Der Bauer und der Konsul sind zwei Personen, welche ausserhalb der bürgerlichen Gesellschaft stehen und ein eigenes Gewissen haben. Der Bauer bietet sich als Opfer an, weil er sich mitschuldig fühlt und stellt sich als der Mörder Sasons zur Verfügung.

Der Konsul aber, welcher Zweifler und Intellektueller ist kann dieses Opfer des Bauers nicht verstehen und begeht Selbstmord. Wer die Schuld auf sich nimmt muss aber nicht unmittelbar der Täter sein. Der Konsul und der Bauer machen die bestehende Schuld zu ihrer eigenen und berufen sich auf ihre letzte Instanz, ihr Gewissen.       Interpretation   Lenz zeigt in diesem Werk das Thema von Terror und schuld anhand einer extremen Situation auf, in der man nur zwischen Selbstopfer und Schuld wählen kann. Der Autor unterwirft seine Figuren einer gewissen Bewährungsprobe um zu erforschen, ob und wie die Menschen bestehen. Es verhält sich aber nicht so, dass jene welche wegblicken oder nicht zur Tat schreiten frei von Schuld sind.

Denn sowohl Handlung als auch Gleichgültigkeit ziehen Schuld nach sich. Der handelnde Mensch ist schuldig, weil seine Tat schuldig macht. Der nicht handelnde Mensch ist zwar vor dem Gesetz unschuldig, aber in der Freiheit seines Gewissens durch Mangel an Engagement. Art und Höhe der Schuld werden durch die innere Einstellung bestimmt. So wird das allmähliche Versagen und langsame “Umfallen” der Schuldlosen überzeugend dargestellt, denn sie Klagen den Attentäter derselben Punkte an, dessen sie selber schuldig sind und berufen sich immer wieder auf ihr Zahlenverhältnis und denken, dass sich die Minderheit der Mehrheit beugen soll. Im zweiten Akt tauchen auch Verbindungen zur Entnazifizierung auf, die sich immer auf die kollektive Schuld beruft.

Die Rechtfertigungsversuche der Figuren gehen in die Behauptung über, dass ja eigentlich der frühere Diktator die Schuld an allem trage; aber dies ist eine Spezialität unseres Jahrhunderts, dass man die Schuldfrage gerne auf die Unfreiheit unter totalitären Regimen abschiebt. Aber dieses Argument wird sofort zurückgewiesen, denn einen “Mörder aus Gehorsam” oder “Mord unter gewissen Bedingungen” zählt hier nicht. Das Gerede von Kollektivschuld verdeckt nur das eigentliche Problem, dass sich nämlich keiner vor dem Schuldbewusstsein und seinem eigenen gewissen rechtfertigen kann.    

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