Gliederung
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung 1II. Frank Wedekinds Stück „Frühlings Erwachen“ und seine Kritik an den Erziehungsnormen 2A. Erziehungsnormen im ausgehenden 19. Jahrhundert 21. Schulische Erziehung 22.
Häusliche Erziehung 43. Religiöse Erziehung 54. Sexualerziehung 5B. Wirkung der Erziehung auf die Jugendlichen 6C. Wedekinds Verständnis von Sexualität in „Frühlings Erwachen“ 7D. Erziehungskritik Wedekinds in seinem Stück „Frühlings Erwachen“ 91.
Kritik Wedekinds an der schulischen Erziehung 92. Kritik Wedekinds an der häuslichen Erziehung 123. Kritik Wedekinds an der Sexualerziehung 16E. Folgeerscheinungen der Erziehung bei den Jugendlichen 191. Familiäre und persönliche Entfremdung 202. Hemmung der emotionalen Entwicklung 203.
Hemmung der kognitiven Entwicklung 21F. Stilistik 211. Rhetorische Stilhaltung 222. Satirische Stilhaltung 223. Metaphorische Stilhaltung 234. Ironische Stilhaltung 245.
Atmosphärische Stilhaltung 246. Schutzlosigkeit der Jugendlichen 25G. Schlussbetrachtung: Aktualität der Thematik 25III. Literaturverzeichnis 26A. Primärliteratur 26B. Sekundärliteratur 26IV.
Erklärung 28
Einleitung
Frank Wedekinds Stück „Frühlings Erwachen“ setzt einen Meilenstein in der literarischen Aufarbeitung erziehungskritischer Fragen. Kaum einer seiner Zeitgenossen hat die Missstände der wilhelminisch-bürgerlichen Erziehung früher, unverblümter und schärfer angeprangert, kaum einer hat so deutlich eine offenere Sexualaufklärung der Jugend eingefordert. Dabei entspringt das dramatisch entfaltete Geschehen unmittelbar der eigenen Erfahrungswelt des Autors. Wedekind versichert:
Der Plan entstand nach der dritten Szene und setzte sich aus persönlichen Erlebnissen oder Erlebnissen meiner Schulkameraden zusammen. Fast jede Szene entspricht einem wirklichen Vorgang.“
Es gab also keine direkte Absicht, eine erziehungskritische Schrift zu verfassen, vielmehr die „Absicht zu schreiben, was [ihm] Vergnügen macht.
“ (ebd.) Wedekinds 1891 publizierte (Uraufführung 1906) ‚Kindertragödie’ macht schnell Schule. 1893 folgte Max Halbes ‚Liebesdrama’ „Jugend“, 1894 Gerhart Hauptmanns „Hannele(s Himmelfahrt)“ und Henrik Ibsens „Klein Eyolf, 1895 „Wie ein Strahl verglimmt“ von Kurt Martens. Auch einzelne Elemente von „Frühlings Erwachen“ wie beispielsweise die satirische Lehrerkonferenzszene galten anderen Schriftstellern seiner Zeit als Vorlage. Darüber hinaus wurde schulkritische Prosa wie Emil Strauß’ „Freund Hein“ (1902) und Hermann Hesses Roman „Unterm Rad“ (1906) unmittelbar durch die Thematisierung der Erziehungsproblematik „Frühlings Erwachen“ angeregt. Der Mut und die Fähigkeit Wedekinds, in seiner Kindertragödie die aktuelle pädagogische Situation erstmals rückhaltlos ehrlich zu gestalten, kennzeichnet die historische Bedeutung des Stückes.
Die vorliegende Arbeit soll Wedekinds kritische Sicht der Erziehungsproblematik untersuchen, wobei von der Darstellung der Erziehungsnormen des ausgehenden 19. Jahrhunderts ausgehend eine detaillierte Analyse seiner Erziehungskritik im Werk und den daraus resultierenden Folgeschäden bei der Jugend erarbeitet wird. Eine Stilistikanalyse des Werkes schließt den Hauptteil der Arbeit ab. Dabei soll der Frage nachgegangen werden, wie es Wedekind gelingt, den Leser direkt, unmissverständlich und wirkungsvoll auf die Problematik autoritärer Erziehung hinzustoßen. Dieses vielschichtige und aussagekräftige Stück bietet darüber hinaus natürlich weitere Themenkomplexe, wie beispielsweise die Bedeutung des ‚vermummten Herrn’, die Rezeptionsgeschichte, die Bezugnahme Wedekinds auf andere literarische Werke sowie unterschiedliche Interpretationsansätze. Die vorliegende Arbeit geht auf diese Themenbereiche nicht ein.
Sie besteht aus einer Verbindung eigener Gedanken und Sichtweisen sowie Analyseansätzen von Literaturwissenschaftlern, deren Bewertung in vielen Aspekten miteinander übereinstimmt, in anderen wiederum differiert. Die Frage nach der Aktualität der Thematik wird im Schlussteil die Arbeit abrunden.
Frank Wedekinds Stück „Frühlings Erwachen“ und seine Kritik an den Erziehungsnormen
Erziehungsnormen im ausgehenden 19. Jahrhundert
Um die Kritikpunkte Wedekinds an der Erziehungspraxis in Schule und Elternhaus, die er in seinem Stück „Frühlings Erwachen“ zum Ausdruck bringt, besser verstehen zu können, ist es zuerst notwendig, die pädagogische Situation im ausgehenden 19. Jahrhundert mit all ihren Erziehungsansichten und –normen vor Augen zu führen. Autoritätshörigkeit, Unterordnung und Kritikverbot, drei Grundsätze der damaligen Erziehung sollen nun im Vorfeld erläutert werden, bevor auf spezifische Aspekte der Erziehung (schulisch, häuslich, religiös, sexuell) im Detail eingegangen wird.
Diese Grundsätze stellen die Grundlage der Erziehung der Jugend dar und begründen so jede weitere Erziehungspraxis dieser Jahre. Zum Einen galt „alles, was uns heute als beneidenswerter Besitz erscheint, die Frische, das Selbstbewusstsein, die Verwegenheit, die Neugier, die Lebenslust der Jugend [...] jener Zeit, die nur Sinn für das ‚Solide’ hatte, als verdächtig.“ Alles Bestehende in Staat und Gesellschaft war als das Vollkommene, in alle Ewigkeit Gültige zu respektieren; Widerspruch oder Kritik standen der Jugend nicht zu, die Autorität war unanfechtbar.
Zum Anderen war darauf zu achten, „dass junge Leute es nicht zu bequem haben sollten.“ Vollkommene Fügsamkeit wurde den Heranwachsenden, die „im Leben noch nichts geleistet hatten“, als Erstes abverlangt, bevor sie in den Genuss irgend welcher Rechte kommen würden. Leistung gewährte das Existenzrecht, untertänigste Dankbarkeit für alles gnädig Zugestandene wurde von den Unmündigen erwartet.
Schulische Erziehung
Vor einem Jahrhundert kam der Schule eine andere Erziehungsfunktion zu. Zucht und Ordnung mit diversen Strafen (physisch wie psychisch) waren Mittel, um die nötige Disziplin im Sinne der beiden Erziehungsnormen durchzusetzen. Durch diesen Drill, der in den Schulen herrschte, wurden die Schüler in ihrem Charakter stark geprägt.
Stefan Zweig erinnert sich an seine Schulzeit:
„Fünf Jahre Volksschule und acht Jahre Gymnasium mussten auf hölzerner Bank durchgesessen werden, täglich fünf bis sechs Stunden, und in der freien Zeit die Schulaufgaben bewältigt und überdies noch, was die ‚allgemeine’ Bildung forderte neben der Schule, Französisch, Englisch, Italienisch, die ‚lebendigen’ Sprachen neben den klassischen Griechisch und Latein – also fünf Sprachen zu Geometrie und Physik und den übrigen Schulgegenständen. Es war mehr als zuviel und ließ für die körperliche Entwicklung, für Sport und Spaziergänge fast keinen Raum und vor allem nicht für Frohsinn und Vergnügen.“
In seinen „Schulgesetzen“ schrieb der Pädagoge Heiligbrunner die wichtigsten der Regeln für einen reibungslosen Schulbetrieb nieder. Neben Tugenden wie Pünktlichkeit, Sauberkeit, Ordnung, Höflichkeit, Aufmerksamkeit, Frömmigkeit, Gehorsam und Wahrheitsliebe heißt es: „Wenn ein Schüler gestraft wird, so widersetze er sich der Strafe nicht, sondern
bedenke, dass Strafen zur Aufrechterhaltung der Schulordnung und zur Besserung des Fehlenden notwendig sind [...
]. Nach geendigter Schule sollen sich alle Schüler ruhig und eingezogen nach Hause begeben [...]. Kein Schulkind darf bei einer öffentlichen Tanzbelustigung erscheinen.
Es soll, sobald die Abendglocke geläutet wird, zu Hause sein und nachher nicht mehr aus dem Haus gehen.“
Hierin wird die Erziehungsfunktion der Schule und ihr gesellschaftlicher Einfluss schon deutlich. Bei Missachtung der Regeln drohen minutiös gestaltete Strafen:
Beachtenswert in den „Regierungsmaßregeln für Lehrer und Schüler“ von T. Ziller aus dem Jahre 1886 ist der § 47, der besagt, dass „körperliche Züchtigung [...
] nicht erlaubt ist und deshalb stets entschuldigt werden [muss], wenn sie doch im Affekt stattgefunden haben sollte.“ In dieser Formulierung steckt einerseits das Verbot der körperlichen Züchtigung, andererseits aber deren deutliche Tolerierung, woraus man schließen kann, dass sie durchaus auch noch nach 1886 stattgefunden hat. Die Lehrkraft fungierte als Stellvertreter einer gottgegebenen und staatstragenden Autorität, wobei von den Schülern erwartet wird, dass sie diese nicht nur anerkennen, sondern lieben.
„Den Lehrern, welche Stellvertreter der Väter, und nächst Gott die größten Wohltäter sind, sollen die Schüler Liebe und Hochachtung bezeigen und ihnen mit kindlicher Anhänglichkeit und Offenheit begegnen.“
Schon dieser knappe Auszug aus einer Schrift zum „Verhältnis der Anstaltszöglinge zu ihren Lehrern“ macht deutlich, dass die Schüler den Lehrern untertänigst zu begegnen und ihren eigenen Willen ganz dem der Autorität zu beugen hatten. An seine Lehrer, die er als „unnahbare Ölgötzen“ karikiert, erinnert sich Stefan Zweig:
„Sie saßen oben auf dem Katheder und wir unten, sie fragten, und wir mußten antworten, sonst gab es zwischen uns keinen Zusammenhang.
Denn zwischen Lehrer und Schüler, zwischen Katheder und Schulbank, dem sichtbaren Oben und sichtbaren Unten stand sie unsichtbare Barriere der ‚Autorität’, die jeden Kontakt verhinderte.“
Diese hier aufscheinende Distanz in der Beziehung zwischen Schülern und Lehrern, sowie das unpersönliche Vermitteln eines vom Lehrplan vorgeschriebenen Pensums, dem jeglicher Bezug zum Leben fehlte, war nicht etwa eine unüberlegte „Nachlässigkeit der staatlichen Instanzen [...], sondern [..
.] eine bestimmte, allerdings sorgfältig geheimgehaltene Absicht.“ Die Autorität begegnete der Jugend misstrauisch und glaubte, sie würde durch ihre eingangs beschriebene Impulsivität und ihren Drang zur Veränderung eine Gefahr für die gesellschaftliche Ordnungs- und Traditionsliebe darstellen, weshalb sie „möglichst lange ausgeschaltet oder niedergehalten werden“ müsse.
Als gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Unzulänglichkeiten der einzig weiterführenden Schule, dem humanistischen Gymnasium Humboldt’scher Prägung, hinsichtlich der Anforderungen des Arbeitsmarktes immer mehr zum Vorschein kamen, wurden neue Schulformen entwickelt, die dem abhelfen sollten. Doch damit stieg der Leistungsdruck auf die Schüler des etablierten Gymnasiums, das nun im Konkurrenzkampf zwischen den Schultypen bestehen musste.
„Die Schule eröffnete mit der Vergabe von Qualifikationen den Zugang zu den begehrten Berufen, sie vergab somit Lebenschancen.“ „Die schlimmste Drohung“, erinnert sich Stefan Zweig, „die es in der bürgerlichen Welt gab, [war] der Rückfall ins Proletariat“. Und den galt es um alles in der Welt zu verhindern.
Häusliche Erziehung
Anstand, Fleiß und Ehrlichkeit sowie pedantische Ordnungsliebe waren die großen Ziele der Erziehung! Den Kindern wurde Disziplin, Selbstkontrolle und gutes Benehmen sowie Makellosigkeit in der Gesellschaft angelernt, das ihnen einen guten Stand ermöglichen sollte. Jungen und Mädchen wurden dem gesellschaftlichen Rollenverständnis entsprechend unterschiedlich erzogen. Eltern – wie auch Lehrer – hatten stets ihre Position als Respektspersonen zu behaupten, und blockierten hierfür jeglichen persönlichen Zugang der Kinder.
Der Machtunterschied sollte deutlich zu spüren sein. Dabei wurde das Kind nicht als Persönlichkeit realisiert sondern als Erziehungsobjekt, an dem willkürlich gehandelt werden kann. Die turbulenten Jahre des Heranwachsens, in denen eigene Ansichten geprägt werden und der Mensch für die Gesellschaft die größte Gefahr darstellt, da er – noch nicht in die Gesellschaft integriert - durch das Aufdecken alter, verkrusteter, verlogener Strukturen deren Erhalt gefährden könnte. Um das Kind in dieser Zeit der Entwicklung zum in die Gesellschaft eingegliederten Erwachsenen möglichst kontrolliert zu begleiten, Ausbrüche in andere, neue Lebensformen zu verhindern, wurde jede von der Norm abweichende Verhaltensweise verdammt. Selbständiges Denken und Reflektieren über Bestehendes musste unterbunden werden. Dabei arbeiteten Schule und Elternhaus eng zusammen, und holten sich ihre Bestätigung - im Sinne einer gleichsam sakrosankten Legitimierung - von der Kirche.
Religiöse Erziehung
Die Religion stellt im ausgehenden 19. Jahrhundert den Überbau der häuslichen und schulischen Erziehung dar. Sie ist in Form der Kirche die übergeordnete Instanz für die Erzieher, mit deren Ansichten sie konform gehen. Dabei engt sie jedoch das Denken der Bürger ein, da sie Moralvorstellungen wie die Tabuisierung der Sexualität vertritt, die nicht mehr zeitgemäß sind. Kommt es zu Folgeschäden der Erziehung (wie in „Frühlings Erwachen“), verweisen die Erziehungsinstanzen auf die Kirche als maßstabgebende Autorität. Der Kirche kommt eine große Bedeutung in der Kontrollerziehung zu; ihr Einfluss auf die Jugendlichen erstreckt sich vom Schulunterricht über das kirchliche Leben bis hin zu allgegenwärtiger Präsenz im öffentlichen Leben.
Den Schülern wird das Bild vom strengen Gott vermittelt, dem nichts entgeht und mit dem man sich gut stellen sollte. Er tritt ihnen in Form des Stadtpfarrers gegenüber. Die Unfehlbarkeit der Kirche ist im Glauben begründet. Die Erzieher sind somit auf der sicheren Seite, sie können sich stets auf die Kirche berufen.
Sexualerziehung
Schon im Kindesalter galt alles Sexuelle, Geschlechtliche als unanständig und das normale Entdecken sexueller Gefühle (s. Wedekinds Titel „Frühlings Erwachen“) und der Genitalien wurde strengstens verboten bzw.
bestraft. So wurde den Kindern von Anfang an die Tabuisierung aller sexuellen Fragen auferlegt.
Pädagogen in den vergangenen Jahrhunderten warnten die Erzieher vor einer Behandlung der Sexualthematik als „eine geheimnisvolle Art, welche geeignet ist, die Neugier zu reizen.“ Da Sexualität in all ihren Facetten und Erscheinungsformen in der Gesellschaft generell verschwiegen wurde und das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern in der Regel nicht besonders vertraut war, sahen sich Pädagogen vor das Problem gestellt, wie sie die junge Generation über die Vorgänge der Fortpflanzung in Kenntnis setzen sollten. Beharrten die Kinder auf einer Antwort auf die Frage nach dem Ursprung des menschlichen Lebens, so empfahl K. v.
Raumer, in seinem Buch „Die Erziehung der Mädchen“, sie in dem Glauben zu lassen,
„ein Engel bringe der Mutter die kleinen Kinder; welche in manchen Gegenden übliche Sage viel besser ist, als die an andern Orten gewöhnliche, vom Klapperstorch. [...] Fragen später die Mädchen, wie es denn eigentlich mit den kleinen Kindern zugehe, so sage man: »Der liebe Gott gibt der Mutter das kleine Kind [..
.].Wie Gott die Kinder gibt, das brauchst du nicht zu wissen und könntest es nicht verstehen.« An ähnliche Antworten müssen sich Mädchen in hundert Fällen begnügen, und die Aufgabe der Mutter ist es, die Gedanken ihrer Töchter so unablässig mit Gutem und Schönem zu beschäftigen, dass ihnen keine Zeit bleibt zum Grübeln über solche Dinge.“
Auffällig ist hier die Parallele zu Wedekinds Kindertragödie, in der die Sexualaufklärung ähnlich angegangen wird (vgl. Frau Bergmann).
Des weiteren schreibt Raumer über die Notwendigkeit, dem Kind klar zu machen, dass es nicht gut wäre, wenn es so etwas wüsste und dass es vermeiden sollte, darüber sprechen zu hören. Festzuhalten ist, dass die Sexualität konsequent ausgeblendet und die Jugend so auf dem Gebiet der Sexualität konsequent zur Dummheit erzogen wurde. Man klärte sie weder über physische noch psychischen Erscheinungen der Pubertät auf, sondern belog sie lediglich mit Ammenmärchen über die Herkunft der Babies ab.
Aus eigener Erfahrungen war es den Erwachsenen im 19. Jahrhundert durchaus bewusst, dass jugendliche Sexualität mit Einsetzen der Geschlechtsreife existiert und normal ist. Die Eltern erzogen ihre Kinder so, wie sie selbst erzogen worden waren, und so verfestigten sich Ansichten über die Formen der (jugendlichen) Sexualität, die sich über Jahrhunderte gebildet hatten, aber jeglicher Grundlage entbehrten.
Die einzig akzeptierte Form der Sexualität stellte der eheliche, stillschweigend in die Schlafzimmer verbannte Geschlechtsverkehr dar.
Der Kontakt Jugendlicher unterschiedlichen Geschlechts wurde aus übertriebener Angst vor fatalen Begegnungen nach Möglichkeit unterbunden, doch der erwachende Sexualtrieb forderte Befriedigung. Ersatzbefriedigungen wie homosexuelle Beziehungen oder Abarten der Sexualität (Sado-Masochismus, Voyeurismus...) sowie autoerotische Handlungen, waren die Folge.
Onanie jedoch wurde als Selbstschwächung dargestellt, die auf „Schwächung, Verwüstung und Zerstörung wirkt.“ Sie wurde den Jugendlichen als ein Laster beschrieben, das zum Tod führt. Daher wurden alle nur erdenklichen Anstrengungen unternommen, um die Heranwachsenden durch Horrorgeschichten und Strafen zur Enthaltsamkeit bzw. zum Schuldbekenntnis zu bewegen. Um die Eltern und Erzieher für die heimliche Sünde der Selbstbefleckung sensibel zu machen, wurden diverse Merkmale erdichtet, die Unzüchtige entlarven sollten, so z.B.
„Blässe des Gesichtes, besonders der Lippen; häufige und plötzliche Veränderung der Gesichtsfarbe; eingesunkene, hohlliegende, trübe und scheue Augen, mit dunklen Ringen umzogen; Erschlaffung der Muskeln des Gesichts.“ Diese und viele weitere beängstigende Folgen der Onanie wurden von Ärzten bestätigt.
Wirkung der Erziehung auf die Jugendlichen
Der ständigen Betonung der Unreife der Jugend wurde man nicht überdrüssig, sondern versuchte vielmehr, sie auf diese Weise geistig klein und widerstandslos gegen die Elterngeneration zu halten. Offenkundiges Ziel war es, die Kinder in ihrer Entwicklung abhängig zu machen und sie damit in das bestehende Gesellschaftssystem einzufügen unter Kontrolle jeglicher Triebe. Dieser psychologische Druck kann sich auf zwei Weisen äußern: entweder er wirkt lähmend oder stimulierend.
Wirkt der Druck anregend, so kann er eine Befreiung aus dem bürgerlichen Denken anstoßen (oder z.
B. eine ausgeprägte „Leidenschaft, frei zu sein“ auslösen, wie im Falle Stefan Zweigs).
„So warf sich unser zurückgestauter Wissensdurst, die geistige, die künstlerische, die genießerische Neugierde, die in der Schule keinerlei Nahrung fand, leidenschaftlich all dem entgegen, was außerhalb der Schule geschah.“
Ein aktives Naturell reagiert auf Druck von außen mit einer Gegenreaktion. Der Jugendliche sucht sich Sachgebiete, die ihn interessieren und in die er sich leidenschaftlich vertiefen kann (z.B.
Sport, Musik, Literatur oder Philosophie). Dies geschieht, sobald Jugendliche merken, dass die Schule ihnen nichts Wissenswertes vermitteln kann und will, und die Lerninhalte nicht ihren wahren Interessen entsprechen. Ausbildung körperlicher Fähigkeiten, freiheitliches Denken sowie geistige Entfaltung sind Erscheinungsformen dieser Gegenreaktion. Dieser positive Effekt ist heute noch genauso zu beobachten wie in vergangenen Jahrhunderten.
Unterdrückung kann aber auch zu Resignation und folglich zu persönlichen Schäden führen. Generell war die große Zahl derer auffällig, die als Folge ihrer Schulzeit mit Minderwertigkeitskomplexen zu kämpfen hatten.
Bei ihnen wirkte sich der gesellschaftliche Druck lähmend bzw. destruktiv auf die Persönlichkeitsentwicklung aus. Sowohl physische als auch psychische Lähmung, Antriebslosigkeit, Versagen (vgl. Moritz), Depression und in gesteigerter Form der Selbstmord sind Erscheinungsformen, die zu beobachten sind. Abartige Veranlagungen destruktiver Art nach außen (Aggression, Perversion..
.) oder innen (Einsamkeit, Depression...) gerichtet, bestimmen die weitere Entwicklung solcher Kinder.
In „Frühlings Erwachen“ begegnen uns Jugendliche, die mit diesem Druck unterschiedlich gut umgehen können.
Wedekinds Verständnis von Sexualität in „Frühlings Erwachen“
Um die Kritik an den Erziehungsnormen, der Wedekind in „Frühlings Erwachen“ Ausdruck verleiht, besser verstehen und die Analyseansätze der Literaturwissenschaftler, die sich mit seinem Werk befasst haben, besser beurteilen zu können, ist es zuerst nötig, sich mit seiner Sicht der menschlichen Sexualität vertraut zu machen.
Im gesamten literarischen Werk Frank Wedekinds ist das Thema der menschlichen Sexualität von zentraler Bedeutung. Dabei beschäftigt sich Wedekind in seiner Auseinandersetzung mit der Pubertät fast ausschließlich mit dem Erwachen und dem Durchbruch des Sexualtriebes und lässt andere Aspekte der Pubertät wie beispielsweise die Selbstfindung oder Eigenverantwortung außen vor. Dem könnte man entgegen halten, dass sich die Mädchen durchaus Gedanken über ihre Zukunft machen (Selbstfindung) oder Melchior seine Verantwortung gegenüber Wendla wahrnehmen will (Eigenverantwortung). Dies sind allerdings nur Ausnahmen, dominierend ist die Auseinandersetzung mit dem erwachenden Geschlechtstrieb (vgl. Titel).
Die Sexualität nennt Wedekind 1910 „neben unserem Broterwerb vielleicht das allerwichtigste Gebiet unseres irdischen Daseins.“ Die Ursache von menschlichen Katastrophen wie in Frühlings Erwachen“ sieht Wedekind in der Geringschätzung und Entwürdigung des Körperlichen. „Das Fleisch hat seinen eigenen Geist“, den Wedekind Erotik nennt. Die Lebensfreude wächst in direkter Abhängigkeit entsprechend dem Ausleben der Triebe. Die Liebe reduziert sich bei Wedekind auf die Sexualität. Er vertritt die Auffassung, dass der Egoismus Triebkraft allen menschlichen Handelns ist.
Diese Überzeugung lässt er Melchior im Augenblick seiner triebgesteuerten Handlung an Wendla ausrufen: „O glaub mir, es gibt keine Liebe! – Alles Eigennutz, alles Egoismus! Ich liebe dich so wenig, wie du mich liebst“(34/23ff) Schon mit 17 Jahren bekennt Wedekind in einem Brief an Adolf Vögtlin seine Egoismustheorie, dass der Mensch „keine andere Liebe kennt, als Egoismus.“ Natürliche Scham existiert für Wedekind nicht, vielmehr ist er der Ansicht, dass sie allenfalls „ein Produkt seiner Erziehung ist“(7/38), wie er es Melchior ausdrücken lässt. „Kein vernünftiger Mensch hat das Schamgefühl noch je als eine Tugend hingestellt, die gepflegt und großgezogen werden soll.“ Die Maske der Scham verdeckt die Wahrheit und ist Ausdruck der verlogenen Moral. „Wedekinds Menschenbild ist getragen von einem großen Vertrauen in den unverbildeten natürlichen Menschen“. Sein Anliegen ist es, die bürgerliche Moral zu reformieren.
Er ist davon überzeugt, dass die Triebe des Menschen sein Glück bestimmen können und sie deshalb aus der bürgerlich-moralischen Unterdrückung befreit werden müssen. Der anthropologische Optimismus Wedekinds beruht also sehr einseitig auf den Trieben. In seinen Werken versucht er dieser Überzeugung Ausdruck zu verleihen, um, besonders im Falle von „Frühlings Erwachen“, der heranwachsenden Jugend „bei Erziehern, Eltern und Lehrern zu einer humaneren rationelleren Beurteilung zu verhelfen.“ Bezüglich der sexuellen Aufklärung müssen die Eltern laut Wedekind den Kindern in erster Linie bewusst machen, „dass es in der Natur überhaupt gar keine unanständigen Vorgänge gibt.“ Den Teufelskreis des systematischen Totschweigens der Sexualität und die vorgeschobene Begründung dafür beschreibt er folgendermaßen: „Fragt jemand nach dem Grunde, dann wird er zurechtgewiesen: Es ziemt sich nicht. Es schickt sich nicht.
Es gehört sich nicht. Und fragt er: Warum es sich nicht gehört? Weil es unanständig ist.“ Künstlerisch verarbeitet hat der Schriftsteller diesen Gedanken in der Lehrerratssitzung. Um „ohne Schwindelanfälle und Herzbeklemmungen ermessen [zu] können, wie wenig oder wie „viel [Eltern] Kindern davon mitteilen können, müssen sich die Eltern einmal in sexueller Beziehung [...
] klar werden.“ Die hier von Wedekind beschriebene Art der Sexualaufklärung formuliert eine Idealvorstellung, die fern von der in „Frühlings Erwachen“ dargestellten Realität ist.
Erziehungskritik Wedekinds in seinem Stück „Frühlings Erwachen“
In seiner Kindertragödie kritisiert Wedekind die eingangs skizzierten Erziehungsnormen der wilhelminischen Gesellschaft. Durch die Darstellung der Lebenswelt seiner Protagonisten ist es Wedekind möglich, seiner Kritik an den gesellschaftlichen Sozialisationseinrichtungen, dem Elternhaus und der Schule, Ausdruck zu verleihen. Ein entscheidendes Element der Erziehung, die Offenheit gegenüber Fragen der Sexualität, an der es sowohl im Elternhaus wie auch in der Schule mangelt, nimmt in „Frühlings Erwachen“ eine zentrale Stellung ein.
Kritik Wedekinds an der schulischen Erziehung
Die Situation der Jugendlichen ist geprägt durch ein immenses Arbeitspensum.
In den Gesprächen der Jungen kommt an einigen Stellen der Tragödie die Unmenge der zu erledigenden Hausaufgaben zur Sprache. So wird zum Beispiel gleich in der 2.Szene des Stückes die erdrückende Arbeitsfülle deutlich:
Ernst. Zentralamerika! – Ludwig der Fünfzehnte! - Sechzig Verse Homer! – Sieben Gleichungen!
Melchior. Verdammte Arbeiten!
Georg. Wenn nur wenigstens der lateinische Aufsatz nicht auf morgen wäre!
Moritz.
An nichts kann man denken, ohne dass einem Arbeiten dazwischenkommen! (6/33 ff)
Man achte auf die vielen Ausrufezeichen, mit denen Wedekind die Last der Arbeiten aufzeigt, die die Jungen tragen. Auf Moritz’ Beerdigung sagt Otto, er „muss auch büffeln die Nächte durch“ (50/25), um sein schulisches Fortkommen zu gewährleisten und selbst Moritz hatte vergeblich versucht, seinen Erfolg herbeizuführen, indem er bis „kurz nach drei“ (23/14f) oder gar „die ganze Nacht“ (25/16) (durch-)arbeitet. Am oberen Zitat fällt auch auf, dass die Lerninhalte in ihrer Vielfalt und Bandbreite an Fachthemen zerstückelnd und aufgrund ihrer jugendfremden Thematik entfremdend auf die Jungen wirken. Wedekind zeigt als Folge der unumgänglichen Stoffmengen den Mangel an Freizeit auf. Die Jungen müssen ihr Spiel beenden, u.a.
hinsichtlich der noch zu erledigenden Arbeiten (vgl. I/2). Es soll keine Zeit für Dummheiten bleiben; nur messbare Leistung ist gefragt. Themen und Fragen, die Jugendlichen unter den Nägeln brennen, erhalten keinen Platz im Lehrplan. Fragen zur Sexualität, Probleme der pubertären Psyche oder auch lebensnahe Aspekte der Adoleszenz kommen nicht zur Sprache, weil gesellschaftliche Tabus, die Lehrer, aber auch nicht zuletzt die große Klassenstärken es unmöglich machen. „Für Moritz reduziert sich schulisches Lernen auf das Prüfungsritual zum Zweck der Auslese.
“ Die überfordernde Menge an zeitraubender Arbeit wird den Schülern jedoch nicht unüberlegt oder gar grundlos auferlegt: ihnen soll keine Zeit gelassen werden, über Themen nachzusinnen oder Aktivitäten nachzugehen, die ihrer Entwicklung zum korrekten Staatsbürger im Wege stünden. So auch umgekehrt ist es gar nicht möglich, sich Aspekten der erwachenden Sexualität zu widmen, denn, so fasst es Moritz zusammen: „um mit Erfolg büffeln zu können, muss [man] stumpfsinnig wie ein Ochse sein.“ (11/23f) Damit bezeichnet er „sehr genau die für die bürgerliche Persönlichkeitsstruktur charakteristische Dissoziation von Lust und Leistung.“ Die Fixiertheit auf die alten, lebensfremden Lerninhalte des humanistischen Gymnasiums prägen die Entwicklung und das Leben der Heranwachsenden derart, dass sogar ihre Gedanken und die Gespräche in ihrer Freizeit von metaphernreicher Sprache mit mythologischen Bildern untermalt sind.
Die Lehrer und insbesondere Rektor Sonnenstich erweisen sich in „Frühlings Erwachen“ als brutal, gefühl- und herzlos. Eine kurze Erzählung Melchiors über eine Begegnung Hänschen Rilows mit dem Rektor verdeutlicht dies:
Heute Mittag kommt Hänschen Rilow von Trenks Totenbett zu Rektor Sonnenstich, um anzuzeigen, dass Trenk soeben in seiner Gegenwart gestorben sei.
– „So?“ sagt Sonnenstich, „hast du von letzter Woche her nicht noch zwei Stunden nachzusitzen? – Hier ist der Zettel an den Pedell. Mach, dass die Sache endlich ins reine kommt! Die ganze Klasse soll an der Beerdigung teilnehmen.“ (25/30 ff)
Sonnenstich lässt sich weder Mitleid noch Betroffenheit anmerken. Er reagiert mit einem beiläufigen „So?“ absolut desinteressiert und betont seine unantastbare Machtstellung, indem er Hänschen seine noch offene Strafe anordnet. Er ist gar nicht im Stande adäquat zu reagieren. Mit seiner Reaktion weist Sonnenstich jede eventuell aufkommende Vermutung, er sei mitschuldig an dem durch „Nervenfieber“ (25/30) herbeigeführten Tod des Schülers von sich.
„Der Hinweis auf die Wegbereiter einer humanistischen, freien Erziehung, ‚Pestalozzi und J.J. Rousseau’ (43/3f), soll weiterhin auf die Verlogenheit dieser Lehranstalt hindeuten.“ Die verlogene Realität des Rektors stellt Wedekind in der Vernehmung des als am Tod Moritz’ schuldig angesehenen Melchior Gabors bloß. Denn die Beweggründe des Rektors, in der Relegation eine harte Strafe zu verhängen, beruhen nicht auf der Überzeugung, Melchiors Aufklärungsschrift hätte Moritz in den Tod getrieben. Er vertritt diese Meinung zwar äußerlich, innerlich weiß er aber sehr wohl, dass diese These nicht beweisbar ist.
Melchiors Rechtfertigungsansatz „Ich habe ...“ (46/13, 25, 34; 47/23, 32, 35) wird sechs mal übergangen. Wäre er sich der Rechtschaffenheit seines Handelns sicher, könnte sich Sonnenstich Melchiors Erklärungsversuche durchaus anhören. Der wahre Grund für die Verweisung Melchiors von der Anstalt liegt allerdings ganz wo anders: Sonnenstich fürchtet sich vor dem „erschütternsten Schlage“ (44/39f), dass seine Anstalt „von einem hohen Kultusministerium suspendiert“ (44/38f) werden könnte, da es für das „hereingebrochene Unglück verantwortlich“ (44/34f) zu machen sei.
Frau Gabor erkennt ganz richtig die Perfidie, dass ein „Sündenbock“ (51/31) gefunden werden musste, um die „überall lautwerdenden Anschuldigungen“ (51/32) zum Schweigen zu bringen. Den Gipfel erreicht das Plädoyer Sonnenstichs für eine Verweisung Gabors darin, dass er sich und die Lehrerkonferenz als „die Schuldlosen“ (45/10) bezeichnet, und sie damit von jedem Verdacht einer Mitschuld am geschehenen Selbstmord zu befreien sucht.
„Der Streit um das Öffnen eines Fensters im Lehrerzimmer ist nicht allein von situationskomischer Bedeutung, sondern zeigt das verstaubte Klima einer bürokratischen Institution und die Realitätsblindheit der Gymnasialprofessoren.“
Ohne die Lehrer sprechen zu lassen, deklariert Wedekind auch sie für mitschuldig an der ungerechten Strafe, eben gerade weil er keinen Einzigen dem Rektor widersprechen lässt. Zum Ausdruck gebracht wird hier am Beispiel der Lehrer die Hörigkeit, mit der sie sich dem Vorgesetzten fügen. Die Tugend absoluten Gehorsams wurde als entscheidende für den Erhalt des Staates erachtet, und insofern ist es nicht verwunderlich, dass Untertänigkeit und Anpassungsfähigkeit auch den Schülern auferlegt wurden.
Die Szene, in der Melchior der Lehrerkonferenz vorgeführt wird, beweist, dass die Meinung des Schülers, kein Gehör findet. Er wird dazu genötigt, sich unterzuordnen, und seine Schuld kritiklos anzuerkennen. Dieses Erziehungsziel war ein Instrument autoritärer Selbsterhaltung, denn Offenheit und Achtung gegenüber der Meinung des Schülers hätte die Gefahr herauf beschworen, in all der Verlogenheit entlarvt zu werden.
Fasst man die Kritikpunkte des Autors an den Erziehungsnormen der Bildungsstätten zusammen – Überforderung durch lebensfremde Stofffülle, Erziehung zum blinden Gehorsam, herzlose Strenge im Umgang mit den Schülern – und vergleicht sie mit den erklärten obersten Zielen der Gymnasien jener Zeit - „wahres Menschentum, Kraft des Geistes, Sinn für Wahrheit, allseitige Ausbildung der menschlichen Kräfte“ - ist festzuhalten, dass eine große Kluft zwischen Wirklichkeit und Wunschzustand bestand. Im Bild der Lehranstalten des ausgehenden 19. Jahrhunderts, wie es Wedekind kritisch zeichnet, brechen unversöhnliche Widersprüche auf: „Wahres Menschentum“ ist nicht erreichbar, wenn die Sexualität als entscheidender Teil des Menschseins ausgeklammert bleibt; die „Kraft des Geistes“ wo man die Schüler zu stumpfsinnigem Rezipieren anstatt zu selbstständigem Denken anhält; den „Sinn für Wahrheit“ korrumpiert eine verlogenen Gesellschaft, die ihre heimlichen Schandtaten verschleiert; die „allseitige Ausbildung der menschlichen Kräfte“ muss ohne Zeit für sportliche Betätigungen reines Wunschdenken bleiben:
Kritik Wedekinds an der häuslichen Erziehung
Geltungsbedürfnis und ein außerordentliches Streben nach gesellschaftlichem Ansehen sind wesentliche Punkte der Kritik Wedekinds an den Eltern.
Gesellschaftliche Schande ist für viele von ihnen so unerträglich, dass sie ihren Zöglingen alles auferlegen, nur um öffentlichen Ehrverlust zu vermeiden. Die Bedürfnisse, Rechte und Belastungsgrenzen ihrer Kinder übergehen sie dabei völlig. So fordert Herr Stiefel von seinem Sohn absoluten schulischen Erfolg. Die Unfähigkeit des Vaters, seinem Sohn Versagen einzuräumen und dieses sich nicht persönlich zuzuschreiben, legt dem Sohn eine Bürde auf, der er sich nur im Tod entziehen kann. Selbstverständlich trägt auch der schulische Druck an Moritz’ Freitod eine entscheidende Mitschuld. Über seine und die Situation des ebenfalls versetzungsgefährdeten Schülers Ernst Röbel erwähnt Moritz Stiefel gegenüber seinem Freund Melchior Gabor:
„Röbel erschießt sich nicht.
Röbel hat keine Eltern, die ihm ihr Alles opfern. Er kann, wann er will, Söldner, Cowboy oder Matrose werden. Wenn ich durchfalle, rührt meinen Vater der Schlag, und Mama kommt ins Irrenhaus. So was erlebt man nicht!“ (23/31 ff)
Der Ehrgeiz der Eltern, die ihm „ihr Alles“ opfern würden und denen er keine Unehre zumuten kann und will, treiben den Knaben in den Tode. Diese Textstelle beweist, dass Moritz der Gedanke an Selbstmord durchaus nicht fremd ist. Kurz bevor er sich erschießt, erklärt er noch sein Unverständnis über die Haltung der Eltern.
„Meine Eltern mache ich nicht verantwortlich. Immerhin mussten sie auf das Schlimmste gefasst sein. Sie waren alt genug, um zu wissen, was sie taten.“ (44/1ff)
Ironisch erkennt und konstatiert Moritz die Dummheit seiner Eltern. Im Vergleich zu diesen, denkt er. Der letzte Satz des Zitats bezieht sich wahrscheinlich sowohl auf den Akt seiner Zeugung als auch die Art und Weise seiner Erziehung.
Moritz’ Überzeugung, dass Erwachsene immer überlegt, sowie stets richtig und ohne Fehler handeln, liegt dem zugrunde. Genau dieses autoritäre Beharren auf einer postulierten Unfehlbarkeit aller Erwachsenen prangert Wedekind an. Herr Stiefel unterlässt seine Schutzpflicht als Vater, zeigt keine Liebe und Verständnis für seinen Sohn und geht gar so weit, am Grab des Sohnes sich von dessen schulischem Misserfolg zu distanzieren, indem er seine Vaterschaft leugnet: „Der Junge war nicht von mir“ (48/25f) Damit stehlen sich beide am Tod Moritz’ schuldigen Erziehungsinstanzen aus der Verantwortung. Obwohl diese Tatsache vordergründig keine pädagogische Kritik im engeren Sinne darstellt, möchte ich behaupten, dass Wedekind durch die Darstellung dieser verlogenen Welt der Erwachsenen dennoch deren Erziehung anprangert, dahingehend, dass sie ihre Funktion als Vorbilder nicht wahrnehmen und den Jugendlichen dadurch weitergeben, dass es in der Gesellschaft keine Konsequenzen für Verantwortungslosigkeit gibt. Moritz Stiefel ist unter den Jugendlichen im Stück derjenige, an dem die zerstörende Kraft eines verständnislosen Elternhauses in Verbindung mit überzogenen schulischen Anforderungen am deutlichsten sichtbar wird - dargestellt durch die Flucht in den Tod. Aus dem „Schicksal Mensch zu sein unter Wesen, die es nicht mehr sind, wächst die Katastrophe.
“
Frau Bergmann macht sich in doppelter Hinsicht schuldig. Wedekind bringt in ihrer Figur zwei Aspekte seiner Kritik zum Ausdruck: Frau Bergmann erzieht ihre Tochter gemäß den Maßregeln, nach denen sie selbst von ihrer eigenen Mutter erzogen wurde (vgl. 60/25f). Sie macht sich keine Gedanken über die Richtigkeit der Erziehungspraxis, folgt selbst in Fragen der Sexualaufklärung dem Beispiel ihrer Mutter, und verdrängt die pubertäre Problematik. Die zweite Dimension ihrer Schuld erhält Mutter Bergmanns Erziehung darin, dass sie die Folgen ihrer unterlassenen Aufklärung der Tochter zur Last legt. Wendla wird von Melchior schwanger, da sie im Glauben gelassen wurde, um ein Kind zu bekommen, müsse man „den Mann – mit dem man verheiratet ist [.
..] von ganzem Herzen lieben“ (31/7ff). Da sie über den eigentlichen Geschlechtsakt im Ungewissen blieb, kommt es zur ungewollten Schwangerschaft. „Wendla wird zum Opfer des Versuchs, Sexualität dadurch zu bewältigen, dass man sie totschweigt.“ Anstatt ihre Schuld an der Schwangerschaft zu bekennen und die Folgen zu tragen, bürdet Frau Bergmann ihrer Tochter die Qualen einer Abtreibung auf, an deren Folgen sie dann auch sterben wird.
Auch in diesem Falle ist es die Angst vor gesellschaftlicher Ächtung, die Frau Bergmann so unmenschlich und ungerecht werden lässt. Durch die unheilvolle Verbindung von gesellschaftlichem Geltungsbedürfnis und herzloser, nur auf den eigenen Vorteil bedachten Brutalität (sie mag zwar äußerlich herzlich wirken, ihre Handlung beweist aber das Gegenteil) führt sie Wendlas Tod herbei.
Ihr gegenüber steht Frau Gabor, die Mutter Melchiors, deren Erziehungsansatz auf großem Vertrauen zu ihrem Sohn basiert.
„Du bist alt genug, Melchior, um wissen zu können, was dir zuträglich und was dir schädlich ist. Tu, was du vor dir verantworten kannst. Ich werde die erste sein, die es dankbar anerkennt, wenn du mir niemals Grund gibst, dir etwas vorenthalten zu müssen.
- Ich wollte dich nur darauf aufmerksam machen, dass auch das Beste nachteilig wirken kann, wenn man noch die Reife nicht besitzt, um es richtig aufzunehmen. - Ich werde mein Vertrauen immer lieber in dich als in irgendbeliebige erzieherische Maßregeln setzen.“ (26/14 ff)
Doch aller positiven Darstellung zum Trotz, kritisiert Wedekind auch diesen Erziehungsansatz. Die Mutter hält es nicht für notwendig, dem Jungen zu sagen, wozu er bereits reif ist, und wozu nicht. Sie denkt, das könne er schon selbst beurteilen. Letztlich will sie ihn seine Werte selbst finden lassen und gibt keine Normen vor.
Frau Gabor sieht in ihrem Sohn eine „kindliche Entschlossenheit, mutig zu kämpfen für Gut und Recht“ (54/19f). Betrachtet man jedoch Melchiors Sichtweisen (z.B. 11/16f: „ich wurde seinerzeit Atheist“), so scheint diese bewusste Ausklammerung moralischer Beeinflussung eher als Nährboden für seine kritische Haltung gegenüber christlich-bürgerlichen Werten und seinen utilitaristischen Gedanken zu dienen. Auch Frau Gabor, die anfangs den Eindruck einer perfekten Mutter erweckt, wird von Wedekind nicht als Muster einer Ideallösung der Erziehungsfrage präsentiert. Nachdem Frau Gabor von dem Vergehen ihres Sohnes erfährt, verwirft sie ihren liberalen Erziehungsansatz als falsch und folgt den harten Forderungen ihres Mannes nach einer Einweisung Melchiors in die Korrektionsanstalt.
Sie verkennt allerdings die Tatsache, dass sich Melchior – im Bewusstsein seiner folgeschweren Handlung – verantwortlich verhält und in seinem Brief an Wendla verspricht, er werde „indessen natürlich für alles einstehen [...,] er sei bereits auf dem Wege, Hilfe zu schaffen“ (54/37ff).Herr Gabor betitelt diese Verantwortlichkeit geringschätzig als „unsinnige[s] Gewäsch“ (55/1). Er vertritt den Sozialdarwinismus „Wer zu schwach für den Marsch ist, bleibt am Wege“ (52/30), und nimmt seinen Sohn, dem er „Grundschäden des Charakters“ (52/38) zuschreibt, nicht in Schutz, sondern erweist sich in seiner Härte als „vollständig entseelter Bürokrat“ (53/40).
Auch wie er mit der ratlosen Frau Bergmann umgeht, bestätigt dies; er wirft ihr lediglich die Missachtung ihrer „Aufsichtspflicht“ vor. Obwohl sie sich bewusst ist, dass er den „Tod“ (52/27) bedeuten würde, bittet Frau Gabor ihren Mann resigniert um die Einweisung Melchiors „in die Korrektionsanstalt“ (55/21). Wieder prangert Wedekind unmissverständlich die Ungerechtigkeit an, mit der die Erwachsenen ihren ‚längeren Hebel’ missbrauchen.
Für ihre erzieherischen Unterlassungen lassen sie die Kinder büßen und schicken sie real (Wendla) oder symbolisch (Melchior) in den Tod.
Auffällig ist der Verweis auf die Religion, die das eigene Versagen ausgleichen soll: sowohl Frau Bergmann als auch Frau Gabor verweisen jeweils nach ihrer unterlassenen Hilfe und Unterstützung ihrer Zöglinge auf den Allmächtigen. Frau Gabor empfiehlt ihren Sohn, den sie (trotz des Wissens über die Auswirkungen) der Korrektionsanstalt ausliefert, dem „Barmherzige[n] Himmel“ (55/38).
Nachdem Wendlas Mutter es lediglich aus Scham (vgl. 29/39) nicht übers Herz bringt, ihrer Tochter die volle Wahrheit über die menschliche Fortpflanzung zu sagen, endet der Dialog mit ihrem Segen: „Der liebe Gott behüte dich und segne dich! – Ich werde dir gelegentlich eine Handbreit Volants unten ansetzen.“ (31/26ff) Die Mutter ist der Ansicht, dass sie ihrer Aufklärungspflicht Genüge leiste, indem sie das Kind in dem vor sich selbst verantwortlichen Maße (vgl. 29/40) aufkläre und durch das Verlängern des Kleides die weiblichen Reize und damit die Anziehung vermindere. Den übrigen Schutz vertraut sie dem großen Unsichtbaren an. Auch in diesen zwei Beispielen prangert Wedekind versteckt die elterliche Verantwortungslosigkeit an.
Die Diskrepanz zwischen brutaler erzieherischer Härte und sentimentaler Religiosität führt der Dichter durch eine direkte Gegenüberstellung vor Augen. Martha erzählt: „Mama riss mich am Zopf zum Bett heraus. So – fiel ich mit den Händen vorauf auf die Diele. – Mama betet nämlich Abend für Abend mit uns...
“ (13/26ff) Die Eltern zerstören so den Glauben an einen guten Gott und machen ihn unglaubwürdig. Die Gegensätzlichkeit der überzogenen Strafe (wegen eines Bandes (vgl. 13/22)) und des gemeinsamen Betens macht das Wörtchen „nämlich“ besonders kunstvoll augenscheinlich. Frau Bergmann ruft, während sie auf eine Kurpfuscherin wartet, die das Kind abtreiben soll, Gott um Hilfe an. Die heimliche Schandtat der Abtreibung lässt indes keine Zweifel an Gottes „Barmherzigkeit“ (60/27f) aufkommen. Die Religion stellt das „Schutzschild“ eigener Unzulänglichkeit dar.
Gott wird Teil des autoritären Systems.
„O lass uns auf den lieben Gott vertrauen, Wendla; lass uns auf Barmherzigkeit hoffen, und das Unsrige tun! Sieh, noch ist ja nichts geschehen, Kind. Und wenn nur wir jetzt nicht kleinmütig werden, dann wird uns auch der liebe Gott nicht verlassen.“ (60/26ff)
Das „Unsrige“ der vollständigen Sexualaufklärung hätte Frau Bergmann wenige Tage früher tun können, dann hätte es nicht zu dem lebensgefährlichen „Unsrigen“ in Form der Abtreibung kommen müssen. Das „Kind“ hat ja noch kein sichtbares Kind ausgetragen, warum also den Mut verlieren: Das scheint der Mutter Haltung zu sein. Noch lässt sich mit der Fassade die öffentliche Ehre retten.
Wedekinds Kritik an den Erziehungsdefiziten seiner Zeit prangert wesentliche Versäumnisse und Schwachpunkte an. Die Eltern sind durch gesellschaftliches Geltungsstreben, Normerfüllung und die Wahrung ihres öffentlichen Ansehens bestimmt. Sie missbrauchen die Religion ebenso wie ihre eigene Autorität, um die Bedürfnisse ihrer Kinder roh zu unterdrücken. Heuchelei und Verlogenheit prägen das Klima in Gesellschaft, in der Schule sowie im Elternhaus.
Kritik Wedekinds an der Sexualerziehung
In erster Linie jedoch und mehr als alles andere klagt Frank Wedekind den gravierenden und folgenschwersten Missstand der sexuellen Aufklärung an. Da Wendla Bergmann nur die halbe Wahrheit über das ‚Kinder kriegen’ weiß, wehrt sie sich – der Folgen nicht gewärtig – nicht genügend gegen Melchiors Annäherungsversuche auf dem Heuboden: sie wird schwanger.
Frau Bergmann will sich ihr „Kind“ so behalten, wie es ist. Nun kommt sie aber in den Konflikt, ihr Kind erwachsen werden zu sehen (vgl. I/1). Wendla wird erzählt, der Storch bringe die Kinder. Doch sie ahnt, dass das nicht die volle Wahrheit sein kann; sie schämt sich vor sich selbst und beginnt schon, an ihrem Verstand zu zweifeln (vgl. 29/32ff).
Ihre Mutter versucht, die unangenehme Aufklärungsarbeit auf die ältere Tochter abzuwälzen, fürchtet sich aber vor den (wohl zu ehrlichen) Erläuterungen des „Schornsteinfegers“ (29/15), den Wendla zu fragen vorschlägt. Wedekind nennt es ein „wahnwitziges Verbrechen [...], die Jugend systematisch zur Dummheit und Blindheit ihrer Sexualität gegenüber anzulernen und zu erziehen, sie systematisch auf den Holzweg zu führen.“ Die Vermeidung bzw.
Verteufelung der Sexualaufklärung veranlasst die Eltern, sie entweder gänzlich zu unterlassen, möglichst weit hinauszuschieben oder einem Vertrauten anzutragen: „Hänschen Rilow hatte als Kind schon alles von seiner Gouvernante erfahren“ (11/18ff). Reiche Bürgersleute machen sich mit diesem niederen „Geschäft“ der sexuellen Aufklärung ihrer Kinder nicht die „Hände schmutzig“. Für solche Aufgaben ist die Hauslehrerin gut genug. Moritz Stiefel weiß über den Geschlechtsakt (noch) nichts, lediglich, dass ihn seine „Mama unter dem Herzen getragen haben will“ (11/6f); er fragt berechtigt: „Wie sollt’ ich es wissen?“ (11/5) Seine erste Pollution versetzt ihn in „Todesangst“ (10/7), er hält sich für „unheilbar“ (10/9) und glaubt, er leide „an einem inneren Schaden“ (10/10). Im Falle der Jungen, die nicht wissen, wie sie mit ihren „männlichen Regungen“ (8/31) umgehen, und wozu diese dienen sollen, spricht Wedekind die inneren Kämpfe ohne Umschweife an:
„Indessen kann ich heute kaum mehr mit irgendeinem Mädchen sprechen, ohne etwas Verabscheuungswürdiges dabei zu denken, und – ich schwöre dir, Melchior, ich weiß nicht was.“ (11/10ff)
Melchior Gabor musste etwas von der Geschlechtsreife gewusst haben, denn er war „seinerzeit mehr oder weniger darauf gefasst gewesen“ (10/14f) und schämte sich lediglich „ein wenig“ (10/15).
Durch diese direkte Gegenüberstellung der beiden möglichen Voraussetzungen auf den erwachenden Geschlechtstrieb (bei Melchior wissentlich und bei Moritz unwissentlich), gelingt es Wedekind, den entscheidenden Einfluss der Sexualaufklärung und damit die fatalen Folgen der elterlichen Versäumnisse zu kennzeichnen.
Durch seine realistische Darstellung einer Masturbationsszene bricht Wedekind einer neue, von moralischen Ächtung befreite Sicht der Selbstbefriedigung Bahn. In der geschlossenen Anstalt erscheint die Onanie als akzeptierte Gruppenaktivität dargestellt. Statt die allgemeine Verurteilung der Masturbation zu teilen, stellt sich der Autor dieser Abwertung entgegen. Ulrich Vohland ist der Ansicht, die Schüler hätten sich „insofern vom vorherrschenden Kampf gegen die Masturbation und von der Forderung nach vorehelicher sexueller Enthaltsamkeit befreit, als ihre Masturbation frei von Schuldgefühlen und Angst vor der Gesellschaft erfolgt.“ Diese Feststellung ist aber erheblich einzuschränken und trifft nur auf das Verhalten der Jungen in der Korrektionsanstalt zu.
Die enthumanisierte Bezeichnung der Anstaltsinsassen als „Entartung“ (57/21) und auch Frau Gabors Überzeugung „Eine Verbrechernatur mag sich in solchen Instituten bessern lassen. [...] Ein gutgearteter Mensch wird so gewiss zum Verbrecher darin,..
.“ (52/13ff) sind Beweis für die gesonderte Behandlung der triebgesteuerten Jungen in der Korrektionsanstalt. Die meisten der Insassen erscheinen als entartete raue Naturen dargestellt (56/34: „Hetz, Packan! Hetz! Hetz! Hetz!“); sie werden nicht am normalen gesellschaftlichen Maßstab gemessen, ihnen werden mehr Freiheiten zugestanden. Hänschen Rilow hingegen, ein Junge in der Gesellschaft, ist wahrlich nicht „frei von Schuldgefühlen und Angst vor der Gesellschaft“, er sperrt sich auf dem Abort ein (vgl. 31/30f). Seine Sexualität ist überschattet von der damals verbreiteten Furcht vor den körperlichen Folgeschäden der Masturbation.
(vgl. 32/32ff). Dies beruhigt ihn und suggeriert ihm die Natürlichkeit seines Verhaltens. Vohland sieht den Grund für Rilows pervertierte Sexualität (in Form von Kleptomanie, Voyeurismus und Homosexualität) im Tabu der „sexuellen Bezüge zum anderen Geschlecht“. Dies mag wohl ein Grund sein, aber gewiss aber nicht der einzige. Rilow wurde schon „als Kind“ (11/19) aufgeklärt, möglicherweise auch ein Grund, dass sich seine Sexualität in fremde Bahnen verirrt, da er in jungen Jahren mit dieser Thematik nicht umzugehen weiß.
Außerdem scheinen auch Vater und Bruder sich mit Bildnissen von Schönheiten zu befriedigen. (vgl. 32/32ff). Dies beruhigt ihn und suggeriert ihm die Natürlichkeit seines Verhaltens. Wedekind stellt sich eindeutig auf die Seite der Jugendlichen, die mit ihren sexuellen Trieben umzugehen lernen müssen. Die beiden Liebenden im Weinberg, Hänschen Rilow und Ernst Röbel, bewerten ihre Situation als positiv: „Und jetzt ist alles so schön!“ (62/38) Sie sind frei von Schuldgefühlen und akzeptieren ihre Gefühle füreinander.
Es ist sicher kein Zufall, dass Wedekind ausgerechnet denjenigen Jungen seine Sexualität frei ausleben lässt, der (mit Moritz Stiefel) um die Versetzung konkurriert und dann auch das Klassenziel erreicht. Er ist im Gegensatz zu Moritz frei von der Unterdrückung seiner Sexualität, kann daher auch eher den schulischen Druck bewältigen bzw. gar abbauen und hat mehr Erfolg. Homosexuelles Verhalten ist ganz offensichtlich von der Gesellschaft nicht gestattet, die Szene findet außerhalb der gesellschaftlichen Ordnung statt - im Weinberg (III/6).
Auch Melchiors sadistischer Traum, in dem er „Lolo so lange gepeitscht, bis er kein Glied mehr rührte“ (9/21) steht jenseits jeglicher Wertung seitens des Autors. Frank Wedekind lässt seine Jungen eine „normale“ polymorphe Pubertät durchmachen, skizziert verschiedene Verhaltensformen und erlaubt sie.
Er zeigt dadurch auf, dass die Möglichkeiten einer Einflussnahme auf die sexuelle Entwicklung ohnehin sehr gering sind. In der damaligen Gesellschaft hingegen war jegliche Ausübung der Sexualität erst ab der Heirat legitim und voreheliche Betätigungen wurden aufs schwerste verurteilt. Wedekind ist da anderer Ansicht. Die Kritik, die er in „Frühlings Erwachen“ an der Sexualerziehung übt, ist mit Ausnahme von Wendlas Tod in indirekter Form geäußert. Er prangert nicht direkt die Grundsätze der Eltern an, sondern weist durch schlichte Darstellung auf die Normalität pubertärer Sexualität hin und versucht, den Konflikt, in dem die Jugendlichen stecken, nachfühlbar zu machen.
Folgeerscheinungen der Erziehung bei den Jugendlichen
Die Folgen der Erziehung, die die Kinder „genießen“ sind zahlreich, jedoch unterschiedlich offensichtlich.
Am deutlichsten wird Wedekinds Kritik im Tod von Wendla mit der vorangegangenen ungewollten Schwangerschaft und in Moritz’ Selbstmord, deren Ursachen und Umstände bereits erläutert wurden.
Die Eltern geben ihre Beschädigungen an ihre Kinder weiter. Sie stiften somit qua Erziehung eine Deformationskette Im Stück wird das an Thea und Martha deutlich. Die beiden Mädchen entwerfen absolut konträre Erziehungspläne zu der Erziehung, die ihnen zuteil wurde, für die Erziehung ihrer eigenen Kinder. Martha verfolgt einen im Grunde antiautoritären Ansatz; Thea hat die Überzeugung, mit Kindern könne man machen, was man wolle. Die Willkür der Eltern und die damit verbundene Willenlosigkeit der Kinder scheint sie stark beeinflusst zu haben:
Martha.
„Wenn ich einmal Kinde habe, ich lasse sie aufwachsen wie das Unkraut in unserem Blumengarten. Um das kümmert sich niemand, und es steht so hoch, so dicht – während die Rosen in den Beeten an ihren Stöcken mit jedem Sommer kümmerlicher blühn.
Thea. Wenn ich Kinder habe, kleid ich sie ganz in Rosa, Rosahüte, Rosakleidchen, Rosaschuhe. Nur die Strümpfe – die Strümpfe schwarz wie die Nacht! Wenn ich dann spazieren gehe, lass ich sie vor mir hermarschieren.“ (14/22ff)
Zudem können die Mädchen ihr eigenes Geschlecht, ihre Weiblichkeit nicht akzeptieren.
Aus der Erfahrung des gesellschaftlichen Rollenverständnisses, dem gemäß sie minderwertig neben den Jungen gelten, wären die Mädchen lieber männlich und wünschen sich auch eines Tages lieber Jungen als Mädchen.
Martha. [...] Lieber zwanzig Jungens als drei Mädchen.
Thea. Mädchen sind langweilig!
Martha. Wenn ich nicht schon ein Mädchen geworden wäre, ich würde es heute gewiss nicht mehr. (15/3ff)
Theas Meinung beweist, dass sie sich in eine Rollenpersonalität gepresst fühlt, die sie gar nicht sein will. Die Möglichkeit, sich nicht „langweilig“ zu verhalten, kommt ihr gar nicht. Mädchen sind eben wie Mädchen nun mal sind, und da scheint sich auch nichts ändern zu lassen.
Ihre ganz persönliche Möglichkeit der Einflussnahme auf dieses Rollenverständnis erkennt sie nicht.
Ebenso der Junge Moritz, dessen Kinder einst ohne Sexualtabus aufwachsen sollen, distanziert sich von der Erziehung seiner Eltern. Die Jungen sollen vom Elternhaus abhängig bleiben und möglichst keine Eigenständigkeit entwickeln. Dies führt bei Melchior dazu, dass er verantwortliches Handeln nicht kennt. Gegenüber Wendla hätte er anders gehandelt, wenn ihm diese Fähigkeit in der Erziehung nicht versagt worden wäre. Hinsichtlich der ihm wohlbekannten Folgen handelt er absolut verantwortungslos.
Das Verhalten der Jungen in der Korrektionsanstalt manifestiert eine Rohheit, die aus dem mangelnden Zugeständnis des Geschlechtstriebes resultiert.
Familiäre und persönliche Entfremdung
Mit Einsetzen der Pubertät entfremden sich die Jugendlichen zunehmend von ihren Eltern, da die Anforderungen, die an sie gestellt werden, ihre Belastungsgrenzen übersteigen. Es mangelt an Raum für zwangloses, vertrauliches Beisammensein; die einzige Gemeinsamkeit ist die Sorge um den schulischen Erfolg. Da das Denken der Jungen von den Schulaufgaben beherrscht ist und sie den Erfolgsdruck tragen müssen, bleibt kaum Freiraum, eigenen Interessen nachzugehen. Die Jugendlichen entfremden sich von sich selbst; sie kennen ihre eigenen Stärken, Begabungen und Interessen nicht, da man ihnen keine Zeit lässt, diese überhaupt zu entdecken und zu entwickeln. Obendrein entfremden sie sich auch untereinander, da das Versagen des Konkurrenten den eigenen Vorteil bedeutet (18/17: „Ich wette fünf Mark, dass du Platz machst“).
Damit verringert sich die gegenseitige Achtung, jeder muss sein eigenes Fortkommen sichern. Eine für die Lehrer positive Folge des Konkurrenzdruckes ist der Mangel an Zusammenhalt und Einheit unter den Schülern.
„Den befehlsgewaltigen Pädagogen steht keine solidarische Gruppe von Jugendlichen gegenüber, die ihrem Unmut in Schülerstreichen Luft macht. Als Moritz Stiefel im Lehrerzimmer die Ergebnisse der Versetzungskonferenz ausspioniert, wird er von seinen Mitschülern heftig kritisiert.“
Wenige Ausnahmen echter Freundschaft bestätigen die Regel. Auch die Lehrer, die an sich ja auch Produkte dieser Erziehung sind, können eine echte, selbstlose Freundschaft weder nachvollziehen noch verstehen.
Ihnen ist unbegreiflich, „wie sich der beste [ihrer] Schüler gerade zum allerschlechtesten so hingezogen fühlen kann.“ (18/36ff)
Hemmung der emotionalen Entwicklung
Die Entfremdung untereinander macht auch jegliches Einfühlungsvermögen zunichte. Mitleid oder Hilfsbereitschaft kennen die Jungen nicht. Diese Unfähigkeit zu trauern und echte Gefühle zu zeigen oder sie gar zu empfinden, wird in der Beerdigungsszene offenbar. Ihre Gespräche kreisen um den technischen Vorgang des Freitodes und kehren schon bald wieder zu den Hausaufgaben zurück (vgl. 49/38ff).
Moritz Stiefel ist für die Knaben stets ein Fremder geblieben, dessen tragisches Ende sie in all seiner Schicksalhaftigkeit kaum, jedoch allenfalls positiv (durch das Freiwerden der begehrten, umkämpften Bank im voll besetzten Klassenzimmer) tangiert. Lediglich Ilse, mit der er noch kurz vor seinem Tod gesprochen hat, und Martha, die sich auch mit Selbstmordgedanken trägt (vgl. 51/23), zeigen echtes Mitgefühl (vgl.51/6ff).
Hemmung der kognitiven Entwicklung
Die einseitige Konzentration der Kräfte auf das schulische Lernpensum vereitelt eine ganzheitliche Entwicklung der Heranwachsenden. Ein Selbstbewusstsein kann sich nur auf der Basis schulischen Erfolges entwickeln, da zu einem Leistungsnachweis außerschulischer Art kein Freiraum bleibt.
Schüler, die keinen Erfolg in der Schule erzielen können, sind aufgrund mangelnden Selbstbewusstseins äußerst gefährdet, schwere persönliche Schäden davonzutragen. Moritz Stiefel hat keine Lösung in Sicht, er erschießt sich. Die kognitive Entwicklung wird gehemmt und die Ausbildung einer gesunden Persönlichkeit und Identität wird blockiert. Der geistigen Unfreiheit, die sich in sämtlichen Eltern manifestiert, stehen damit die Tore offen.
Stilistik
Die Stilhaltungen in „Frühlings Erwachen“ sind mannigfaltig, was aber nicht bedeutet, hier lägen zahlreiche Stilbrüche vor. Der Begriff ‚Stilhaltung’ bezeichnet einen auf die jeweilige Aussageabsichten und -aspekte gezielt abgestimmten Einsatz stilistischer Mittel und Tonlagen.
Dabei räumt Wedekind beispielsweise den Jugendlichen die Möglichkeit ein, ihre Situation und Problematik aus eigener Sicht, mit eigenen Worten darzustellen. Dieser Kunstgriff schafft durch eine gesteigerte Authentizität der Tonlage ein hohes Maß an Identifikation zwischen Figur und Betrachter; zugleich wird klar, wo die Sympathien des Autors liegen. Zum anderen dient die stilistische Vielfalt des Werkes auch zur Verdeutlichung der kritischen Botschaft des Autors. Deutlich wird dies an der satirisch-ironischen Perspektive, die Wedekind einsetzt, um das Verhalten der Autoritäten als gedankenlos und formelhaft anzuprangern.
Im Folgenden werde ich gezielt nur die Formen der Stilistik zu einer näheren Betrachtung heranziehen, die Wedekind zur Kritik an der Erziehung gebraucht, wobei die sprachanalytische Komponente ausgeklammert wird. Der Rahmen der Arbeit lässt eine ausführliche Analyse aller im Stück zu findenden Stile nicht zu.
Rhetorische Stilhaltung
Am direktesten wird Wedekinds Kritik in den Dialogen. Diese rhetorische Stilhaltung treibt weder die Handlung voran, noch ist sie gebunden an die Figuren oder die Handlungssituation. Es sind vielmehr Passagen einer Art sachbezogenen Diskussion, die in Form theoretisierender Argumentation die Kritikpunkte des Dichters dem Leser nahe bringen. „Die gedanklich überladenen Sätze streben
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