Kantonsschule obwalden
Kantonsschule Obwalden
Deutsch /Facharbeit
Paul Wyss
Urs Widmer:
Märchenstunde für Erwachsene "Es genügt nicht, wenn Literatur nur den Ist-Zustand schildert. Sie muss auch utopische Qualitäten haben. Man muss daran erinnern, dass die Welt einmal schön war."
(Urs Widmer)
Claudia Binz
Dezember 99Inhaltsangabe
Vorwort
Biographie Urs Widmer
Literatur:„Im Kongo“, „Der blaue Siphon“
3.1 „Im Kongo“: Inhaltsangabe
3.2 „Im Kongo“: Eigene Gedanken
3.
3 „Der blaue Siphon“: Inhaltsangabe
3.4 „Der blaue Siphon“: Eigene Gedanken
Form der beiden Werke
Gehalt
Gleiche Elemente in „Im Kongo“ und „Der blaue Siphon“
Der Vater-Sohn-Konflikt
Das Kriegsmotiv
„Im Kongo“ in Anlehnung an „Heart of Darkness“
Schlusswort
Literaturverzeichnis
Vorwort
„Eines ist unbestreitbar: Für die Welt, wie sie uns von Urs Widmer vorgestellt wird, würde ich die unsere unbesehen opfern“, steht auf dem Umschlag des Romans „Im Kongo“ von Urs Widmer. Ein Zitat, das neugierig macht, und zweihundertfünfzehn Seiten, die diesem Kompliment gerecht werden. Farbig, faszinierend, phantastisch – mitreissend, mystisch, mächtig. Der Leser wird in den Urwald Afrikas ebenso wie in den Dschungel des Lebens hineinprojiziert, kann sich dem Bann des Buches kaum entziehen. Gefangen zwischen den dumpf hallenden Geräuschen, den tosenden Farben und den erstickenden Gerüchen kann selbst der dschungelkundigste Leser den Ausweg kaum erkennen.
In „Der blaue Siphon“ wird der Leser in die Kindheit des Erzählers ebenso wie in seine eigene entführt, respektive zurückgeführt. Und die anfänglich so brennende Frage „ist es Traum, oder ist es Wirklichkeit“ verblasst und verbleicht mit jeder verschlungenen Seite mehr und mehr.
Urs Widmer – Ein Autor, der Ende des 20. Jahrhunderts die Zeit anhalten und den Leser sich auf sich selbst besinnen lässt. Ein Autor, der mit seiner bildhaften Sprache, seiner mehr oder weniger latenten Ironie, seinem Sprachwitz und seiner beispiellosen Phantasie den Alltag zum Traum macht, grau zu bunt, Langeweile zu Lust – Lust auf Abenteuer, Fernweh, süssen Schmerz; auf Wünsche und deren Erfüllung, auf Glaube, Liebe und Hoffnung und auf Lust auf sich selbst.
2 Biographie
Urs Widmer wurde am 21.
Mai 1938 in Basel geboren.
Eine bildungsbürgerliche Familie und ein recht literarisches Umfeld waren der beste Nährboden für das Talent des Baslers Urs Widmer: Sein Vater war der Gymnasiallehrer, Literaturkritiker und Übersetzer Walter Widmer, der seinem Sohn die "Liebe zu den Wörtern ohne Niveau, den sogenannt unanständigen Wörtern", weitervererbt hat. Urs Widmers Deutschlehrer im Realgymnasium war der Schriftsteller Rudolf Graber. Heinrich Böll war gern- und oft gesehener Gast im Hause Widmer. Urs Widmer studierte Germanistik, Romanistik und Geschichte in Basel, Montpellier und Paris, danach promovierte er 1966 mit einer Arbeit über die deutsche Nachkriegsprosa. 1967 zog Urs Widmer nach Frankfurt am Main, wo er Lektor im Suhrkamp Verlag und Literaturkritiker und –dozent wurde.
Frankfurt gefiel ihm, er blieb 17 Jahre lang dort, im Suhrkamp Verlag allerdings nur bis 1968. Mit anderen Lektoren rief er den 'Verlag der Autoren' ins Leben. Kurz nach der Gründung wurde er mit seinem Erstling „Alois“ selber zum Autor, zu einem, dem es nicht genügt, "wenn Literatur nur den Ist-Zustand schildert“, so Widmer.
Widmer verfasst sowohl skurrile Erzählungen und Hörspiele, als auch satirische, zwischen Realität und Phantasie angesiedelte Theaterstücke wie „Im Kongo“ und „Der blaue Siphon“. Im Jahre 1987 erhielt er den Baseler Literaturpreis. Für das Stück "Top Dogs" bekam Widmer 1997 den Mühlheimer Dramatikerpreis sowie den 3Sat-Innovationspreis.
Urs Widmer wurde in der Kritiker-Umfrage der Fachzeitschrift "Theater Heute" zum Dramatiker des Jahres 1997 gewählt.
Urs Widmer lebt und arbeitet heute als Schriftsteller in Zürich; er ist verheiratet und hat eine Tochter.
Literatur: „Im Kongo“, „Der blaue Siphon“
Im Kongo (1996)
Der Altenpfleger Kuno führt ein behagliches Leben: tagein, tagaus, und dies seit 25 Jahren, betreut er die „Gäste“ des Altersheims von Fluntern, sein Leben plätschert gemächlich dahin. Auf den ersten Seiten finden wir ihn auf den Knien, er schabt Kaugummis vom Zimmerboden der Frau Schroth, die am Vorabend neunundneunzigjährig gestorben ist.
So lebt er denn gemächlich vor sich hin – bis er eines Tages einen Neuzugang erhält: seinen eigenen Vater. Und eben dieser Besuch stellt Kunos ganzes Leben komplett auf den Kopf.
Im Verlaufe des Zusammenseins erfährt der Altenpfleger Dinge von seinem Vater, die er nie für möglich gehalten hätte – muss er doch entdecken, dass dieser während des Zweiten Weltkriegs bei weitem kein langweiliges Leben als Elektriker geführt hat, sondern als Spion die Machenschaften der Zentralmächte zu verhindern suchte. Kuno ist bestürzt; er scheint der einzige Mensch dieses ausgehenden Jahrhunderts zu sein, der kein Schicksal hat «In diesem Jahrhundert ist noch der letzte Depp bei der Landung in der Normandie mitgerannt oder in Hiroshima umgekommen», ruft Kuno. «Einzig ich habe kein Schicksal.» Tatsächlich hat er nichts gewonnen und alles verloren: die Mutter, auf rätselhafte Weise erschossen, schon im Krieg, die Jugendliebe lief ihm mit seinem besten Freund Willy in den Kongo davon, und seine Vorgesetzte, die dreissigjährige Schwester Anna, beschied ihm auf seinen Heiratsantrag: «Da können Sie warten, bis Sie schwarz sind.» Doch das alles soll sich bald ändern. Im Verlaufe der Geschichte erinnert sich Kuno gern an vergangene Zeiten: Er träumt von der besagten grossen Liebe Sophie, die er einst an seinen ehemals besten Freund Willy verlor, der sie mit in den Kongo genommen hat, um dort die Filiale einer Schweizer Brauerei zu führen; er träumt von seiner verstorbenen Mutter, die, wie er nun durch seinen Vater erfährt, gemeinsam mit dem Gärtner (welcher eigentlich der familieneigene Leibwächter war) von der Gestapo ermordet wurde.
Und auf einmal bietet Anselm Schmirhahn -- der Besitzer der Brauerei Anselm und ein Nachbar Kunos -- dem Altenpfleger die Möglichkeit, in den Kongo zu reisen, um den angeblich verschollenen Willy samt Ehefrau Sophie zu suchen und gegebenenfalls zurückzubringen. Auf dieser abenteuerlichen Reise sowohl ins ferne Afrika wie auch tief in seine eigene Seele hinein lernt Kuno sich selbst kennen, er ist fasziniert vom geheimnisvollen und betörenden Dschungel Afrikas und den Abgründen seines Herzens, und er muss feststellen, als er zurückreist, dass er sich wahrhaftig grundlegend verändert hat.
3.2 Eigene Gedanken
Schon von der ersten Seite an war ich fasziniert und gefangen von der farbigen, lebhaften und greifbaren Sprache Urs Widmers. Er beginnt mit einer Beschreibung des Waldes hinter seinem Zuhause, er erzählt von seiner Familie, malt prächtige Bilder von der Landschaft, in der er seine Jugend zugebracht hat. Dann kommt ein plötzlicher Bruch.
Man befindet sich wieder in der Gegenwart, doch wo, das weiss der Leser anfänglich noch nicht so genau, man weiss nur, dass der Autor jetzt Erwachsen ist und vorhat, uns von seinem bisherigen Leben zu erzählen.
Urs Widmers Sprache ist zynisch, ist witzig, macht stutzig, bestürzt, traurig doch gleichzeitig kann man sich oftmals das Lachen nicht verkneifen. Und dann die letzte Seite: Man will nicht, dass die Geschichte fertig ist – das kann noch nicht alles gewesen sein! Man legt das Buch zur Seite, die Gedanken driften und plötzlich – plötzlich erkennt man Parallelen. Wie zum Beispiel bei der typischen Antwort von Schwester Anne auf Kunos Liebeserklärungen: "Da kannst du warten, bis du schwarz wirst" -- ein Versprechen, das sie auch hält.
Der Aufbau der Story mit den ganzen Parallelen, Verwicklungen, Wiederholungen und Verzerrungen ist schlicht und einfach bewundernswert. Der Leser macht es sich zum Spass, in der Erinnerung nach Passagen zu kramen, die eine zweite Bedeutung haben, eine weniger offensichtliche; er sucht Stellen nochmals, die er beim ersten Mal lesen nicht verstanden hat, nicht verstehen konnte.
Auf der anderen Seite zeigt das Buch den 2. Weltkrieg aus der Schweizer Perspektive: Kriegsgewinne, die Sympathie, die den Nazis vielerorts ganz offen entgegengebracht wurde, das Stillschweigen und Vertuschen nach dem Krieg. Manchmal, so möchte man denken, bewegt sich Widmer mit gewisse Äusserungen, vor allem betreffend den Nationalsozialismus, am Rande der Ethik; zum Beispiel, als ein Heiminsasse und Freund von Kunos Vaters dem Pfleger erzählt, er habe sich mit Hitler heillos betrunken: Die scheinbare Gleichgültigkeit des alten Mannes gegenüber dem Krieg macht den Leser betroffen, er stört sich an dieser Lässigkeit, mit der diese menschliche Katastrophe abgehandelt wird. Frühzeitig jedoch greift Widmer ein und lässt Kuno ausrufen: „Wie kannst Du nur so reden?“ (S. 70)
Es gehört zu den schönen Eigenheiten dieses Buches, dass es einen, mehr als das meiste, was man liest, auf keiner Seite auch nur ahnen lässt, was sich auf der nächsten ereignen wird. Besonders im langen dritten Teil führt Widmer seine Geschichte derart überraschungsreich um die Ecken, dass ein Kritiker, der die Story ausplauderte, den Leser um die schönste und wichtigste Erfahrung brächte, die er mit diesem Buch machen kann: Früher oder später wird man sich nämlich, falls man das Kind in sich nicht ganz vergessen hat, zu diesem Roman verhalten wie ein Kind zu einem Märchen, in dem das Unwahrscheinlichste wahr und das Unmöglichste möglich wird.
3.3 Der blaue Siphon (1996)
Alles beginnt mit einem Traum des Erzählers, zugegebenermassen einem eher diffusen Traum, denn der Erzähler träumt von einer Siphonflasche. Meine Generation weiss wohl kaum mehr, was das überhaupt sein soll, doch es gibt noch wenige Menschen, die sich mit Siphonflaschen auskennen. Mit einer Siphonflasche kann man nämlich Soda produzieren -- eins, zwei, drei eine Kapsel und schon wandelt sich das flache, fade Hahnenwasser mittels einer sogenannten Bombe in spritziges, blubberndes Soda. Von den Siphonbomben wechselt der Autor gerade zu den wirklichen -- den Bomben, die Menschenleben rauben. Er malt erst ein Schreckensszenario, dann innerhalb weniger Zeilen wieder ein heiles Familienidyll.
Die Geschichte beginnt. Eines abends beschliesst der Erzähler, ins Kino zu gehen, er sieht sich einen – seiner Meinung nach merkwürdigen -- Film an, schwarz-weiss, der im kolonialen Indien spielt. Als der Erzähler das Kino jedoch verlässt, findet er sich in der Vergangenheit wieder, genauer gesagt in seiner Kindheit. Nach einigen Irrungen und Wirrungen realisiert er, was passiert ist, sucht sein Elternhaus, trifft seine Eltern und sein ehemaliges Kindermädchen wieder und findet schliesslich im Kino wiederum den Eingang in die Zukunft. Zur gleichen Zeit macht sich sein „Kinder-Ich“ in der Zukunft/Gegenwart auf die Suche nach – irgendwas und findet unter anderem seine zukünftige Frau, Isabelle und Tochter, Mara, mit der er in seinem zukünftigen Garten vor seinem zukünftigen Haus spielt. Auch der kleine Junge kehrt schliesslich ins Kino zurück, der Wechsel vollzieht sich problemlos und beide kehren unbeschadet in ihre Zeit zurück.
Nur Jimmy, der Hund des kleinen Jungen – somit des Kinder-Ichs, verlässt die Vergangenheit für immer und reist mit seinem neuen alten Herrchen, dem Erwachsenen-Ich, 50 Jahre in die Zukunft.
3.4 Eigene Gedanken
Ein Märchen der Gegenwart; phantastisch, und doch glaubwürdig.
Ein sehr phantasievolles Buch, mit starken Anfang und Ende (Rahmenhandlung), wiederum weiss der Leser nicht, ob er oder auch der Erzähler wach ist oder träumt – eine Reise in die Vergangenheit ist rein rational gesehen unmöglich, doch Urs Widmer vermag dies so klar und verständlich zu schildern,, dass wohl selbst eingefleischte Rationalisten zu zweifeln beginnen. Kein Hokuspokus, okkulte Mächte oder Energieströme aus dem All, nur ein ganz normales Kino, ein relativ normaler Film, schwarz-weiss, wohlgemerkt, und ein Mann wie viele andere, mit einer Vergangenheit, einer Gegenwart und einer Zukunft, der dieses Kino betritt, um sich diesen Film anzusehen. Und schwupps – als er es wieder verlässt, findet er sich 50 Jahre in der Vergangenheit wieder.
Zeitreisen haben die Menschheit schon seit eh und je fasziniert – wer von uns würde nicht gerne an den einen oder andern Punkt in unserem Leben zurückreisen, um sich anders zu verhalten, den Ausgang einer bestimmten Situation zu verhindern, zu verändern? Lässt Urs Widmer den Erzähler der Geschichte zurückreisen, um ihn den Hund holen zu lassen, seine Eltern wieder oder noch einmal zu sehen oder am Ende um sein Kindermädchen Lisette zu küssen? Oder ist es am Ende doch wegen dieser blauen Siphonflasche?
Auf Seite 45 erblickt der Erzähler im seinem ehemaligen Elternhaus ebendiese:
„Da stand sie, die Siphonflasche, wegen der ich die ganze Reise unternahm, jener blauleuchtende Siphon, auf dem Kasten oben, funkelnd tatsächlich, denn mein Vater hatte das Licht im Korridor draussen angezündet.“
Diese Stelle erinnert an den Beginn des Buches, als der Erzähler seinen Traum beschreibt:
„...und vor mir schwebt, erhöht wie auf einem unsichtbaren Altar, eine Siphonflasche aus blauem Glas, leuchtend in einem sonst unsichtbaren Licht, das das Glas funkeln liess.“
Wieso ist diese Siphonflasche so wichtig, dass der Erzähler dafür in die Vergangenheit zurückreisen muss? Als der Erzähler die Flasche – dieselbe wie in seinem Traum – sieht, erfahren wir es:
„Neben der Flasche lagen schmale Röhrchen, angerostet und voller Staub.
(...) Sie hiessen Bomben. Solche Bomben, hatte ich einst gedacht, fielen von den Himmeln und auf uns Menschen und richteten jene Verheerungen an. Nie hatte ich gewagt, eine anzufassen.
Jetzt hob ich eine Hand. Ich konnte sie nehmen und verschwinden lassen. Es gäbe keine Bomben mehr.“ (S. 45)
Form
„Jetzt! Jetzt schreibe ich und bin gleichzeitig. Tatsächlich, ich stosse einen Jubelschrei aus, und während ich juble, notiere ich, dass ich es tue.
Ahh! (...) Vorbei. Was ich von nun an schreibe, wird sein. Falls es so sein wird.
“
Sowohl „Kongo“ als auch im „Siphon“ finden wir zwei verschieden Zeit-, respektive
Raumebenen. Kuno schreibt seine Vergangenheit, seine Geschichte vor dem Kongo, auf seinem Laptop nieder, als er schon im Kongo weilt. Der Erzähler im „Siphon“ reist von unserer Gegenwart in die Vergangenheit, sein Kinder-Ich von der Vergangenheit in unsere Gegenwart; die Erzählung ist in zwei Teilen geschrieben: Das Gegenwarts-Ich in der Vergangenheit und das Kinder-Ich in der Gegenwart.
„Von hoch oben, aus einer rosa Morgenluft, von einem Fesselballon aus ist der Aargau sanft, hügelig, blass, blühend, und wenn wir in der Korbgondel, in der wir sitzen, eine Lupe haben oder besser ein Fernrohr, sehen wir durch den Dunst, der die grünen Matten entlangkriecht, Kornähren, Mohnblumen, Kirschbäume, Bäche in schnurgeraden Betonkanälen. (..
.)Sanft ringeln sich Wege um Grasbuckel auf ein Dorf zu, mit einer grossen Kirche, mit Schindeldächern, mit Betondachterrassen, auf denen Bäume in Töpfen stehen und Liegestühle und Partyschaukeln. Blaue Schwimmbassins sind in Gärten. Der Pilot zieht am Gashahn. Das Gas zischt in die Luft. Wir sehen nun alles mit blossen Auge, taufeuchtes Gras und Hasen und Bäume und Autos, die auf einer Überlandstrasse vorbeifahren.
Aus einem Kamin kommt roter Rauch. Wir frösteln. Rauschend senkt sich der Ballon zwischen Apfelbäume. Nasse Zweige schlagen uns ins Gesicht. Wir torkeln aus dem Korb. Wie Seemänner stehen wir schwankend im Gras, der Pilot, die dicke Frau und ich.
“
(Urs Widmer: Schweizer Geschichte, Diogenes Verlag, Zürich, 1978)
Urs Widmer vermag es, Details hervorzuheben, banalste Dinge von einer anderen, wunderschönen, spannenden Seite zu zeigen. Er ist ein sehr genauer Beobachter, verwendet Metaphern, kombiniert Dinge, Tiere, Pflanzen miteinander wie kein anderer, eben genauso wie er es sieht, hört, fühlt. Er schreibt, wie oben beschrieben, JETZT! und nicht nachher. Oder Vorher, oder gar nicht. Die Liebesszene zwischen Anselm und seiner Frau Aline, sowie deren Liebhaber zeigt, auf welche Art und Weise er eine Situation zu abstrahieren vermag, wie er uns vor den Kopf stösst, unseren Moralbegriff ein wenig kitzelt, auf die Schippe nimmt:
„Der Liebhaber schlug Anselm mit beiden Händen auf den Hintern, während der seine Frau beutelte, und Anselm feuerte seinen Freund an, als dessen Kopf zwischen Alines Schenkeln steckte. „Zeig’s ihr, Willy!“ – „Klaus!“ gurgelte der Liebhaber.
“Ich heisse Klaus.“ “
(„Im Kongo“, S. 36)
Urs Widmers Sprache mag zwar einfach sein, doch von einer unglaublichen Vielfalt und Tiefe – wenn man sich die Mühe und Zeit nimmt, danach zu suchen.
Gehalt
Gleiche Elemente in „Im Kongo“ und „Der blaue Siphon“
Das Reisemotiv
In Widmers Werken spielt das Reisen eine grosse Rolle. Sowohl Kuno als auch der Erzähler im „Siphon“ unternehmen eine Reise, sowohl zeitlich und geographisch, als auch in sich selbst. Kuno findet sich und seine dunkle Seite – im wahrsten Sinne des Wortes – in den Tiefen des Dschungels, wo er sich schliesslich glücklich niederlässt mit seiner geliebten Schwester Anne; beide schwarz, beide zufrieden.
Der Erzähler im „Siphon“ macht sich auf eine Reise in seine Kindheit, um etwas zu tun, das er als Kind aus Angst nicht zu tun vermochte. Endlich, Jahrzehnte später gelingt es ihm, die Siphonbombe einzustecken und sein gewissen zu bereinigen. Natürlich ist es nur eine Kinderphantasie, die Beendigung des Krieges durch das Verschwinden einer Siphonbombe, doch es war seine Phantasie, und er musste sie erfüllt sehen, um weitergehen zu können.
Urs Widmer in einem Aufsatz über Jules Verne:
„(...
) Diese Reisen sind, wie bei May, vorerst einmal Wunschprojektionen des Autors, der Versuch, in der Phantasie das zu tun, was das Leben nicht zuzulassen scheint. Das ganze Werk Vernes ist eine einzige flucht. Es wird nur gereist, es gibt, wenn ich mich nicht ire, kein Buch, in dem wirklich geblieben wird. Immer ist der Held vor seinen Ängsten und hinter seinen Sehnsüchten her. Man kann auch sagen: von einem Zustand der Unfreiheit reist er in einen der Freiheit, von Ungerechtigkeit zur Gerechtigkeit, in jedem Buch erneut.“ („Das Normale und die Sehnsucht“, S.
48f)
Und das erinnert an Kuno, respektive den Erzähler im „Siphon“: Ein Mann, auf der Suche nach (s)einem Schicksal respektive die Verwirklichung eines Kindheitstraumes. In Widmers Werken findet man oft Zeit- und Raumschlaufen, das heisst oftmals führt eine Geschichte von einem Ausgangspunkt aus zu einem Endpunkt und wieder zurück, sowohl in der Zeit als auch im Raum. Im „Kongo“ beispielsweise befinden wir uns am Anfang und am Schluss im Wald, erst im Schweizerwald, dann im afrikanischen Dschungel – doch Dickicht ist Dickicht, das stille Waldgefühl bleibt dasselbe, das Gefühl, daheim zu sein, ein Gefühl, das Kuno so viele Jahre lang nicht mehr gespürt hat. Für Widmer ist der Kern des Reisens die Utopie, die Sehnsucht nach einem anderen Leben. Doch sollte man dabei nicht vergessen, dass diese Medaille auch eine Kehrseite hat, nämlich den Schrecken des Dschungels, den unvermeidlichen Tod.
Und die Realität.
Der Vater-Sohn-Konflikt
In beiden Werken wird ein starkes Vaterbild vermittelt. Der Sohn möchte vom Vater akzeptiert werden, doch dieser erkennt ihn nicht – erkennt nicht, wer sein Sohn wirklich ist.
Als Kuno im „Kongo“ aus Afrika zurückkehrt und ins Pflegeheim kommt, kann er den Tod seines Vaters miterleben. Da Kuno inzwischen jedoch schwarz geworden ist, erkennt sein Vater ihn nicht.
„Papa!“ rief ich. Er sah mit auch kraftlosen Augen an.
„Ich bin nicht ihr Vater“, murmelte er. „Mein Sohn hat keinen Bart.“ (S.185)
Erkennt der Vater seinen Sohn nicht, weil dieser schwarz ist, oder weil er nun einen Bart trägt? Als Kuno sich von ihm entfernt und der Vater nur noch seine Stimme hört, identifiziert diesen als seinen Sohn.
Doch auch Kuno hat kein zutreffendes Bild von seinem Vater, er dachte nämlich Zeit seines Lebens, sein Vater sei ein Langweiler, ein Mensch ohne Schicksal – in Wirklichkeit jedoch war Kunos Vater zur Zeit des 2. Weltkriegs ein Spion und führte ein durchwegs spannendes und keineswegs eintöniges Leben.
Und als der Erzähler im „Siphon“ in seinem Elternhaus anlangt und seinen Vater anspricht, versteht auch dieser verständlicherweise nicht, was vor sich geht.
„Ich bin dein Sohn“, sagte ich. „Hören Sie, jederzeit sonst, aber heute bin ich nicht in der Stimmung für Witze.“ Ich wusste, wie gern er lachte; tatsächlich schien ihn etwas zu beschäftigen, was mit mir nicht zu tun hatte. „Im übrigen sehen sie eher wie mein Vater aus. Der sind sie aber nicht.
Ich kennen meinen Vater.“ „Und ihren Sohn?“ (S. 26)
Das Kriegsmotiv
Sowohl im „Kongo“ als auch im „Siphon“ spielt der Krieg eine wichtige, tragende Rolle. Im „Siphon“ finden wir zu Anfang und zum Schluss jedes Kapitels sowie zusätzlich durch die Kapitel verstreut Kriegsbilder; Bilder von fallenden Bomben, vom Sterben, vom Verschwinden, vom Tod.
Als der kleine Kuno in der Zukunft wieder ins Kino geht, um in die Vergangenheit zurückzugelangen, bemerkt er: „diesmal sah ich keinen Kinderfilm, sondern eine Geschichte mit Krieg und Toten, von der ich nur verstand, dass Menschen endgültig getrennt werden können, ohne Wiedergutmachung, für ewig.“ (S.
98), oder als er, endlich dort angekommen, mit Lisette, nach Hause läuft: „Als wir am Rundfunkgebäude vorbeikamen, wo das Fliegerabwehrgeschütz eingegraben war, kitzelte ich sie mit einer Pfauenfeder (...) (S. 99).
Im Verlauf der Geschichte erfahren wir, dass der Erzähler immer davon geträumt hat, jene Siphonbomben, die Kohlensäure in die Siphonflasche pressen, einfach verschwinden zu lassen, damit es überhaupt keine Bomben mehr gäbe, was einer reinen Kinderphantasie gleichkommt – aber schliesslich ist er ja auch in seine Kindheit zurückgereist.
Der Krieg ist ein Teil des Lebens, sowohl in der Vergangenheit als auch in der Zukunft – der Krieg ist allgegenwärtig, auch wenn der Erzähler versucht, die Zeit zu manipulieren indem er die Bomben verschwinden lässt. Der Mensch ist machtlos – er kann zwar in der Zeit umherreisen, jedoch den Krieg wird er nie verhindern können.
Im „Kongo“ ist der Krieg, der Kampf und die Brutalität auch in zwei Welten vorhanden, wie im „Siphon“. Im „Kongo“ lässt Widmer erst Kunos Vater von seinen Erlebnissen während dem 1. Weltkrieg erzählen, danach schickt er Kuno selbst in den Kongo, wo tagtäglich ein brutaler Überlebenskampf wütet. Erst bereitet Kuno die scheinbare Indifferenz seines Vaters gegenüber dem 2.
Weltkrieg grosse Mühe, bis er erkennt, dass dem nicht so ist, dass sein Vater wohl noch immer mit dieser Erinnerung zu kämpfen hat. Im Kongo selbst gerät er in manche diffizile Situationen, die er meist gewaltlos, mit List meistert, doch schliesslich muss auch Kuno selbst in Notwehr zu Waffen greifen.
„Es ist heiss. Das Wasser ist frisch. Die Frucht ist saftig. Morgen bist du tot.
Andere gehen über deinen Kadaver. Hunde verschleppen die Knochen deines Skeletts. Spiele mit ihnen, achtlos, bis ihnen ein Panther ins Gesicht springt.“ (S. 21/22). Die grundsätzlich verschiedenen Lebenssituationen bringen auch grundlegend verschiedene Lebensphilosophien mit sich: „Die Menschen des Kongo wissen so sehr, dass die Menschen zum Leid geboren sind, dass sie nicht darauf achten, es nicht erkennen.
Sie wissen nicht, was Leid ist.“ (S.21; Situation im Kongo)
Kuno über zwei Putzfrauen des Pflegeheims und ihre Vorgehensweise beim Putzen:„Die Putzfrauen, zwei jobbende Studentinnen aus den USA, hatten den Dreck von zwei Jahrzehnten in einer knappen Viertelstunde weggefegt, mit so viel Chemie, als wollten sie Vietnam ein zweites Mal entlauben.“ (S. 14)
„Im Kongo“ in Anlehnung an „Heart of Darkness“
In seinem Roman „Im Kongo“ greift Widmer Elemente aus dem Roman „Heart of Darkness“ (1902) des Schriftstellers und Afrikaforschers Joseph Conrad auf, welchen er 1992 neu übersetzt hat. „Heart of Darkness“ ist die Geschichte des Reisenden Marlow, der sich im Kongo immer mehr von seinen weissen Artgenossen (wegen deren bedenkenloser Brutalität) ab- und sich dem Dschungel (Symbol für Wirklichkeit und Wahrheit) zuwendet.
Dies geschieht nicht zuletzt durch die Bekanntschaft mit einen Mann namens Kurtz, den er auf der Reise kennenlernt, der zwar überaus intelligent und begabt ist, jedoch keinen Sinn für Integrität oder soziale Verantwortung hat, er wird von Marlow als ein brutaler Teufel beschrieben.
Während Conrads Geschichte die eines einsamen, gescheiterten Europäers unterwegs auf hoher See ist, ist diejenige von Widmer die eines Mannes, der schliesslich die Liebe und den Schutz des Waldes findet, nach denen er so lange gesucht hat. Während Marlow sich nur den Schwarzen zuwendet, wird Kuno selbst einer.
Vielleicht führt uns Widmer in einem märchenhaften Spiel nur vor Augen, wie lächerlich unsere ewig Realismus- und Interpretationssucht ist. Wenn wir nur Hitler, Mobutu, Afrika und Herz der Finsternis hören, wissen wir schon, wie darüber zu schreiben ist: ernst und kritisch, realistisch und moralisch. Widmer ist nichts von all dem, sondern spielt nur mit verschiedenen Elementen.
Ein bisschen zuerst, als die Alten im Heim ihre Kriegserinnerungen wieder aufleben lassen. Zwischendurch immer wieder mit den konversiven Einschüben über das Dschungelleben, die den Leser ziemlich verwirren. Und mit der Zeit immer mehr – als Kuno plötzlich selbst schwarz wird und ihm seine geliebte Schwester Anne nicht länger widerstehen kann. Und der Leser beteiligt sich am Spiel, hört auf, immer schon zu wissen, was der Autor nun zu erzählen hat, lehnt sich zurück und überlässt sich überraschungsfreudig Widmers unverschämten Improvisationen.
Nach Beendigung des Romans kann man es sich nicht verkneifen, das Buch nochmals aufzuschlagen und all diejenigen Passagen nochmals zu lesen, die man zu Beginn noch nicht verstehen konnte, und schliesslich lauthals zu lachen, begeistert mit dem Kopf zu nicken oder erleichtert aufzuseufzen – endlich begriffen!
Mobutu, ein Herrscher des Kongos, zu Kuno:
„Sie müssen mich mal besuchen“, sagte er. “Ich bin gerade dabei, einen Prunksaal zu bauen, um fremde Würdeträger empfangen zu können.
Alte Freunde. George Bush, wissen sie, Mitterand, oder sie. Der Saal wird so gross, dass ich den Petersdom hineinstellen könnte.“
(S. 203)
Schlusswort
Der Wald – huschende Gestalten, furchteinflössende Geräusche, mystische Bilder: eine packende Kulisse. In Widmers phantastisch inszenierter Erzählung „Im Kongo“ erleben wir den Wald von einer neuen, uneuropäischen Seite.
Er entführt uns in die dunklen, gefährlichen Abgründe des Dschungels und gleichzeitig in unsere eigenen.
Der Krieg – zischend fallende Bomben, gequält schreiende Menschen, schwarz verkohlte Körper: ein grauenvolles Bild. „Der blaue Siphon“ birgt viele Passagen mit Kriegsbildern und Kriegsmetaphern in sich, subtil angedeutet, aber dennoch glasklar.
Urs Widmer kreiert moderne Märchen, wobei uns das Fiktive real erscheint – und umgekehrt genauso. Die Reise im Kongo könnte durchaus so geschehen sein, wie er sie uns schildert, doch aus irgendeinem Grund erscheint sie uns unwirklich, überspitzt; wogegen man wohl eher selten eine Zeitreise im Kino unternimmt, dies aber durch seine natürliche, simple Sprache so eingängig illustriert wird, dass wir uns ernsthaft zu überlegen beginnen, ob so was am Ende vielleicht doch nicht möglich sei.
Urs Widmers Geschichten packen, sie sind geschriebene Träume und Traumbilder.
Ich habe seine beiden Werke mit grossen Vergnügen gelesen, habe die Stunden genossen, in denen mich seine Worte in eine andere Zeit, eine andere Welt entführt haben. Ich muss zugeben, anfangs war ich eher skeptisch diesem Schweizer Schriftsteller gegenüber, doch seine Phantastereien haben mich in nullkommanichts um den kleinen Finger gewickelt. Ich kann dem Kritiker Michael Krüger nur zustimmen, wenn er sagt: „Eines ist unbestreitbar: Für die Welt, wie sie uns von Urs Widmer vorgestellt wird, würde ich die unsere unbesehen opfern.“
Quellenangaben
Primärliteratur:
Urs Widmer, Der blaue Siphon, Diogenes Verlag, 1994
Urs Widmer, Im Kongo, Diogenes Verlag, 1996
Sekundärliteratur:
Heinz Ludwig Arnold, Urs Widmer, Heft 140, edition text + kritik GMBH, 1998
Joseph Conrad, Heart of Darkness (Ersterscheinung 1902), Penguin Books, 1995
Website:
www.weltwoche.ch/ (29.
8.96, Andreas Isenschmid über Urs Widmer)
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