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  Will self: spaß.

Will Self Spaß. Eine Moritat. Mathias Schenner ’97   Autor Kurzbiographie Will Self wurde 1959 in London geboren. Für den Erzählband “The Quantity Theory of Insanity” (bisher nicht auf Deutsch erschienen) wurde er 1992 für den John Llewellyn Rhys Prize nominiert, erhielt 1993 den Geoffrey Faber Memorial Prize und kam im selben Jahr mit 19 Kollegen auf die alle zehn Jahre neu erstellte Liste der “Best young British novelists”. Werke Auf Deutsch bisher erschienen: Cock & Bull (Ein Rührstück und eine Posse, 1995) Spaß. (Eine Moritat, 1997) Inhaltsangabe “An einem Ort, der kein Ort ist, und in einer Zeit, die keine Zeit ist, habe ich meine Kindheit verbracht.

An einem Ort, der gemeißelt und umrissen war vom wogenden Grün des Meeres und in einer Zeit, die nie Zeitlichkeit war, sondern immer Jetzt.”   Ian Wharton wächst ohne Vater (ein ehemals erfolgreicher Marketingexperte, der seine Frau plötzlich verlassen hat) bei seiner Mutter auf, die einen Wohnwagenpark in Saltdean betreut. Als Ian etwa elf Jahre alt ist, verbringt ein gewisser Mr. Broadhurst, ein unvorstellbar dicker, auffällig gekleideter und mit ungewöhnlich weitschweifender Rhetorik gesegneter Gentleman, erstmals die Wintermonate in diesem Park. Mit dem Beginn der jährlichen Besuche dieses Mannes setzt auch der wirtschaftliche Aufschwung des Wohnwagenparks ein, verbunden mit dem gesellschaftlichen und finanziellen Aufstieg Ians Mutter – “Aus dem Mittagessen wurde Lunch und aus dem Abendessen Diner.” Zu dieser Zeit etwa bemerkt Ian seine besonderen eidetischen Fähigkeiten; er besitzt nicht nur ein fotografisches Gedächtnis, sondern kann sich in den so erworbenen oder selbst geschaffenen Bildern (Räumen) frei bewegen, in sie gedanklich eindringen und so Plätze betrachten, die er visuell nicht wahrgenommen hat.

Mr. Broadhurst erfährt von der Ians Eidetik, spricht ihn darauf an und bietet ihm an, um seiner Erziehung willen “das Portefeuille seines Könnens einen Spaltbreit zu öffnen”. So beginnt Ians Lehrzeit bei Mr. Broadhurst, “so begann [...

] mein eigentliches Leben”, wobei sich bald dessen wahre Meisterschaft in eidetischen Angelegenheiten herausstellt. Dieser “Faustische Pakt” ist Anlaß für Mr. Broadhurst fortan von Ian “Der Dicke Kontrolleur” genannt werden zu wollen. Durch seine Bekanntschaft mit Dem Dicken Kontrolleur eröffnet sich Ian eine Welt des Schreckens und der Grausamkeit; obwohl auch Ian selbst hin und wieder zum mißhandelten Subjekt wird, betrachtet ihn sein Meister als Adepten und lehrt ihm die Grundzüge seiner immoralistischen Weltanschauung. Nichtige “Vergehen” werden vom Dicken Kontrolleur mit der Todesstrafe geahndet; so ersticht er eine Frau während eines Theaterbesuchs, weil sie es gewagt hat, ihm seine geräuschvolle Nahrungsaufnahme in einem Restaurant vorzuwerfen. Dieser Mord geschieht fast beiläufig, er erscheint gewöhnlich und selbstverständlich - freilich versteht es Mr.

Broadhurst, die Polizei zu täuschen, die konstatiert, daß “gewisse Aspekte des Todes dieser Frau zwar ungewöhnlich seien, daß eine Straftat aber nicht in Betracht gezogen werde.” Ians Interesse für Produkte und Verkaufsstrategien resultiert in einem Management- und Marketingstudium. Während seines Studiums lernt er June Richards kennen, eine junge Frau mit großem Interesse an Verkaufsstrategien; doch bevor sich eine engere Beziehung bilden kann, greift Mr. Boradhurst ein, verhindert die sich anbahnende Freundschaft (mittels seiner magischen Fähigkeiten) und verbietet Ian unter Zuhilfenahme harter Drohungen, in Zukunft Freundschaften zu schließen. Dennoch verblaßt die Figur des Dicken Kontrolleurs allmählich, da Ian ihn immer seltener und schließlich gar nicht mehr zu sehen bekommt. Einige Jahre vergehen und Ian glaubt jetzt, sich diesen Mann nur eingebildet zu haben, er glaubt ein eine komplexe Selbsttäuschung, der er durch die Abwesenheit des Vaters in seiner Kindheit erlegen sei, er glaubt, Mr.

Broadhurst mit so finsterer und umfassender Macht ausgestattet zu haben, um den chronischen Mangel an einem richtigen Rollenmodell zu kompensieren. Diese Zweifel an der Existenz seines ehemaligen Lehrmeisters lösen aber nicht die Ängste, die dieser durch seine Drohungen ausgelöst hatte; Ians Isolierung von der Gesellschaft und seine Kontaktunfähigkeit wird letztlich von einem besorgten Dozenten bemerkt, der ihm in einem Gespräch rät, den Psychiater Dr. Hieronymus Gyggle aufzusuchen. Dr. Gyggle erfährt von Ians eidetischen Fähigkeiten, die er mittels “Computer-Visualisierungs-Programmen” zu erforschen versucht, und schließlich auch von Mr. Broadhurst, den er für eine Erfindung Ians hält und die er ihm (vergeblich) durch eine Tiefschlaftherapie austreiben will.


Diese tagelang dauernden Tiefschlafsitzungen führen Ian in eine ganz spezielle Traumwelt, in das Land der Kinderwitze, die immer wieder mit der Realität verschmilzt. Er trifft dort nicht nur Dr. Gyggle wieder, sondern auch den Dicken Kontrolleur, die Ian gemeinsam davon überzeugen, daß alle Morde und Grausamkeiten Mr. Broadhursts in Wirklichkeit er selbst begangen habe, daß sie diese Dinge vertuscht hätten, weil bei ihm die Abteilung Selbstkontrolle chronisch unterentwickelt sei. So sehr Ian dies zuerst überrascht, so unerschütterlich fest glaubt er es bald; er glaubt, sogar Spaß an seinen Eskapaden gehabt zu haben. Analog zu seiner psychiatrischen Behandlung im Lurie Foundation Hospital verläuft Ians Beziehung zu Jane Carter; es ist seine erste Freundschaft mit einer Frau seit dem Verbot des Dicken Kontrolleurs - und dieser gewährt sie.

So heiraten Ian und Jane binnen weniger Monate, der Grausame und die Sensible. Jane erwartet ein Kind, und Ian ahnt die Geburt eines Monsters, eines neuen Dicken Kontrolleurs (bewirkt durch eine Genmanipulation Mr. Broadhursts) - weshalb er nur einen Ausweg sieht: er wird Jane verlassen, sie damit zur Abtreibung zwingen, und sich in New York niederlassen. “Dies ist [...

] das Resultat meines Lebens, das ruhige Vorstadthaus, die liebende, mir vertrauende Frau und ich, der ich [...] weiß, daß ich in Kürze das alles niederreißen und sie dabei zerreißen werde. Beharrlich habe ich diesen Augenblick [..

.] ersehnt. Es ist schön und gut sich zu berauschen, indem man Leute quält, sie schändet, ihnen unbeschreibliches Leid zufügt, aber wenn sie einen nicht einmal kennen, ist das eigentlich nicht viel wert.” Vorliegendes Werk Stoff Die Insel Sodor und die Lokomotivenmenschen Gordon, Henry, Edward, James – diese vermenschlichten Dampflokomotiven und ihr Dicker Kontrolleur sind in Großbritannien und in großen Teilen der englisch-sprechenden Welt bei Kindern und Erwachsenen sehr bekannt und, dank Merchandising, auf Tassen, Handtüchern, Schulmappen etc. so allgegenwärtig wie Mickey Mouse oder Superman. Es sind Figuren aus Geschichten, die The Reverend W.

Andry, ein anglikanischer Pfarrer, eigentlich für seinen masernkranken Sohn Christopher schrieb und die ab 1946 in Form von illustrierten Kinderbüchern einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurden. Inzwischen gibt es 38 dieser bebilderten Eisenbahnabenteuer, die letzten bereits von Sohn Christopher verfaßt, eine Fernsehserie und Videos. Obwohl in Stil, Graphik und Weltsicht nicht mehr unbedingt modern, gehören sie noch immer zur britischen Kinder- und Alltagskultur. Die Geschichten folgen dem bewährten Strickmuster aller antropomorphisierenden Märchen: Auf der Insel Sodor, einem fiktiven Land, das aber nach Geographie und Kultur nur zum britischen Inselreich gehören kann, erleben die Lokomotivenmenschen, Dampfloks unterschiedlicher Größe und Stärke, also verschiedenen Alters und Charakters, mit freundlichen Gesichtern auf der Front ihrer Kessel, diverse interessant-alltägliche Abenteuer unter der Oberaufsicht des Dicken Kontrolleurs, einem der wenigen echten Menschen in diesen Geschichten und einer Figur, die, so der Biograph des Reverend, Brian Sibley, “für die Lokomotiven [...

] einen ehrfurchterregenden, gottähnlichen Status hat, mit der Macht zu strafen und zu belohnen”. Will Self bedient sich also aus einem Bilderfundus, der jedem Briten aus seiner Kindheit präsent ist, er beschwört Erinnerungen herauf an die heile Welt dieser Geschichten und pervertiert diese, denn The Reverend Andrys Dicker Kontrolleur ist bei ihm kein gütig führender Gott mehr, sondern der tückisch verführende Teufel. Thema “Spaß” ist eine Satire auf die moderne Konsumgesellschaft und ein Rundumschlag gegen sämtliche vermeintlich positiven Errungenschaften unserer Zivilisation, indem ständig negative Auswirkungen dieser Errungenschaften das Bild bestimmen. Motive Realität oder Einbildung? “Der Dicke Kontrolleur zwang mir die Schlußfolgerung auf, daß der Anschein immer und in jeder Hinsicht trügt.”   Es gibt in diesem Buch keine exakte Trennlinie zwischen Wirklichkeit und Einbildung; die einzige Instanz, die diese ziehen könnte, ist Ian selbst - dieser scheint jedoch selbst nicht urteilsfähig. Er kann nicht einmal entscheiden, ob Der Dicke Kontrolleur tatsächlich existiert - oder ob zwar Mr.

Broadhurst (der Wintergast des Wohnwagenparks) existiert, der Dicke Kontrolleur aber (der diese Bezeichnung fordert und gräßliche Morde begeht) ein Produkt Ians Einbildung ist. Selbst die eidetischen Fähigkeiten, die sich Ian zuschreibt, könnten nur in beschränktem Maß vorhanden sein - so versagt er bei einigen Tests Dr. Gyggles jämmerlich, obwohl er sie zuvor für lächerlich einfach hält. Zu Beginn scheint alles eindeutig: Mr. Broadhurst kümmert sich um den jungen Ian und freundet sich mit dessen Mutter an; er scheint ein ziemlich gewöhnlicher, freundlicher Mann zu sein. Im selben Maß, wie die Beziehung zwischen Ian und Mr.

Broadhurst enger wird, wird dieser Mann unheimlicher; niemand weiß, wo er die Sommermonate verbringt, er betreibt alchemistische Experimente, er kann Gedanken lesen etc. Ians Kontakt mit einer Außenwelt jenseits der Sphäre Mr. Broadhursts verschwindet beinahe völlig. Das ändert sich jedoch schlagartig, als Ian zu studieren beginnt. Seine Unterhaltungen mit dem Psychiater Dr. Gyggle scheinen zu helfen, obwohl sich seine soziale Situation nicht wesentlich ändert - er glaubt aber an einen Erfolg, da er seine Beschäftigung mit dem Wesen von Produkten sowie mit Marketingstrategien als äußerst “wirklichkeitsverbunden” empfindet, Produkte sind für ihn die Realität schlechthin.

In dieser Zeit zweifelt er an der Existenz eines “Dicken Kontrolleurs”, kann sich aber nicht ganz von der Vorstellung lösen. Hier scheint die Figur des Dicken Kontrolleurs eindeutig eine ehemalige Einbildung Ians zu sein, alles spricht gegen ihre Existenz. Doch gerade in dem Augenblick, als sich alles eindeutig aufgelöst zu haben scheint, bricht alles wieder ein, indem Ians Lehrmeister aus dem Nichts wieder auftaucht. Die Ebenen überlagern sich, Ians Träume verschmelzen mit der Wirklichkeit, der Dicke Kontrolleur und Dr. Gyggle (der bisher Ian dessen Existenz ausreden wollte) treten als Verbündete gemeinsam auf. Ian selbst hält alles für wahr, an die Möglichkeit einer Einbildung denkt er nicht mehr - er wird vollends zum Schüler des Dicken Kontrolleurs, ihre Welten vereinigen sich und am Ende geht Ian selbst als Dicker Kontrolleur heraus - - oder ist alles nur Einbildung? Hat weder er, noch Mr.

Broadhurst diese Morde, diese Grausamkeiten begangen? Ist Ian Wharton nur ein gewöhnlicher Bürger, der sich seine nächtlichen Eskapaden nur einbildet? Es gibt darauf keine Antwort.   “Wirklichkeit – du kannst sie lieben, du kannst sie hassen, aber du kommst nicht ohne sie aus.” Das Böse Der Roman zeichnet das Bild einer Welt, in der Bosheit notwendig ist, um nicht verrückt zu werden oder psychisch zugrunde zu gehen. Der Dicke Kontrolleur fungiert als Symbol für das Böse, Jane Carter hingegen symbolisiert den gegensätzlichen Pol, der für Liebe, Sensibilität und Empfindsamkeit steht. Letzterer Pol kann aber in seiner ursprünglichen, eigentlichen Form nicht existieren; die Welt wird so vom Konkurrenzdenken der Menschen, vom Kampf der Firmen um Marktanteile, vom Kampf des einzelnen gegen den Rest der Welt bestimmt, daß sein Vorhandensein unmöglich ist. Übrig bleiben nur noch fast unsichtbare Anspielung auf etwas wie Liebe, vor dem Hintergrund einer kranken, gestörten Realität.

Das Böse hingegen, mit dem Dicken Kontrolleur als gewichtigen Führer, erstrahlt in voller Blüte. Wer sich diesem Pol nähert, kann sein Leben mit Genuß und Gewinn meistern. Auf der Grundlage eines “gesunden” Egozentrismus steht es jedem frei, so zu handeln, wie es gerade beliebt - diese Lebenseinstellung gipfelt im programmatischen Ausspruch des Dicken Kontrolleurs: “Wenn ich töten will, töte ich.” Marketing “Geld ist nur eine extreme und spezialisierte Form des Rituals.” (Mary Douglas)   Die in annähernd regelmäßigen Abständen eingestreuten Marketing-Satiren bilden die eigentliche Kernkritik des Romans am Zustand unserer Welt. An absurden Beispielen wird vorgeführt, wie unbedeutende Produkte durch gezielte Werbemaßnahmen derart propagiert werden, daß sie trotz ihrer sinnfälligen Funktionslosigkeit zu Verkaufsschlagern werden.

Zusätzlich wird die Leere des Gefühlslebens der im Marketingbereich angestellten angeprangert; diese Leere kompensieren sie durch immer härteres und härteres Arbeiten. “Ihre Kleinhirne waren [...] zu eisgekühlten Präsentationsgondeln geworden, zum Überquellen voll mit tiefgefrorenen Gedankenartikeln. Ihr Innenleben war eine Inszenierung, in der Ziele, Sehnsüchte, Träume und moralische Verwirrungen nichts als Product Placements waren, die um ihren bezahlten Auftritt im Sucher des Bewußtseins stritten.

[...] Sie unterteilten sich innerlich in sozio-ökonomisch klassifizierbare Kleingruppen positiv denkender Homunkuli, die gezwungen waren, spekulative Feldforschung zu betreiben, in Brainstorming-Sitzungen Phänomene zu analysieren und sich dann die krude Demonstration der nächsten Kleinen Idee anzuhören.”   Die wissenschaftliche Anschauung von “Marketing”, mit der es möglich wird “in einer Welt von so offensichtlicher Irrationalität eine vorhersagetaugliche Quantifizierung der Kaufentscheidung” der Konsumenten zu geben, wandelt sich zu einer religiösen Sichtweise - Marketing wird eine Weltanschauung, in der das Produkt eine zentrale Stellung einnimmt. Angestellte im Marketingbereich entwickeln einen unerschütterlichen Glauben an ein Produkt, egal um welches es sich handelt; Ian selbst erfaßt das “Universum der Produkte als primäres Konstrukt, als eine Raum-Zeit-Konfiguration, der sich das allgemeine Bewußtsein aufpfropft”.

Er ist davon überzeugt, daß die Gemeinsamkeit stiftende Kraft von Produkten stärker ist, als die der Sprache, des Fernsehens, der Religion, der Partei, der Familie, der Heimat, der Rache, der Macht, stärker als die “aller Parameter, die benutzt wurden zur Definition des zunehmend beliebigen Charakters der Hütten, aus denen das globale Dorf besteht.” Auf den Straßen kommt es zu “Schauspielen unentrinnbaren Kommerzes”, wohin man blickt, werden Schecks unterschrieben, Kreditkartenformulare und Bestellzettel ausgefüllt etc. “Es war, als hätte der Tausch die Sprache als primäre Kommunikationsform ersetzt und die Leute verkauften aneinander, um an ein paar Worte zu kommen.” Gewalt “Die Finger fuhren in Bob Pinners Augen und zerquetschten die Äpfel, so daß die Flüssigkeit herausspritzte. Sie stießen weiter, die zerfetzten Netzhäute auf den Kuppen, folgten den gewundenen Tentakeln der Sehnerven und stachen direkt in Pinners Hirn. Er war tot in weniger als einer Sekunde, aber im letzten Viertel davon litt er mehr Schmerzen, als Sie sich je vorstellen können, und in der vorletzten Viertelsekunde mehr Furcht und Todesangst, als Sie sich je ersinnen können, auch wenn Sie allein in einem dunklen Zimmer liegen und kühl und rational über das Grauen nachdenken, das die Zukunft womöglich für sie bereithält - für Sie allein.

”   Beschreibungen von grausamer Gewaltanwendung und Brutalität durchziehen das gesamte Werk. Sie betonen meist psychische Extremsituationen, in die Ian Wharton getrieben wird. Daß er zu so skrupelloser Gewalt neigt, ist nicht selbstverschuldet, sondern eine Reaktion auf die gefühlskalte Welt, der er gegenübersteht. Er kann dem nicht mit Liebe begegnen, sondern antwortet mit erbarmungsloser Brutalität. Zeiten der Reue sind selten, meist spricht Ian von einem Riesenspaß, den er daran hätte, Menschen und Tiere zu quälen oder töten. - “Es gibt so wenig echte Ekstase in der modernen Gesellschaft - warum sollte ich mich meiner kleinen Fehltritte schämen, wo doch der Welt soviel sinnloses Leid aufgezwungen wird, und das von Leuten, die nicht einmal die Möglichkeit haben, es zu genießen?” Spaß “Wir sind wie Kokser oder chronische Masturbatoren, nicht? Versuchen, aus einem an sich hohlen und mechanischen Vorgang das letzte Quentchen Ekstase herauszupressen [.

..] und wir spüren nichts. Nicht gerade nichts, Schlimmeres als nichts, wir spüren ein Flackern oder Prickeln, das sinnliche Äquivalent eines retinalen Nachbilds. Das ist jetzt unser Spaß, nicht der Spaß selbst, nur eine müde Anspielung darauf.”   Schon die paradoxe Nebeneinanderstellung der Worte “Spaß” und “Moritat” im Titel des Romans zeugt der zentralen Bedeutung dieser Verbindung in diesem Buch.

Ian Wharton erweist sich als unfähig, Spaß auf herkömmliche Weise zu empfinden. Für ihn existiert Spaß nur mehr in sadistischer Gewaltanwendung. Spaß existiert nicht mehr in einer Gemeinschaftsform, Spaß ist individuelles Vergnügen, absolutes Auskosten der eigenen Macht - am besten auf möglichst hohen Kosten möglichst vieler anderer. Ian kann echten Spaß nur noch in Extremsituationen empfinden, er spricht von “Holocausts en miniature”. So geschieht die schon nicht mehr groteske, sondern schreckliche Vereinigung von Spaß und Gewalt.   “Ich habe mir tausendmal eingeschärft, nicht entsetzt zu sein, aber jedesmal bin ich wieder entsetzt darüber, was Leute tun, um Spaß zu haben, aus Gründen, die sie nicht erklären können.

” (Isaac Bashevis Singer) Fetter Körperbau “Ohne die Polsterung des Embonpoints ist der Körper nichts als eine skelettale Spiralfeder, die einem jeden Augenblick die eigene Sterblichkeit entgegenschleudern kann.”   Angesichts des Äußeren der einzelnen Figuren, könnte man meinen, der Grad an Bosheit einer Figur sei direkt proportional zu deren Körpergewicht. Ungeschlagen an der Spitze steht der Dicke Kontrolleur, dessen Brust einem Faß und dessen Kopf und Glieder fünf kleineren Fässern ähneln. Seine Kompaktheit beruht auf “vergrößerten Organen, die ihn vollständig ausfüllten, ein Doppelherz wie ein Kompressor, eine Leber von der Größe und dem Gewicht eines Medizinballs und Meter um Meter feuerwehrschlauchdicker Gedärme” . Ähnlich verhält es sich mit Ian Wharton, während Jane Carter hier wieder einen Gegenpol darstellt. Schauplatz (Milieu) Saltdean Ians Eltern hatten sich nach seiner Geburt in Saltdean auf einer Klippe (Cliff Top) niedergelassen und dort einen Wohnwagenpark gegründet.

“Ich sage Klippe, aber eigentlich war es ein monströses Rasenstück [...]. Auf dem Rasenstück saßen die miteinander verwachsenen Stadtlandschaften der beiden Seebäder Saltdean und Peacehaven. Dahinter lag die Hügelkette der South Downs.

” “Es war eine Landschaft [...], wo alles, was provisorisch aussah, in Wahrheit von Dauer war, und allem, was dauerhaft aussah, bereits der Abriß bevorstand.” Milieu “In einem Zimmer die Junkies und im anderen die Marketingspezialisten. Oberflächlich betrachtet ein ziemlicher Gegensatz, aber im Grunde genommen sind beide mit derselben Sache beschäftigt -”   Ein Großteil der vorkommenden Personen sind exzentrisch veranlagt, gesellschaftliche Außenseiter oder leiden an psychischen Störungen.

Angestellte im Marketingbereich erscheinen besonders abnorm und sind fast schon als Karikaturen zu verstehen. Ians Mutter bildet insofern eine Ausnahme, als sie durch ihren plötzlichen Reichtum (durch den Aufschwung ihres Wohnwagenparks) eine angesehene Person, und damit in das gesellschaftliche Leben integriert wurde. Ian macht schon früh Bekanntschaft mit solchen Klassifizierungen - “Die Gesellschaft meiner neuen Schule, wie die des gesamten provinziellen England, war so erbarmungslos kodifiziert und stratifiziert, daß ich mir einen Menschen nicht vorstellen konnte, dessen Herkunft und emotionaler Stellenwert nicht eindeutig feststanden.” Figuren Ian Wharton “[Es] wird mir klar, daß mein Leben nichts anderes gewesen ist als ein langatmiger Filmvorspann, und daß die dürftige Charakterisierung genau das war, was der Regisseur für einen Statisten wie mich wollte.”   Ian Wharton, die zentrale Figur des Romans, sieht sich selbst als gespaltene Persönlichkeit. Mit scheinbarer Leichtigkeit entscheidet er über Wirklichkeit und Einbildung, denn für ihn ist “alles nur eine Frage des Willens”.

Wenn er es wünscht, nimmt er den Dicken Kontrolleur als real an; er sieht sich dann als den aktiven Partner in ihrer Beziehung, als denjenigen, der Mr. Broadhurst überredet hat, ihn in die dunklen Künste einzuführen, als den unbarmherzigen Mörder. “Über fünf Jahre lang gab es keine Woche ohne eine meiner Eskapaden. Morde, Mißhandlungen, Kindesentführungen, Überfälle, willkürliche Erpressungen, es gab nichts, was ich nicht versuchte.” Das alles nur aus Lust am Verletzen, nur um Spaß zu haben, denn “es gibt so wenig echte Ekstase in der modernen Gesellschaft - warum sollte ich mich meiner kleinen Fehltritte schämen, wo doch der Welt soviel sinnloses Leid aufgezwungen wird, und das von Leuten, die nicht einmal die Möglichkeit haben, es zu genießen?” Wenn Ian jedoch an seine Eskapaden nicht glauben will, verschwindet das Wissen darum aus seinem Gedächtnis. “Ach, und dann traf der Faultank auf die Umwälzpumpe, ich wurde ängstlich, schuldbewußt und gehetzt.

Mehr als besorgt um meine geistige Gesundheit. War ich vielleicht wirklich eine Borderline-Persönlichkeit [...]?” Damit bleibt Ian stets nur die Wahl, böse oder verrückt zu sein - eine andere Lösung gibt es nicht.   Ian entscheidet sich für die Bosheit; er nähert sich im Lauf seiner Entwicklung konsequent einem Höchstmaß an Bosheit und Grausamkeit an (das gipfelt am Ende des Romans vorläufig mit der psychischen Gewalt an seiner Frau, die er im Stich läßt), wobei die Figur des Dicken Kontrolleurs als Endziel angesehen werden kann, nach dem er strebt - der Dicke Kontrolleur ist das personifizierte Böse, der Teufel.

Dabei erscheint Ian anfangs als passiver Protagonist, der vom Dicken Kontrolleur geleitet wird - ob der tatsächlich existiert oder ob er eine Erfindung Ians ist, mit dessen Hilfe er anfängliche Schuldgefühle und Zweifel an seiner Brutalität verdrängt, ist bedeutungslos. Wesentlich ist seine Entwicklung vom unschuldigen Volksschüler zum konsequenten Sadisten.   Der Leser wird zu dazu gedrängt, Ian als gesellschaftsuntüchtigen Ausnahmefall zu sehen, sogar die Selbstzeugnisse Ians fördern eine solche Einschätzung: “Schließlich ist meine Identität vermikularer Aufwurf, meine Seele von Würmern zerfressen.” Und doch kann man sich zu keiner vollständigen Verurteilung durchringen; sein Handeln wird, wenn schon nicht ganz verständlich, so doch ein wenig erklärlich durch sein soziales Umfeld, seine Isolation von der Gesellschaft und seine Beziehung zum Dicken Kontrolleur - er kennt keine Freundschaft. Zu Menschen hat er kaum Kontakt, er flüchtet sich in die begreifliche Welt der Produkte, beschäftigt sich mit Marketingtheorien - er mein selbst: “Dinge hatten mich immer mehr interessiert, viel mehr als Menschen.” Aus dieser Perspektive besehen, wirkt es überraschend menschlich, wenn er darlegt: “Ich mag getötet haben, ich mag gequält haben, ich mag Ungeheuerliches begangen haben, aber es hat auch mir weh getan.

Nicht so sehr, wie es meinen Opfern weh getan hat, das gebe ich zu, aber es hat mir weh getan. Ich fühlte es ihnen nach [...] allen und jedem.” Der Dicke Kontrolleur (alias Mr.

Broadhurst alias Samuel Northcliffe) “Es ist wichtig, daß du den bestimmten Artikel und das Attribut großschreibst - auch in Gedanken -, verstehst du mich?”   Der Magus des Alltäglichen, Brahman des Banalen, Dharmakaya des Drögen, Tieresias der Transmigration, Vajrasattva der Verlorenen Seelen bzw. der Manitu der Malefizienz, um nur eine kleine Auswahl aus seinen bevorzugten Selbstbezeichnungen zu geben, betrachtet sich als einen der größten Rhetoriker aller Zeiten (seltener als Gandolf des Galimathias), während andere ihn eher als “Beelzebub des Blabla” ansehen - derart ironische Anspielungen aber in seiner Gegenwart zu wagen, könnte lebensgefährlich werden, denn er duldet keine noch so feinen Angriffe gegen seine Person.   Über Identität dieses Mannes ist wenig bekannt - oder zuviel, denn er ist nicht nur der unfaßbar dicke Mr. Broadhurst, der jeden Winter in Saltdean verbringt und dort als freiwilliger Helfer in einem Blindenheim lobenswerte Arbeit verrichtet, sondern auch Samuel Northcliffe, ein milliardenschwerer Geschäftsmann, dem, schenkt man den Zeitungen Glauben, schon fast die halbe Welt gehört - und er ist auch der Dicke Kontrolleur, das Gestalt angenommene Böse. Als solcher verfügt er über scheinbar unglaubliche Fähigkeiten, er kann Gedanken lesen, er ist ein Meister der schwarzen Magie - er läßt Menschen erstarren oder verschwinden, wie es ihm beliebt. Sein meisterhaftes Gedächtnis und seine herausragenden eidetischen Fähigkeiten, die Ians bei weitem übertreffen, scheinen angesichts dessen fast nebensächlich.

Daß seine Finger keine Abdrücke hinterlassen, ist bezeichnend für ihn - trotz seiner unzähligen Vergehen ist gegen ihn noch niemals ein Verdacht gehegt worden. Wer ihm das Rauchen verbietet, wird kurzerhand erschlagen; trotz seiner Körperfülle bereitet es ihm keine Schwierigkeiten, ein Opfer mit fast geschmeidigen Bewegungen zu fassen oder zu erdrosseln. Prinzipiell überlebt keiner, der es wagt, den Manitu der Malefizienz zu beleidigen oder kritisieren - wie er meint, berechtigt, denn “die Menschen sind nicht alle gleich” Vor dem Mord an einer Frau erklärt er Ian: “Ihre moralische Verantwortlichkeit entspricht nicht der unseren, und deshalb besitzt sie auch nicht dieselben Rechte.” - Er selbst sei nämlich “im Besitz von Kräften, die dem Mann von der Straße ehrfurchterregend, übermenschlich, vielleicht sogar gottgleich erscheinen mögen. Natürlich geht mit diesen Kräften ein erhöhtes moralisches Bewußtsein einher.” - Dennoch gilt als Grundsatz: “Wenn ich töten will, töte ich.

” Ian - Der Dicke Kontrolleur “‚Und was ist mit diesem Mann? Dem großen, dicken Mann, der all den Maschinen sagt, was sie zu tun haben? Wie heißt der, Ian?‘ - ‚Dig-ga Kor-rol-lä! Dig-ga Kor-rol-lä!‘ Ich schwelgte in diesen Silben. Ich trällerte und schrie sie.”   Wenn Ian meint, er sei “des Satans Schüler”, so liegt er damit ganz richtig. Doch der Dicke Kontrolleur ist nicht nur sein Lehrmeister und Mentor, sondern auch ein Vaterersatz. Sowohl Ian, als auch der Dicke Kontrolleur sind sich dessen bewußt - letzteren erfüllt die Vorstellung zwar nicht mit Freude, allerdings verspürt er, wie er Ian mitteilt, wie jeder biologische Vater, das Bedürfnis, sein Vermächtnis weiterzugeben. Seine Wahl fiel auf Ian, weil diesen seine Eidetik, seine ungewöhnliche Fähigkeit zur mentalen Bilderzeugung, vor allen anderen Kandidaten auszeichnete.

Der Dicke Kontrolleur vergleicht sich ständig mit Ians leiblichen Vater, den er für einen “nichtswürdigen Essener, eine klösterliche Null [hält], die kaum zum armseligsten Kontakt zu seinen Mitmenschen fähig ist.” Er gibt aber nicht nur Ians Vater, sondern auch seiner eigenen Einflußnahme die Schuld dafür, daß Ian sich in einer isolierten Lage befindet, ausgeschlossen von der normalen Gesellschaft: “Hätte ich auch nur einen Funken Verantwortungsgefühl, wäre allein schon dieser Faktor ein gewichtiges Argument für meinen Rückzug”. Jane Carter “Das Trauma war über sie gekommen wie der Inkubus selbst.”   Jane Carter bildet den Gegenpol zum Dicken Kontrolleur. Sie ist eine ungewöhnlich sensible Person, die an der Alltagsbrutaltität der Welt scheitert - schon in der Kindheit wird sie von ihrem Bruder unterdrückt, gedemütigt und enttäuscht, ohne daß dieser bemerkt, wie sehr er sie dadurch zerstört. Aus ihr wird eine “attraktive junge Frau, keine auffallende Schönheit, denn das hätte bei ihr zu unzweckmäßigen Komplexen geführt.

” Zurückhaltung und Bescheidenheit bestimmen ihr Handeln, sie bleibt stets passiv. In ihr schlummert die potentielle Macht, Ian von seinem Bosheitswahn zu befreien, die sie allerdings nicht nutzen kann. Sie wird gehemmt durch negative Umwelteinflüsse, durch die Janes Leben zu einer Aneinanderreihung von traumatischen Erlebnissen gestaltet wird. In ruhigeren Zeiten droht sie in tödlicher Melancholie zu versinken und leidet an Minderwertigkeitskomplexen. Ebenso wie Ian ist sie isoliert von jedweder Gesellschaft, allein ihre Arbeit in einem Wollgeschäft bringt ihr Befriedigung - sie flüchtet sich ins Stricken, Häkeln, Sticken und Weben, wie Ian in die heile Welt der Produkte, des Marketings. Erzählform - Erzählperspektive Der Roman ist in zwei Teile getrennt, wobei der erste Teil in der Ichform aus der Sicht Ian Whartons, der zweite Teil in der dritten Person geschrieben ist.

Daß dieser formale Wechsel mit dem Inhalt korreliert, bezeugt die Abkehr vom Seelenleben des Protagonisten zugunsten eines handlungsbetonteren zweiten Teils - “Denn jetzt, Ian Wharton, jetzt, da du nicht mehr Subjekt dieser Moritat bist, sondern nur noch ihr Objekt, jetzt, da du nur noch ein unproduktives Atom bist, das aus dem Fenster einer Produkt-Monade starrt, jetzt, da du bist, wo ich dich haben will, jetzt laß das Spektakel beginnen.” Die Identität des übergeordneten Erzählers, der hier spricht, bleibt im Dunkeln; der eigentliche Erzähler des ersten Teils ist Ian selbst. Dabei wendet er sich relativ oft an den Leser, eingangs bezeugt er, ein “großer Befürworter der Publikumsbeteiligung” zu sein, die allerdings erst ganz am Ende wieder aufgegriffen wird: “Was wollen Sie? Ach ja, Ihre Gelegenheit zum Mitmachen, wie dumm von mir, das hätte ich fast vergessen ...” - Diese Beteiligung des Lesers beschränkt sich jetzt aber darauf, den Fortgang Ians Lebens im Kopf zu entwerfen und betont somit lediglich den offenen Schluß.

Der Leser wird von Ian nicht richtig ernst genommen, als “kleinmütiger, zögerlicher, gegen dunkle Suaden verschlossener Leser” eingestuft und nicht selten beleidigt. Der Erzähler fühlt sich überlegen und warnt zu Beginn vor der Gewalt seiner Erzählung: “Ich werde nicht in der Lage sein, Ihnen an diesem Ort zu helfen, und, wenn ich das sagen darf, will es auch gar nicht.” Auch das eigene Schreiben wird hin und wieder thematisiert, meist selbstkritisch und die Metaphorik des Textes unterstützend - “Die Zeit ist ein zerfleddertes altes Akkordeon, mißbraucht von einem besoffenen Straßenmusikanten; glücklos schnauft es ein und aus, drängt Ereignisse eng zusammen und zieht sie dann wieder weit auseinander. Und natürlich ist die Zeit auch wie diese Metapher, formelhaft, flach, schlecht durchdacht.”

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