"der besuch der alten dame"
“Der Besuch der alten Dame“
Friedrich Dürrenmatt „Der Besuch der alten Dame“
FRIEDRICH DÜRRENMATT
Autor Friedrich Dürrenmatt wurde am 5. Januar 1921 in Konolfingen, Bern, geboren. Er kam aus einer ziemlich einfachen Familie. Sein Vater war protestantischer Pfarrer, seine Mutter Hausfrau. Ulrich Dürrenmatt, sein Großvater, war Redakteur einer Zeitung und Verfasser satirischer Gedichte. Von 1933 bis 1935 besuchte Dürrenmatt die Sekundarschule im Nachbardorf Großhöchstetten.
1935 zog seine Familie nach Bern um. Er war zunächst Schüler am freien Gymnasium, zweieinhalb Jahre später wechselte er in das Humboldtianum. Maturität: Studium 1941/42 Literatur und Philosophie in Bern, 1942/43 Philosophie in Zürich, 1943 - 1945 Philosophie in Bern. Studien über Kant, Aristoteles, Plato, Kierkegaard. Ein besonderes Interesse hatte er für G.E.
Lessing. 1943 machte er erste schriftstellerische Versuche. Drei Jahre später, im Jahre 1946, heiratet er die Schauspielerin Lotti Geißler. 1950 schrieb Dürrenmatt seinen ersten Kriminalroman: Der Richter und sein Henker Ein Jahr darauf entstand der zweite Kriminalroman von Dürrenmatt: Der Verdacht. Die erste Dürrenmatt Aufführung in einer anderen Sprache, Les Fous de Dieu (Es steht geschrieben), fand 1952 im Pariser Thèâtre des Mathurins statt. 1968 Beginn der Theaterarbeit in Basel.
Im April 69 erkrankte Dürrenmatt und Differenzen mit der Direktion störten die Basler Theaterarbeit. Von November 69 bis Jänner 70 machte Friedrich Dürrenmatt eine große Anzahl von Reisen in die verschiedensten Länder. Im Dezember 1980 Werkausgabe in 30 Bänden, Diogenes Verlag Zürich. 1981 feierte Friedrich Dürrenmatt seinen 60. Geburtstag. Am 16.
Jänner 1983 starb seine Frau Lotti und am 20. März bekam er den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur. 1984 heiratet er die Filmemacherin, Schauspielerin und Journalistin Charlotte Kerr. 1990 verschenkt Friedrich Dürrenmatt seinen literarischen Nachlaß an die Schweiz. Turmbau-Stoffe IV - IX Mit 69 Jahren, am 14.Dezember, starb Friedrich Dürrenmatt an einem Herzinfarkt in Neuchâtel.
Er erhielt zahlreiche Literaturpreise im In- und Ausland. Die wichtigsten Romane: - Der Richter und sein Henker (1952) - Grieche sucht Griechin (1955) - Die Panne (1956) - Das Versprechen (1958)
Inhaltsangabe
In Güllen, einer heruntergekommenen und wirtschaftlich erbärmlichen Kleinstadt in der Schweiz, erwartet man einen hohen Gast. Die als wohltätig bekannte Multimilliardärin Zachanassian will ihrer Heimatgemeinde einen Besuch abstatten. Ein Jugendfreund, namens Alfred III, soll Klara Wächter, der frühere Name der Dame bevor sie einen armenischen Ölbaron heiratete, zu einer großzügigen Spende zugunsten der Stadt überreden. Nach dem improvisierten, armseligen Empfang durch den Bürgermeister werden der Milliardärin Arzt und Lehrer vorgestellt, bevor sie von ihren Dienern in einen Sänfte in die Stadt getragen wird. Während Unmengen von Koffern, die mitsamt einem schwarzen Panther und einem Sarg ins Hotel geschafft werden, führen Alfred und Zachanassian im Konradsweilerwald ein Gespräch.
Alfred behauptet, sie damals vor 45 Jahren nur deshalb nicht geheiratet zu haben, weil er sie geliebt habe. Nur weil sie wegen ihm Güllen verlassen habe, sei sie heute so reich, und führe keine solch erbärmliche Existenz wie er. Nach ihrer Rückkehr hält der freudestrahlende Bürgermeister eine Rede im einzigen Gasthaus, dem Goldenen Apostel. Zachanassian verspricht, scheinbar gerührt, Güllen eine Milliarde zu schenken; aber nur unter einer Bedingung: Sie will Gerechtigkeit. Ihr Butler Boby, der ehemalige Oberrichter, tritt vor und erklärt: Alfred III habe im Jahr 1910 eine Vaterschaftsklage von Klara Wächter nur dadurch verhindert, daß er zwei Zeugen bestochen habe, zu seinen Gunsten auszusagen. Er führt die beiden herein.
Sie sind entmannt und geblendet. Die Bedingung der Milliardärin lautet: Eine Milliarde dafür, daß jemand Alfred III tötet. Am Ende des ersten Aktes lehnt der Bürgermeister entsetzt ihr Angebot ab, sie aber antwortet gelassen, daß sie abwarte. Alfred III ist sich der Unterstützung seiner Mitbürger sicher und denkt nur an Solidarität gemäß dem Motto „Einer für alle, alle für einen“, wenn in seinem Laden plötzlich Schokolade, besserer Schnaps und teurerer Tabak verlangt und auf Kredit verkauft wird. Als auf einmal alle neue Schuhe tragen, wird er mißtrauisch. Er geht zur Polizei und verlangt die Verhaftung der Milliardärin wegen Anstiftung zum Mord, doch der Polizist, aus dessen Mund ein neuer Goldzahn bleckt, erklärt seine Befürchtungen für unbegründet.
Der Bürgermeister nimmt gerade eine neue Schreibmaschine in Empfang, als Alfred ihn aufsucht. Auch dieser erklärt, daß seine Furcht unnötig sei, obwohl man durchaus den Standpunkt der Dame verstehen könne, die er ins Elend gestürzt habe. Da der schwarze Panther der Milliardärin ausgebrochen ist, schleicht die gesamte männliche Bevölkerung Güllens mit Gewehren herum. Alfred hat nun Angst um sein Leben und flieht zum Pfarrer in die Sakristei, doch als er auch dort das Läuten einer zweiten neuen Glocke vernimmt, bestürmt ihn der Gottesmann, die Güllener nicht durch sein Bleiben in Versuchung zu führen. Alfred beschließt zu fliehen; auf dem Weg zum Bahnhof aber schließen sich ihm mehr und mehr Bürger an, um sich von ihm zu „verabschieden“, wie sie vorgeben. Alfred wird immer unruhiger, als sich die Menschenmenge um ihn schart.
Sobald der Zug eintrifft, befällt Alfred die Angst, daß man ihn am Einsteigen hindern wolle. Keineswegs sei das der Fall, wird ihm versichert. Der Zug fährt ab, III bricht zusammen, bedeckt sein Gesicht und wimmert, daß er verloren sei. Der Vorhang des zweiten Aktes fällt. Der Arzt und der Lehrer suchen noch einmal die Milliardärin auf und schlagen ihr ein Geschäft vor. Sie müsse keine Milliarde verschenken, um Güllen zu retten; kaufe sie die Wagenwerke und die Platz-an-der-Sonne Hütte, sei beiden Seiten gedient, ohne daß Blut fließe.
Doch da ihr alles bereits seit Jahren gehört, ist auch diese letzte Alternative unmöglich geworden. Zachanassian heiratet im Dom zu Güllen ihren bereits IX. Ehemann. Dementsprechend viele Journalisten und Reporter sind gekommen. Die Bevölkerung, die sich zusehends in immer größere Schulden stürzt, ist bemüht der Presse den Handel um Alfred , den sie nun offen verachtet und für das „namenlose Unglück von Klara“ verantwortlich macht, vorzuenthalten. Dennoch bekommen zwei Pressemänner Wind von Alfreds einstiger Beziehung zu Zachanassian und platzen in seinen Laden.
Doch Alfred schweigt - und bringt den Lehrer, den einzigen der noch um Menschlichkeit und Wahrheit bemüht ist, zum Schweigen. Er hat die Furcht abgelegt, ist sich seiner Schuld bewußt und hat sich mit seinem Schicksal abgefunden. Der Bürgermeister teilt Alfred mit, daß eine Gemeindeversammlung über ihn abgehalten werde. Da das Fernsehen zugegen sein werde, stimme man der Form halber über eine Stiftung, in Wirklichkeit aber über ihn ab. Alfred III erklärt sich mit jedem Urteil einverstanden, lehnt es aber ab, sich, wie vom Bürgermeister vorgeschlagen, selbst zu richten. Ein letztes Mal trifft er Klara im Konradsweilerwald.
Sie sprechen über ihr gemeinsames Kind, das im Alter von einem Jahr, gestorben ist, nachdem sich Alfred aus der Verantwortung gezogen hat. Da er um seinen nahen Tod weiß, eröffnet ihm seine einstige Geliebte, daß sie für ihn ein Mausoleum auf Capri errichtet hat, in das sie ihn bringen wird. Die Versammlung wird eine perfekte Inszenierung für Radio und Fernsehen; die Abstimmung verläuft einstimmig. Die Presse wird in ein Restaurant gelotst, die Türen des Versammlungssaales verschlossen. Die Güllener bilden eine Gasse und ermorden gemeinsam den Unglücklichen, als er diese entlangschreitet. Den Reportern erklärt man: Tod durch Freude.
Während man Alfred endlich in den so lange leer gebliebenen Sarg legt, wird der Scheck überreicht.
Stoff
Die Moral hat sich seit dem Ende des Grauens des Zweiten Weltkrieges nicht wesentlich verändert und trägt noch immer dasselbe Gesicht. Die Menschen sind käuflich, manipulierbar, Gerechtigkeit ist eine Ware, für die man bezahlen muß. Dürrenmatt versucht mit Satire und Kritik die Gesellschaft wachzurütteln; er macht aufmerksam auf die Gefährdung durch jene Mächte, die sich der Mensch selbst geschaffen hat. Tatsache ist, daß in der vom Krieg verschont gebliebenen Schweiz, die dadurch die Entwicklung zur Wohlstandsgesellschaft schneller und rapider durchmachte als ihre Nachbarländer, viel früher offensichtlich wurde, daß Fortschritt zugleich auch Zerstörung bedeutete. Dürrenmatt reagiert mit diesem Stück kritisch auf die allgemeine Entwicklung der westlichen Welt.
Thema
Die unumschränkte Macht des Geldes in der heutigen, materialistisch eingestellten Gesellschaft, sowie die Macht und Verführung desselben.
2. Die Geschichte des schuldigen Alfred III, der dazu gelangt, seine Schuld zu erkennen und zu sühnen.
Ort der Handlung
Das Stück spielt in Güllen, einer Kleinstadt irgendwo in Mitteleuropa, zumindest wenn man Dürrenmatts Anmerkung Glauben schenken darf; Kritiker und Verfasser von Sekundärliteratur sind sich dagegen einig, daß dieses „Irgendwo“ nur die Schweiz sein kann. Der Name Güllen leitet sich vom im landwirtschaftlichen Bereich gebrauchten Wort „Gülle“ für Jauche ab.
Klara Wächter alias Claire Zachanassian
Klara (lat.
clarus = hell, berühmt), die Tochter des Baumeisters Gottfried Wächter, hatte 45 Jahre vor der Gegenwart der Handlung des Stückes eine Liebesaffäre mit Alfred III. Sie wird schwanger und klagt ihn in einem Vaterschaftsprozeß, doch er entzieht sich seiner Verantwortung. Sie muß gedemütigt Güllen verlassen und verkommt zur Dirne in einem Hamburger Bordell. Dort fand sie der armenische Ölmilliardär Zachanassian und machte sie zu seiner Frau und Erbin. Anfangs sehen die Güllener in ihr eine Wohltäterin, die Spitäler, Kirchen und Kinderkrippen spendet, deren hilfreiche Millionen ihnen sicher sind, so sie nur alles geschickt und psychologisch inszenieren. Doch Zachanassian enttäuscht alle auf Egoismus und Eigennutz gebauten Illusionen; sie bringt nicht Güte, sie will Rache.
In allen Komplimenten und Reden erkennt sie die Lüge sofort und stellt sie ungeniert, auch auf ihre Kosten, richtig. Nach Auto- und Flugzeugunfall verstümmelt, scheint sie nur noch aus Prothesen zu bestehen, was sie einem Kunstmenschen, einer gefühllosen Maschine ähnlich macht. Sie steht gewissermaßen über den Dingen und ist durch ihr Wirken fähig, andere Menschen zu Fall oder zur Erfüllung ihrer Wünsche zu bringen. Alfred Ill Er ist der Krämer der Stadt und anfangs ganz gleich im Wesen, wie seine Güllener Mitbürger. Durch seine einstige Beziehung zu Klara Wächter traut man ihm am ehesten zu, der Heimatstadt die Millionen zu holen. Seiner Schuld ist er sich nicht mehr bewußt; er glaubt, das Leben hätte sie von selbst getilgt.
Anfangs überschätzt er sich maßlos, nimmt geschmeichelt das Lob der Freunde auf, und glaubt durch Verfälschen der Vergangenheit und Mitleidheischen für seine Existenz, von Zachanassian eine großzügige Spende für Güllen zu erhalten, die er dann als seinen alleinigen Verdienst hinstellen könnte. Doch er wird nur all zu bald von der Vergangenheit, die durch die Figur des anklagenden Oberrichter Hofers alias Butler Boby dargestellt wird, eingeholt. Das ist der Augenblick, von dem an, einer Gegenbewegung gleich, die Güllener in Unmoral versinken, während Alfred zum „Gewinn seiner Seele“ aufsteigt. Als er sich, von wachsendem Mißtrauen beunruhigt, an die Mächtigen des Ortes wendet, beginnt bereits seine Isolation, denn er wird von jedem enttäuscht. Fast unmerklich schlägt die Jagd auf den entlaufenen Panther der Milliardärin, in eine Hatz auf ihn um. Als Alfred am Ende des 2.
Aktes nach seinem zum Scheitern verurteilten Fluchtversuch zusammenbricht, erfährt sein Schicksal eine Wende. Tagelang von Angst gequält, erkennt er seine Schuld - und ist bereit seinen Tod als Sühne zu akzeptieren. Von da an läuft das Handeln der Güllener als auch jenes Alfreds unweigerlich auf diesen Endpunkt hin. Das Ergebnis ist zwar dasselbe, die Wege sind verschieden. Er lehnt den Selbstmord ab und erreicht durch die Gewißheit seines Todes Größe, denn gleichzeitig mit seiner physischen Vernichtung erreicht er eine moralische Persönlichkeit, die man dem Krämer nie zugetraut hätte. Sein Sterben ist „sinnvoll und sinnlos“ zugleich meint Dürrenmatt, „sinnvoll im mythischen Reich, aber nicht in Güllen, nicht in der Gegenwart.
Zwar stirbt der Krämer als tapferer Mensch, dennoch zeigt sich aber auch hier das Mißverhältnis zwischen begangener Schuld und zu leistender Sühne, das charakteristisch für die früheren Werke Dürrenmatts ist; denn Alfred hat durch sein elendes Leben, als seine im Stich gelassene Geliebte bereits Multimillionärin war, schon längst gebüßt. Ein Kritiker meinte dazu sinngemäß: „Die Verbindung zwischen dem sadistisch-rachsüchtigen Gott und der Gesellschaftskritik macht die Figur des Alfred Ill aus. Deshalb ist er die am schwersten zugängliche Gestalt.“
Der Bürgermeister Er repräsentiert die Stadt und verfügt über eine unbestreitbare Autorität. Er gibt die Anweisungen für das Begrüßungszeremoniell; für dessen Untergehen im Lärm des abfahrenden Zuges kann er nichts. Wenige Fakten aus der Biographie Klara Wächters genügen ihm, um eine schönfärberische Rede zu halten.
Daß er dabei die Tatsachen ins Gegenteil verkehrt und von der Milliardärin auch drauf hingewiesen wird stört den Selbstdarsteller herzlich wenig. Die Figur des Bürgermeisters ist ebensowenig böse, wie die der andern Güllener, doch auch sie ist schwach. An ihm vollzieht sich exemplarische eine Wandlung und Wendung. Als er am Ende des 1. Aktes pathetisch ausruft: „Lieber bleiben wir arm, denn blutbefleckt“, meint er dies genauso ehrlich, wie er mit dem Vorschlag zum Selbstmord an Alfred herantritt. Bei der Inszenierung des Urteils über Alfred wirkt er als Moderator für die Presse; es gipfelt in der verlogenen Diagnose: „Todes aus Freude“.
Der Polizist Den ausführenden Arm der Gesetze repräsentiert in Güllen der Polizist, in dessen Auftreten sich sowohl Anmaßung und Ergebenheit widerspiegeln. Einerseits versichert er der Milliardärin treuherzig, daß er manches Mal ein, wenn es sein müsse, auch zwei Augen zudrücke, andererseits erwartet Wachmeister Hahncke, daß die Mitbürger seine, ihm von der Uniform verliehene Autorität, anerkennen. Seinen großen Auftritt hat der Wachmeister, als ihn der verzweifelte Alfred aufsucht. Er tut aber die offensichtliche Anstiftung zum Mord als nebensächliche Schrulle ab, die jeder rationalen Begründung entbehrt; gleichzeitig zeigt sich aber auch bei ihm der neuerworbene Wohlstand in Form eines Goldzahnes und im Genuß Pilsener Bieres. Im Vergleich zum Bürgermeister steht er auf einer niedrigeren sozialen Stufe; das zeigt sich nicht zuletzt in seiner militärisch abgehackten Sprechweise und seinem Ausdruck („Erheben Sie sich, Alfred Ill“ ? „Steh auf, du Schwein.“).
Der Arzt Güllens Arzt, Doktor Nüßlin, besitzt das einzige Auto der Stadt. Sein Gesicht weist Mensurnarben auf; er selbst lehnte aus Verbundenheit zu seinem Heimatort einen Lehrauftrag an der Universität zu Erlangen ab. Zusammen mit dem Lehrer unternimmt er einen erfolglosen Versuch, die Milliardärin zum Einlenken zu bringen. Danach wird auch er zum Mittäter und trägt mit der Diagnose einer falschen Todesursache sein Scherflein zum Güllener Mordkollektiv bei. Der Pfarrer Für den Geistlichen stehen offensichtlich nichtssagende, religiöse Formeln im Vordergrund, nicht der Mensch zählt für ihn. Als der Bürgermeister von Zachanassian als einziger Hoffnung spricht, fügt er pflichtbewußt hinzu „außer Gott“.
Auch als Alfred voller Entsetzen in seiner Sakristei Schutz sucht, meint er nur: „Positiv, nur positiv, was Sie durchmachen.“. Das Erklingen einer neuen Glocke macht klar, daß auch der Pfarrer seinen Teil vom in Aussicht stehenden Wohlstand in Anspruch genommen hat. Doch noch einmal flammt ein Funke echten Christentums auf („Es tönt die Glocke des Verrats. Flieh, führe uns nicht in Versuchung, indem du bleibst“), ehe auch er sich den Mördern anschließt und dem Delinquenten kurz vor seiner Ermordung noch durch nichtssagende Phrasen Trost spenden will, den dieser freilich von ihm nicht mehr nötig hat.
Der Lehrer Der Direktor des Güllener Gymnasiums übertrifft mit seiner Präsenz die der anderen Würdenträger.
Ähnlich wie der Arzt lehnte auch er eine bessere Stellung ab und nahm auch am Bestreben teil, die Meinung der Milliardärin zu ändern. Von ihm, einem Humanisten und Altsprachler, Verehrer Platons, stammen auch die Bezeichnungen der Medea und Moire Klotho für Zachanassian. Er widersteht der Versuchung des großen Geldes am längsten und versucht Alfred zu helfen, was Kritiker zu der Feststellung brachte, er sei der einzig gute Mensch in diesem Stück. Alkoholisiert, um sein schlechtes Gewissen zu beruhigen, hat er seinen großen Auftritt in Alfreds Laden: Fest entschlossen, der nahenden Presse die Wahrheit zu erzählen („auch wenn die Armut ewig währen sollte.“), muß er von den Kunden und selbst Alfreds Familie zurückgehalten werden. Wieder nüchtern bekennt er seine Seelennot und weiß, daß auch er am unvermeidlichen Mord nicht unschuldig sein wird.
So ist es dann auch; vor den Kameras und Mikrophonen der Presse gibt er mit seiner blendenden Rhetorik dem Mord einen moralischen Untergrund, so hält er doch noch seine ihm zuvor verwehrte Rede - diesmal aber sarkastischerweise unter verkehrtem Vorzeichen.
Die gewöhnliche Bevölkerung Güllens
Die im Personenzeichen aufscheinenden Bürger Eins bis Vier müssen als „dramaturgische Mehrzweckwaffe“ herhalten. Zum einen verwendet sie Dürrenmatt, um Bäume, Rehe und ähnliches darzustellen (gemäß dem Brechtschen) epischen Theater, zum anderen individualisiert er sie in beschränktem Maße. Der erste verkörpert beispielsweise den Metzger Hofbauer, der zweite zeitweilig den arbeitslosen Helmesberger; ebenso wie Alfreds Frau Mathilde, Sohn Karl, Tochter Ottilie, der Maler, Fräulein Luise mit dem lockeren Lebenswandel und zwei Kundinnen des Illschen Krämerladens sind auch sie, wie bereits erwähnt, nicht böse, nur schwach. Wie alle nimmt die Gier von ihnen Besitz, ihr Wohlstand wächst und am Schluß stehen sie in Frack und Abendkleid mit in der Mördergasse und bewähren sich als brave Chorleute am Ende des Spiels. Die Vertreter der Presse Sie bezeichnet Dürrenmatt als die „Lästigen“; durch die Hochzeit der Milliardärin kommen sie scharenweise nach Güllen, auf der steten Suche nach neuen Stories.
Die in ihrer Doppelbödigkeit makabere Schlußversammlung im „Goldenen Apostel“ wird nur für sie, die Vertreter des Fernsehens und Hörfunks, in dieser Medienwirksamkeit inszeniert. Als „größtes soziales Experiment der Epoche“ sehen sie die Versammlung; die gesamte Verlogenheit dieser Szenerie wird auch dadurch zum Ausdruck gebracht, daß die Begründung des Urteils wiederholt werden muß (beim ersten Mal streikte die Beleuchtung)
Erzählform & Erzählperspektive
„Der Besuch der alten Dame“ ist ein Drama. Doch Friedrich Dürrenmatt unterscheidet sehr genau zwischen Theater und Literatur, welche „zwei gänzlich verschiedene Welten“ sind; hier ist also immer von der vom Autor als dichtere Fassung gebilligten Version die Rede. In seinem dramatischen Werk setzt Dürrenmatt gekonnt die Stilmittel des epischen Theaters ein. Das Werk ist in drei Akte gegliedert und in äußerlicher Hinsicht befinden sich die Bauelemente in der klassischen Abfolge des aristotelischen Dramas. Im ersten Akt werden in der Exposition die Personen und der Ort der Handlung vorgestellt; am Schluß steht das erregenden Moment, das Milliardenangebot, das schon auf einen künftigen Konflikt hindeutet.
Im zweiten Akt spitzt sich der Konflikt zu, die Güllener stürzen sich in Schulden, während Alfred bereits Schlimmes ahnt. Im dritten Akt erfolgt der Wendepunkt/die Wende. Nach dem mißlungenen Geschäft zwischen dem Lehrer und Zachanassian gibt es für Alfred keine Rettung mehr. Nachdem die grundsätzliche Entscheidung über die Lösung des Konflikts (Alfreds Tod) gefallen ist, wird die Handlung mit dem Gespräch zwischen Alfred und Klara im Konradsweilerwald kurz verzögert, ehe sie auf die Katastrophe zusteuert. Der Höhepunkt der Anteilnahme des Publikums, der mediengerecht inszenierte Mord soll zur Reinigung führen, die allerdings - hier weicht Dürrenmatt von Aristoteles ab - ausbleibt. Zu dieser beinahe klassischen Form fügt Dürrenmatt die Elemente des epischen Theaters: Vier Güllener Bürger spielen Bäume und Rehe, die Umbauten erfolgen grundsätzlich auf offener Bühne, sowie verfremdete Sprachmodelle, wie zum Beispiel beim scheinheiligen Schlußchor.
Trotz der komplizierten Dramaturgie des Stückes, geben die drei wesentliche Eckpfeiler, Antike, Christentum und Politik, diesem Struktur. Für die Antike steht die Gestalt der rachsüchtigen Medea in Form von Claire Zachanassian, Alfred Ill verkörpert eine weltliche Passionsfigur und das Mordkollektiv steht für die hier wenig schmeichelhaft beschriebene Politik. Jeder dieser Handlungsträger steht im Zentrum je eines Aktes. Im ersten Akt weiß Zachanassian um die Verlockung ihres allzu verführerischen Angebots, sie kann die Dinge sich entwickeln lassen: „Ich warte ab“. Der zweite Akt, im Zeichen Alfreds, endet mit dessen schauerlicher Erkenntnis „Ich bin verloren“. Den letzten Akt, die Güllener haben nun endlichen erhalten, was sie wollten, beschließen sie scheinheilig im Chorgebet „Damit wir das Glückliche glücklich genießen“.
Wirkung & Wertung
Die packende Wirkung des „Besuchs der alten Dame“ kommt vor allem durch die langsame Veränderung. Wie eine Seuche greift die Gier nach Geld und die Bereitschaft zu Mord um sich, scheint jeden zu erfassen und keiner, auch nicht der Lehrer, der ihm am längsten widersteht, gefeit ist.
Verständnis
Im allgemeinen ist das Buch sehr verständlich geschrieben und leicht zu lesen.
Verwendete Literatur Der Besuch der alten Dame, von Friedrich Dürrenmatt, Diogenes Verlag Königs Erläuterungen und Materialien zu Friedrich Dürrenmatt, C. Bange Verlag Neues Handbuch der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, dt Verlag Winkler Felix wfelix@gmx.net
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