Andreas dehio
Werkanalyse zu: E.T.A.
Hoffmann
“Der goldne Topf”
Inhalt
1. Einleitung 3
2. Der Inhalt des Märchens 4
3. Der Aufbau des Märchens 6
3.1 Die bürgerliche Welt 6
3.2 Die phantastische Welt 7
3.
3 Der Atlantis-Mythos 8
3.4 Die Welt des fiktiven Erzählers 9
4. Die Symbolik 11
4.1 Das Spiegelsymbol 11
4.2 Der goldene Topf 12
4.3 Das Kristall 12
5.
Der goldne Topf - ein Märchen? 13
5.1 Die “neue Zeit” im Märchen 13
5.2 Die märchenhaften Attribute 13
5.3 Der Erlösungsgedanke 14
5.4 Das Schauerliche 14
6. Die Botschaft 16
Herangezogene Literatur 17
1.
Einleitung
Das Märchen aus der neuen Zeit “Der goldne Topf” wurde zum ersten Mal 1814 als dritter Band der Sammlung “ Fantasiestücke in Callots Manier. Blätter aus dem Tagebuch eines reichen Enthusiasten. Mit einer Vorrede von Jean Paul” von E.T.A. Hoffmanns Verleger C.
F. Kunz veröffentlicht.
Der Text fällt somit in eine für die Familie Hoffmann sehr schwere Zeit. Da Hoffmann 1812 seine Stelle als Direktionsgehilfe unter Franz von Holbein am Bamberger Theater verliert, nimmt er 1813 ein Angebot des Dresdner Theaterdirektors Seconda an und wird somit Kapellmeister in Dresden. Auf der Reise nach Dresden kommt es zu einem Unfall, bei dem Hoffmanns Frau Maria Thekla Michaelina schwer verletzt wird. Als er in Dresden ankommt findet er eine von den Franzosen nach der Völkerschlacht in Leipzig besetzte Stadt vor.
Den folgenden Winter verbringen Hoffmann und seine schwerkranke Frau in großer finanzieller Not und unter ärmlichsten Bedingungen.
Trotz all dieser Widrigkeiten schreibt Hoffmann ein Werk, das als eines seiner größte literarischen Arbeiten gilt. In einem Brief an seinen Verleger Kunz vom 8. September 1813 erkennt er selbst: “Gott lasse mich nur das Mährchen enden, wie es angefangen – ich habe nichts besseres gemacht, das andere ist todt und starr dagegen und ich meine, daß das sich herauf schreiben zu etwas ordentlichem, vielleicht bey mir eintreffen könte!”
Das vorliegende Referat unternimmt den Versuch einer kurzen Analyse und erörtert die Frage: der goldne Topf – ein Märchen?
2. Der Inhalt des Märchens
Der Held der Geschichte, der Student Anselmus, ist ein Pechvogel, wie er im Buche steht. Zu Beginn der Handlung befindet er sich gerade an einer wichtigen Stelle seines Lebens.
Er muß sich nun, am Ende seines Studiums stehend, für einen Beruf entscheiden, und es ist auch an der Zeit, eine Frau zu finden.
Am Himmelfahrtstag am Schwarzen Tor in Dresden stößt er den Korb eines alten Apfelweibes um, so daß er den Schaden zu bezahlen hat. Dazu verwendet er das Geld, das eigentlich für ein Mahl im Linkischen Bade gedacht war. Statt sich der bürgerlichen Lustbarkeit widmen zu können, verbringt er den Nachmittag unter einem Holunderbusch am Elbufer, wo ihm drei singende goldgrüne Schlangen begegnen, die in Wirklichkeit die Töchter des Archivarius Lindhorst sind, der ein verstoßener Salamanderfürst aus dem sagenumwobenen Atlantis ist.
Durch Vermittlung des Registrator Heerbrand erhält Anselmus eine Anstellung bei Lindhorst, wo er für einen hohen Lohn Schriften aus dessen Bibliothek zu kopieren hat. Dort malt er mit Hilfe von Linhorsts Tochter Serpentina fremdartige Schriften ab, die ihm zunehmend einfacher erscheinen.
Im Verlauf der Arbeit beginnt er diese zu verstehen. Die Texte zeigen Anselmus eine ihm unbekannte mythische Welt, die ihn in ihren Bann schlägt und zu einem Wandel bewegt. Er orientiert sich weg von der spießigen Mentalität des Kleinbürgertums hin in die phantastische Welt der Schriften des Archivarius.
Als Gegenstück zu dem leitenden Archivarius taucht die Hexe vom Schwarzen Tor in der Gestalt des Apfelweibs Liese Rauerin immer wieder auf und behindert die poetische Erziehung des Studenten.
Durch den Blick in einen von der Hexe angefertigten zauberhaften Metallspiegel wird Anselmus in die Kleinbürgermentalität zurückgeworfen.
Durch die magischen Kräfte des Spiegels verliebt sich Anselmus in die Konrektorstochter Veronika Paulmann, die zusammen mit der Hexe den Spiegel in einer Nacht erstellt hat.
Als nun der durch diese Verzauberung verstörte Anselmus bei Lindhorst eine wertvolle Schrift mit Tinte verschmiert, da ihm die nötigen mythischen Voraussetzungen fehlen, wird der von der Hexe am Schwarzen Tor ausgesprochene Fluch wahr, und der Kopist stürzt “Ins Kristall”.
Anselmus findet sich in einer Flasche auf einem Regal in der Bibliothek des Archivarius wieder. In einem Gespräch mit Kreuzschülern, die sich ebenfalls in Flaschen befindenden, wird er sich der ihm unerträglich schmerzhaften Enge des bürgerlichen Lebens bewußt.
Während eines Kampfes zwischen Hexe und Lindhorst um den goldenen Topf zerbricht die Flasche, Anselmus ist befreit und wird mit seiner liebe Serpentina auf ein Rittergut nach Atlantis geschickt. Dort lebt er, von der Feuerlilie des goldnen Topfs beschützt, als Dichter.
Veronika ehelicht den zum Hofrat ernannten Registrator Heerbrand, wodurch sich all ihre Wünsche erfüllen.
In einem abschließendem Gespräch tröstet der Salamanderfürst den Autor, der über sein “Dachstübchen” klagt und die “Armseligkeiten des bedürftigen Lebens” beweint und erklärt ihm, daß des Studenten Seligkeit nur “das Leben in der Poesie” sei.
3. Der Aufbau des Märchens
Der Text ist in zwölf Vigilien (lat. Nachtwachen) aufgeteilt, was sehr einleuchtend ist, da der Autor erklärt, daß er den Text nachts schreibt. Diese zwölf Kapitel umfassen vier verschiedene Ebenen:
Die bürgerliche Welt
Die phantastische Welt
Der Atlantis Mythos
Die Kommunikation zwischen auktorialem Erzähler und seinem Leser
3.1 Die bürgerliche Welt
Die bürgerliche Welt ist die der Paulmanns, Heerbrands und des realen Dresdens mit dem Schwarzen Tor, der Elbe, dem Linkischen Bade, der Schloßgasse, dem Pirnaer Tor und der Kreuzkirche.
Sie besteht aus zwei Komponenten.
Auf der einen Seite befindet sich die behäbige Idylle mit Feuerwerken, Punschabenden und Doppelbier im Linkischen Bade, auf der anderen aber die Seite der erschreckenden formalistischen Pünktlichkeit, der Wichtigkeit von Titeln, dem materiellen Denken, der spießigen Enge.
Während Anselmus anfangs noch von dem Paradies im bürgerlichen Milieu bei Sanitätsknaster, Bier und jungen Mädchen träumt, bemerkt er doch, daß er in dieser Welt nicht Zuhause ist. Alle vermeintliche Weitläufigkeit fehlt ihm, so daß er in seiner Ungeschicklichkeit den Zugang in diese Idylle nicht findet.
Die andere Seite der bürgerlichen Welt, die von materiellen und bildungsmäßigem Besitzstand gekennzeichnet ist, scheint ihm ebenso verschlossen, denn bereits der bescheidenste Eintrittsversuch, als er sich um eine Stelle bewerben möchte, scheitert an einem abgebissenen Zöpfchen seiner Perücke.
Beide Seiten sind eng miteinander verbunden.
Solange nämlich der Protagonist Anselmus gegen die Regeln der bürgerlichen Konventionen verstößt, wird er von seinen Freunden abgelehnt. Erst als er mit wachsender Gewandtheit Aussichten auf einen Titel erlaubt, gewinnt ihn der Konrektor “wieder lieb”.
Die phantastische Welt
Die phantastische Welt, die wie ein Spiegelbild des bürgerlichen Lebens erscheint, beruht allerdings auf anderen Werten. Auch wenn der Archivarius Lindhorst Anselmus mit einem Speziesthaler belohnt verliert diese materielle Entlohnung für Anselmus an Bedeutung. Dagegen ist er fasziniert von den Farben, Düften und Klängen in Lindhorsts Garten, die sein ganzes Wesen beeinflussen, sobald er das Reich des Phantastischen betritt. Obwohl diese Ebene der bürgerlichen wesensfremd erscheint, fällt dem Leser immer stärker auf, daß beide Welten parallel existieren.
Personen und Handlungen scheinen lediglich durch die unterschiedliche Sicht des Erlebenden, des Erzählers oder gar des Lesers voneinander abzuweichen. So entspricht dem freundlichen, kauzigen Konrektor Paulmann der ebenso skurrile Lindhorst. Noch auffälliger ist die Ähnlichkeit zwischen Veronika und der ebenfalls blauäugigen Serpentina. Die biedermeierliche Wohnidylle der Paulmanns mit Klavier, Ofenaufsatz, Kaffeekanne und Punschterrine findet ihre exotische Entsprechung in der Lindhorstschen Wohnung mit Palmbäumen, Vögeln und Porphyrtisch.
Ebenso wie die Punschterrine das Zentrum bürgerlicher Gemütlichkeit ist, wird der schlichte goldne Topf ein magisches geistiges Zentrum. Die Räume und Flure gewinnen unendliche Dimensionen und Klänge, Düfte umschweben den Besucher.
Während die Paulmannsche Wohnstube nur geringe Bewegung ermöglicht, wirkt bei Lindhorst das ganze Instrumentarium dynamisch.(“aus den azurblauen Wänden traten die goldbronzenen Stämme hoher Palmbäume hervor”) Der Faszination der phantastischen Welt vermag sich der Leser kaum zu entziehen, denn Hoffmann gelingt es, durch Synästhesien eine vielfältige Assoziation des Schönen beim Leser zu wecken.
Auch die bürgerliche Welt wirkt auf den Leser anheimelnd , wenn auch der phantastische Erlebnisraum deutlich eingeschränkt ist, da die Assoziation auf die konkrete Welt bezogen sind. Wie in der bürgerlichen Welt gibt es auch in der phantastischen Welt eine deutlich negative Seite, in der satanischer Spuk und die Hexe ihr Verwirrspiel treiben.
3.3 Der Atlantis-Mythos
Als dritte Ebene taucht der Atlantis Mythos auf.
Er ist laut Serpentina und Lindhorst der Ursprung für die phantastische Welt. Die Erzählung von Atlantis‘ Entstehung erklärt die Existenz der phantastischen Welt in der bürgerlichen als die Folge des Sündenfalles des Salamanderfürsten, der sich gegen das Verbot von Phosphorus mit der Feuerlilie vermählte. Er muß deshalb als königlich sächsischer Archivarius in Dresden leben und kann nur gerettet werden, wenn sich seine drei Töchter mit Jünglingen verheiratet haben, die von der bürgerlichen Welt den Zugang in die phantastische gefunden haben. Das bedeutet, daß es in der trockenen bürgerlichen Ebene noch mindestens drei Menschen geben muß, die die Erkenntnis vom “heiligen Einklang aller Wesen” erwerben können.
3.4 Die Welt des fiktiven Erzählers
Die Verbindung dieser gegensätzlichen Welten oder Ebenen gelingt dem auktorialen Erzähler dadurch, daß er ironisch wird.
Durch die Anrede an den Leser durchbricht der fiktive Erzähler die Grenzen des fiktionalen Raumes, um dessen Phantasie immer stärker in die Geschichte einzubeziehen.
Anfangs geht er noch sehr vorsichtig vor:“ Ich wollte, daß du, günstiger Leser! am 23.September auf der Reise nach Dresden begriffen wärest.” Grammatikalisch ganz korrekt verwendet er den Konjunktiv des Wunsches und setzt dann eine lange Geschichte von dieser gewünschten Reise des Lesers und der erhofften Rettung Veronika Paulmanns im Präteritum, der typischen Erzählzeit fort. Dabei benutzt er sehr geschickt die Formgleichheit des Konjunktiv II mit dem Indikativ Präteritum. Aber immerhin schließt er diese lange Passage über die absurde Rettung Veronikas mit dem Indikativ: “Weder du, günstiger Leser! noch sonst jemand fuhr oder ging aber am 23.
September in der stürmischen, den Hexenkünsten günstigen Nacht des Weges.”
Ähnlich geschickt geht er später vor, indem er den Leser auffordert, die Empfindungen des sich in einer Flache befinden Anselmus zu teilen. Anfangs äußert er seinen Zweifel “ daß du, günstiger Leser! jemals in einer gläsernen Flasche verschlossen gewesen sein solltest.” Wenig später setzt er ein solches Erlebnis, wenigstens als Traumhaftes voraus und kann dann direkt auf die gemeinsame Erfahrung anspielen, indem er Anselmus‘ Zustand wie folgt schildert “du bist von blendendem Glanze dicht umflossen [...
]”.
Jetzt bemüht er noch nicht einmal den Konjunktiv des Irrealen, um dem Leser eine solche Zumutung zu ersparen. Verständlich wird diese absurde Vorstellung dadurch, daß die Leiden des armen
Anselmus genau denen gleichen, die man nach exzessivem Alkoholgenuß verspürt, eine Erfahrung, die manchem Leser vertraut sein wird.
Der Leser des Textes, der somit nach und nach immer tiefer in die Geschichte verstrickt wird, wird also fast Teil des Märchens, ähnlich dem Studenten Anselmus, der eintaucht in eine Welt, die er anfangs nur kopiert. Durch das raffinierte Überspringen der Erzähler-Leser Grenze wird das prinzipielle Interesse an der Geschichte geweckt. Wichtiger als Interesse ist aber die Erkenntnis, die dem “günstigen Leser” nach dem Lesen bewußt wird.
Der gesamte Text ist darauf angelegt, das Vorhandensein einer phantastischen Welt, oder konkreter, der Poesie, zu zeigen. Sobald der Leser erkennt, daß diese phantastische Welt so stark ist, daß sie auch gegen einen real existierenden Menschen, nämlich den Leser Bestand hat, ist das Ziel des Autors erreicht. Der Leser begreift die Unverzichtbarkeit der Poesie, und was noch viel wichtiger ist, er erkennt die wirkliche Existenz der Poesie. Nach dieser Erfahrung besteht die Möglichkeit für den Leser, daß er sich, nach der Lektüre zurück in seiner wirklichen Umgebung außerhalb des Märchens, mit dem Unterschied zwischen einer bürgerlichen und einer phantastischen Welt auseinandersetzt, und vielleicht so wie der Student Anselmus den Schritt zu einem poetischen Leben vollzieht.
4. Die Symbolik
Das Stück wird neben den eindrucksvollen Personen auch von einigen zentralen “Leitmotiven” bestimmt.
Auffällig ist z.B. die häufige Wiederkehr von Spiegeln und Spiegelungen.
4.1 Das Spiegelsymbol
Der Spiegel, der als reales Objekt immer nur ein falsches, irreales Bild der Welt widergibt (Alles, was man im Spiegel sieht, ist nicht greifbar und noch dazu seitenverkehrt), eignet sich für eine Geschichte wie den “goldnen Topf”, die sehr stark von Magie und Irrealem bestimmt ist. Wohl deshalb verwendet Hoffmann also den Spiegel mehrfach in seiner Erzählung.
Als erstes taucht das Spiegelmotiv im Smaragdring des Archivarius Lindhorst auf. Vor den Augen des erstaunten Anselmus wirft “der Stein[...]wie aus einem brennenden Fokus Strahlen ringsherum, und die Strahlen versp[i]nnen sich zum hellen leuchtenden Kristallspiegel”, in dem Anselmus bald darauf Serpentina sieht.
Ebenfalls sehr deutlich tritt das Spiegelmotiv in der siebenten Vigilie auf, wenn die Hexe Rauerin zusammen mit Veronika in der Äquinoktialnacht einen Zauberspiegel erstellt.
Auch er hat die Eigenschaft dem Betrachter, in diesem Fall Veronika, den Geliebten zu zeigen, indem “es war, als schössen feurige Strahlen aus dem Spiegel [...]- An den Anselmus mußte sie denken, und als sie immer fester und fester den Gedanken auf ihn richtete, da lächelte er ihr freundlich aus dem Spiegel entgegen wie ein lebhaftes Miniatur-Porträt. Aber bald war es ihr, als sähe sie nicht mehr das Bild – nein! – sondern den Studenten Anselmus selbst leibhaftig.”
4.
2 Der goldene Topf
Auch der goldne Topf, der als Mitgift für Anselmus und Serpentina gedacht ist, beinhaltet einen Spiegel, der vom Erdgeist “mit Strahlen, die [er] dem Diamanten entnommen” poliert ist. In diesem Metall spiegelt sich das wundervolle Reich Atlantis. Damit wird der goldene Topf zum Symbol der romantischen Poesie, die die banale Wirklichkeit zurückführt auf ihre golden glänzende Urwirklichkeit. Der Spiegel des goldenen Topfs strahlt eine poetisierte Wirklichkeit wider, die Farbigkeit, Bewegung und Klänge enthält, die kein alltäglicher Spiegel zeigen könnte, der in realistischer Art und Weise nur eine mimetische Funktion erfüllt.
Gemeinsam ist allen diesen Spiegeln also eine telepathische Eigenschaft, die einen Blick in andere Ebenen zuläßt. Der Spiegelsymbolik wird somit zu einer Verbindung der verschiedener Ebenen.
4.3 Das Kristall
Eng zusammenhängend mit dem Spiegelmotiv ist das ebenfalls häufig wiederkehrende Bild des Kristalls. Vor allem Stimmen, wie die der Schlangen und die Veronikas, werden mit dem Attribut des Kristallenen versehen. Auch die Lichtstrahlen in Lindhorsts Garten sind als kristallen beschrieben. Die Verwendung des glasklaren Kristall vereinigt die Eigenschaften des Hellen, Klaren, Klingenden und Glitzernden, aber auch die Kälte, das Schneidende und Scharfe.
5.
Der goldne Topf - ein Märchen?
Es ist eindeutig, daß der “Goldne Topf” auf den ersten Blick nicht wie ein klassisches Märchen aussieht. Normalerweise führt schon die Einleitung den Leser oder Zuhörer in eine unbestimmte, vergangene Zeit des “Es war einmal...” und die fiktive Umgebung eines dunklen Waldes oder prächtigen Schlosses.
5.
1 Die “neue Zeit” im Märchen
E.T.A. Hoffmann hingegen setzt sein “Märchen aus der neuen Zeit” in das konkrete Dresden um 1810. Genau beschreibt der Text dem Zeitgenossen vertraute Orte wie die Pirnaer Vorstadt, die Elbbrücke oder das Schwarze Tor.
Auch die Zeitangaben sind exakt.
Die Handlung beginnt am Himmelfahrtstag und endet an Veronikas Namenstag, dem 4.Februar, Glockenschlag zwölf Uhr mittags.
5.2 Die märchenhaften Attribute
In diese erfahrbare Wirklichkeit des zeitgenössischen Leser setzt Hoffmann eine märchenhafte, phantastische Geschichte, die, märchengerecht, von Hexen, Zauberern und Atlantis handelt. Sie beginnt in einer grauen Vorzeit und setzt sich in die Zukunft fort, bis zwei weitere Jünglinge gefunden sind, die wie Anselmus Serpentina, Serpentinas Schwestern gewinnen, um dadurch den Archivarius Lindhorst aus seiner bürgerlichen Existenz zu erlösen.
5.
3 Der Erlösungsgedanke
Hier wird ebenfalls ein märchentypisches Thema, das der Erlösung eines Verwunschenen, aufgegriffen. Anders als im klassischen Märchen ist hier der Verwunschene nicht in ein Tier verwandelt, wie z.B. der Froschkönig, oder der Bär aus Schneeweißchen und Rosenrot. Hoffmann entfernt sich deutlich vom üblichen Schema, indem er als wahre Identität des Archivarius einen Salamanderfürsten nennt. Es gibt zwei Möglichkeiten, dies zu deuten: einerseits könnte dies ein pfiffiger Effekt sein, andererseits aber auch ein Hinweis darauf, daß die Atlantiswelt, die Welt der Phantasie und Poesie, die eigentliche ist, und die bürgerliche Welt in Dresden bei Punschterrinen und Klavierabenden die böse Verzauberung bedeutet, aus der es die Befreiung zu erreichen gilt.
Untersucht man Anselmus Werdegang, bestätigt sich diese Vermutung.
Der ungeschickte Student, wird von den Zwängen einer bürgerlichen Welt erlöst, die ihn partout in eine hohe Stellung, die eines Hofrates drängen will. Doch Anselmus wird nicht als Hofrat um Veronika werben, indem er ihr ein Paar Ohrringe schenkt, sondern er geht nach Atlantis, um dort Dichter zu werden. Das bedeutet nichts anderes, als daß Anselmus seine poetische Identität gewinnt, obwohl Schauerliches dieses zu verhindern versucht.
5.4 Das Schauerliche
Auch das Schauerliche, in Form der Rauerin, ist Bestandteil des Märchens.
In Hoffmanns Märchen gibt es viele traditionelle Schauermotive wie Kobolde, destruktive Ratten und eine Äquinoktialnacht. Aber im Vergleich zum eigentlich Schaurigen ist dies nur Stückwerk.
In einem Aufsatz von Franz Fühmann wird dies überzeugend ausgeführt. Das wirklich Erschreckende ist, daß Veronika unter dem Vorwand der Liebe die Identitätsfindung Anselmus‘ mit allen Mitteln verhindern will. Sie möchte in jedem Fall einen Aufstieg zur Hofrätin und versucht deshalb auf jede Weise, Anselmus von seiner Erlösung fernzuhalten. Das Schaurigste ist, daß sie die wahre Bestimmung von Anselmus genau erfaßt hat und trotzdem aus besitzergreifender “Liebe” ihn in die Enge eines hofrätlichen Daseins zwingt.
6. Die Botschaft
Das traditionelle Märchen verfremdet Ursituationen des Lebens. Es vereinfacht so weit, daß dem Zuhörer die Identifikation mit dem Wahren und Guten leicht fällt.
Auch Hoffmann verfremdet und vereinfacht. Das Raffinierte ist jedoch, daß das Wahre und Gute die tiefere Wirklichkeit von Atlantis, und das reale Dresden die schreckliche Verfremdung davon ist. Denkt man diesen Gedanken weiter, so wird die Bedeutung dieser Aussage klar:
Die Welt der Poesie verkörpert die tieferen Schichten des Lebens, das vorsprachliche Erleben, dessen Existenz bedroht ist durch die Zwänge der eindimensionalen Alltäglichkeit der “neuen Zeit”.
Nur der Dichter in der Nachfolge des Anselmus kann diese Welt retten.
Herangezogene Literatur
Primärliteratur:
Fühmann, Franz : Frl. Veronika Paulmann aus der Pirnaer Vorstadt.1. Aufl. München: dtv, 1984
Steinbach, Dietrich (Hg.
): E.T.A. Hoffmann, Der goldne Topf.,1.Aufl.
Stuttgart: Klett, 1987
Sekundärliteratur:
Wührl, Paul-Wolfgang: E.T.A.Hoffmann, Der goldne Topf: Die Utopie einer ästhetischen Existenz. 1.Aufl.
Paderborn: Schöningh, 1988
Geisler, Siegmund und Andreas Winkler: Entgrenzte Wirklichkeit, E.T.A.Hoffmann, Der goldne Topf. 1.Aufl.
Stuttgart: Klett, 1987
Deckblattabbildung:
Aus Paul-Wolfgang Wührl: Nach einer Zeichnung von Richard Teschner, aus:E.T.A. Hoffmann: Der goldne Topf. Wien, Leipzig, New York : Gerlach u. Wiedling, 1913.
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