Deutsche literaturepochen, naturalismus (1880-1900)
Deutsche Literaturepochen, Naturalismus (1880-1900)
Protestbewegung junger Schriftsteller gegen politische, soziale und kulturelle Verhältnisse der Gründerzeit ( d.h. gegen die alte Generation, die seit der Reichsgründung 1871 diese
Verhältnisse bestimmte)
Politischer und gesellschaftlicher Hintergrund
Blütezeit des wirtschaftlichen und politischen Imperialismus;
Landflucht als Folge der industriellen Revolution. (1891 Stadtbevölkerung übertrifft zahlenmäßig erstmals Landbevölkerung)
>>Überangebot an Arbeitskräften, Mangel an Wohnungen, Verelendung der ´proletarischen
Massen´;
Gegensatz zur selbstgefällig-repräsentativen Kultur des Wilhelminismus (z.B.Siegessäule,
Reichstag);
Wichtige Erfindungen und Entdeckungen der Zeit:
Dampfturbine, Parson, 1884;
Benzinautomobil, Daimler, Benz, Marcus, 1885;
Spannbeton, Deohring, 1888;
Drehstrommotor, Dovilo-Dobrowski, 1891;
Röntgenstrahlen, Röntgen, 1895;
Filmvorführung, Meßter, Pathe, 1895;
Radioaktive Strahlung, Becquerel, 1896;
Dieselmotor, Diesel, 1897;
Motorflug, Gebr.
Wright, 1903;
Weltanschaulicher Hintergrund:
Positivismus :Lehre von der Gesetzmäßigkeit aller Dinge ohne metaphysische Voraussetzung;
Utilitarismus: Wert einer Handlung würde erst durch ihre Folgen bestimmt; moralisch gut sei,
was der Selbsterhaltung der Gruppe und des einzelnen diene;
Materialistische
Geschichts-
Auffassung: materielle Verhältnisse bestimmten den Lauf der Geschichte (Karl Marx);
Milieutheorie: Mensch sei abhängig von der Umwelt, in der er sich bewege, sein Leben und
seine Handlungen seien vom Milieu bestimmt, Willensfreiheit sei Illusion;
Evolutionstheorie: Mensch als letztes Glied einer lückenlosen Entwicklung vom einfach zum
höher organisierten Lebewesen, Kampf ums Dasein und natürliche Zucht-
wahl fungierten dabei als Motor;
Naturalismus als Beginn der Moderne
da er das herrschende naturwissenschaftliche Weltbild aufgreift, das die philosophischen Grundlagen der klassisch-romantischen Dichtungstradition in Frage stellt.
Ziel: Verwissenschaftlichung der Kunst;
Im Gegensatz zum Realismus, der die Wahrheit der Dichtung in der „künstlerischen Wiedergabe des Lebens“(Verklärung des Erfahrungsstoffes) sieht, will der Naturalismus wissenschaftliche Objektivität. Literatur soll auf wissenschaftlicher Grundlage entstehen (z.B. wissenschaftliche Recherchen wie Zola, Hauptmann). Die Dichtung selbst wird jedoch weiterhin als schöpferischer Akt gesehen und nicht als wissenschaftlicher Prozess.
Im Gegensatz zu Autoren vergangener Epochen, die eher zurückgezogen lebten, verkehrten die Modernen in literarischen Zirkeln und verstanden sich als Gruppe.
München:
Kreis um Michael Georg Conrad und seine Zeitschrift „Die Gesellschaft“;
Kreis um Stefan George und seine „Blätter für die Kunst;.
Berlin:
Heinrich und Julius Hart, Zeitschrift „Kritische Waffengänge“; literarischer Verein „Durch“;
Weitere Programmschriften:
Carl Bleibtreu, „Die Revolution der Literatur“, 1886;
Wilhelm Bölsche, „Naturwissenschaftliche Grundlagen der Poesie“, 1887;
Arno Holz, „Die Kunst. Ihr Wesen und ihre Gesetze“, 1891/92;
Themen:
Armut, Ausbeutung, Not und Elend der Proletarier, Großstadtleben, menschliches Handeln in Abhängigkeit von Vererbung und Milieu (physische und psychische Verfassung, soziale Lage);
Mit ihrem Anliegen, eine verdrängte Wirklichkeit zu demonstrieren, schockierten die Naturalisten das Bürgertum, für das Staatstreue verbunden war mit „schöner Literatur“, wie sie in der Schule gelesen wurde.
Diese Wertung wurde von den Sozialdemokraten übernommen, mit denen die Naturalisten sympathisiert hatten, bis diese 1890 zur staatstragenden Partei wurden. Wilhelm Liebknecht lehnte eine Zusammenarbeit mit dem „Jüngsten Deutschland“, wie er es nannte, ab.
Arno Holz übernahm diese Bezeichnung für den eigenen Literaturkreis, weil er sich bewusst am „Jungen Deutschland“ statt an Klassik oder Romantik orientieren wollte.
Gattungen:
Großstadtlyrik: am Anfang der Epoche;
experimentelle Prosa (Sekundenstil);
soziale Dramen
Literarische Technik:
Lyrik als Erzählgedicht (Großstadtgedichte);
Prosa als Studie(z.B. Krankengeschichte), in der Sprechen und Handeln der Menschen im Detail wiedergegeben werden;
Drama
als „Lebensausschnitt“ ohne Exposition, Monolog, Beiseitesprechen; offenes Ende;
Verarbeitung dokumentarischen Materials;
Nebentext:
führt Milieu mit allen Details vor und kommentiert das Bühnengeschehen; schreibt Mimik und Gestik vor;
Held:
Volk als dramatische Person (nicht einzelne, herausragende Gestalt, sondern Kollektiv,
dem Verelendung gemeinsam ist, vertreten durch unterschiedliche Individuen);
Sprache:
bis in alle Einzelheiten (Dialekt, Fehler, unvollständige Sätze, Fachvokabular) genau wiedergegeben;
Autoren und Werke:
Gerhard Hauptmann (1862 - !946):
Sohn eines Hotelbesitzers in Schlesien, Ausbildung als Landwirt, dann als Bildhauer, seit 1884 in Berlin, ab 1900 in Agnetendorf/Schlesien und Hiddensee, 1912 Nobelpreis
Novelle:
„Bahnwärter Thiel“, 1888:
Dramen:
„Vor Sonnenaufgang“, 1889;
„Die Weber“, 1892;
„Der Biberpelz“, 1893;
„Fuhrmann Henschel“, 1898;
„Rose Bernd“, !903;
„Die Ratten“. 1911
Arno Holz (1863 – 1929)
Sohn eines Apothekers in Ostpreußen, seit 1875 in Berlin, Redakteur, 1885 Schillerpreis;
Lyrik:
„Das Buch der Zeit“, Großstadtgedichte, 1885;
„Phantasus“, 1898;
Drama:
„Papa Hamlet“, 1898;
Max Kretzer (1854 – 1941)
Roman:
„Meister Timpe“, 1888;
Textbeispiel :
Ein Andres (Arno Holz)
Fünf wurmzernagte Stiegen geht´s hinauf
Ins letzte Stockwerk einer Mietskaserne;
Hier hält der Nordwind sich am liebsten auf
Und durch das Dachwerk schaun des Himmels Sterne:
Was sie erspähn, o, es ist grad genug,
Um mit dem Elend brüderlich zu weinen:
Ein Stückchen Schwarzbrod und ein Wasserkrug,
Ein Werktisch und ein Schemel mit drei Beinen.
Das Fenster ist vernagelt durch ein Brett
Und doch durchpfeift der Wind es hin und wieder,
Und dort auf jenem strohgestopften Bett
Liegt fieberkrank ein junges Weib darnieder.
Drei kleine Kinder stehn um sie herum,
Die stieren Blicks an ihren Zügen hangen,
Vor vielen Weinen ward ihr Mündlein stumm,
Und keine Thräne mehr netzt ihre Wangen.
Ein Stümpfchen Talglicht giebt nur trüben Schein,
Doch horch, es klopft, was mag das nur bedeuten?
Es klopft und durch die Thür tritt nun herein
Ein junger Herr, geführt von Nachbarsleuten.
Der Armenhilfsarzt ist´s aus dem Revier,
Den sie geholt aus Mitleid mit der Kranken,
Indeß ihr Mann bei Branntwein oder Bier
Sich selbst betäubt und seine Wutgedanken.
Der junge Doctor nimmt das Licht
Und tritt mit ihm ans Bett des armen Weibes,
Doch gelb wie Wachs und spitz ist ihr Gesicht
Und kalt und starr die Glieder ihres Leibes.
Da schluchzt sein Herz, indeß das Licht verkohlt,
Von nie gekannter Wehmut überschlichen:
Weint, Kinder, weint! ich bin zu spät geholt,
Denn eure Mutter ist bereits – verblichen
` Vorläufer des deutschen Naturalismus :
Roman:
Emile Zola (1840-1902);
Leo Tolstoi (1828-1910);
Fjodor Dostojewski (1821-1881);
Drama:
Henrik Ibsen (1828-1906);
August Strindberg (1849-1912);
Literatur :
Eberhard Hermes : „ Abiturwissen Deutsche Literatur“, Klett Verlag, 1994, S.141-159
Eva-Maria Kabisch: „Literaturgeschichte kurzgefasst“, Klett Verlag, 1985, S.
28
Horst-Dieter Schlosser: „dtv-Atlas zur deutschen Literatur“, dtv, 1994, S.217- 221
Wolf Wucherpfennig: „Geschichte der deutschen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart“, Klett Verlag, 1986, S.193-205
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