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6. Die Ringparabel
6.1. Inhaltsangabe
Die Ringparabel ist der Höhepunkt des Gedichts und Nathans Antwort auf die Frage des Sultans, welche Religion die wahre sei.
Ein Vater hat einen Ring in Tradition von seinem Vater geerbt, der ihm Glück und die Hilfe Gottes bringen soll. Dieser Ring wird vom Vater nach dessen Tod immer an denjenigen Sohn weitergegeben, den der Vater am liebsten hat.
Eines Tages gerät der Ring aber an einen Vater, der alle seine drei Söhne gleich lieb hat. Ohne dass die anderen Brüder davon wissen, verspricht er jedem von ihnen den Ring, den ein Künstler nachgemacht hat, so dasss das Original nicht mehr von den Kopien zu unterscheiden war.
Nun bricht nach dem Tod des Vaters ein Streit unter den Brüdern aus, welcher von ihnen den richtigen Ring besäße. Die Söhne verklagen sich gegenseitig und ein Richter spricht das Urteil. Er appelliert an die Wunderkraft des Ringes und sagt, dass sich nicht beweisen lasse, welcher der richtige Ring sei, da sich jeder der Brüder selbst am meisten liebt. Welcher Ring der echte ist, lässt sich nicht mehr feststellen.
6.2. Inhaltliche Einordnung
Al Hafi will sich als Schatzmeister Saladins Geld von Nathan leihen, da Saladin in Geldnöten steckt. Al Hafi bekommt aber keinen direkten Auftrag von Saladin und kann Nathan keinen Grund nennen, worauf dieser den Kredit verweigert.
Der Tempelherr, der Nathans Tochter Recha aus dem Feuer seines Hauses gerettet hat, berichtet Nathan von seiner Begnadigung durch Saladin. Daraufhin fühlt sich Nathan Saladin verpflichtet und will ihm nun den Kredit gewähren.
Al Hafi hat indessen den direkten Auftrag von Saladin bekommen, Geld von jemandem zu leihen und Sittah, Saladins Schwester, bringt Nathan ins Spiel, von dem Saladin aber noch nie etwas gehört hat. Al Hafi blockt jedoch ab und will Geld bei einem „Mohren“ leihen.
Sittah durchschaut Al Hafis Verhalten und denkt sich einen Plan aus, der Nathan zur Kreditgewährung veranlassen könnte.
Nathan erfährt von Daja, dass er zu Saladin bestellt ist
Al Hafi warnt Nathan vor einer Abreise an den Ganges, dass er sein Vermögen verlieren könnte.
Saladin ist ungehalten über das bevorstehende abgekarterte Spiel mit Nathan, doch Sittah räumt die Bedenken ihres Bruders aus. Ihr Plan, ist die Religionsfrage zum Prüfstein Nathans zu machen.
Darauf antwortet Nathan mit der Ringparabel.
6.3. Funktion der Ringparabel
Die Ringparabel ist die Antwort auf die Frage, welche Religion die wahre ist. Während ein einzelner Ring beliebt gemacht hat, Vorrechte verliehen hat und die Herrschaft legitimiert unter der Voraussetzung , dass Zuversicht im praktischen Tun besteht, hat, schaffen die drei Ringe Streit, Selbstgerechtigkeit und gegenseitige Anklagen.
Dies kann man auf den Sachbereich übertragen.
Die Erzählung vom einzelnen Ring ist überliefert, aber die drei Ringe verkörpern drei durch Vernunft nicht unterscheidbare Offenbarungsreligionen. Diese drei Religionen stehen in kriegerischen Auseinandersetzungen um die einzige wahre Religion.
Der Richterspruch in der Parabel lautet, dass die Echtheit der Ringe nicht zu beweisen ist und damit die „Wahrheit“ durch den Menschen nicht ermittelbar. Das Ideal der von Vernunft freien Nächstenliebe ist der Prüfstein des Handeln. Auch dies kann man auf das religiöse-politische Handeln übertragen. In der Wahrheitsfrage der Religionen sollte Toleranz, Pluralismus und friedlicher Wettstreit vorherrschen, vor allem im Angesicht der menschlichen Grenzen.
Die Aussage der Ringparabel ist demnach, dass einem an Gutem orientiertem Handeln keine religionsphilosophische Theorie zu Grunde liegt und auch keine nötig ist. Toleranz ist eine Voraussetzung für die gemeinsame Verwirklichung des Guten. Außerdem ist zukunftsbewusstes Handeln wichtig und sollte an Stelle von Diktaten augenblicklicher Interessen erfolgen. Humanität sollte über Religionen und Ideologien hinausreichen.
6.4.
Die Ringerzählung bei Boccaccio und Lessing
Lessing hat die Ringparabel von Giovanni Boccaccio (1313-1375) übernommen und an seinen Nathan angepasst. Boccaccios Ringparabel hat fast den gleichen Hintergrund:
Saladin, der Sultan von Babylon, steckt in Geldnöten und möchte von Melchisedech, einem reichen Juden Geld leihen. Dieser aber ist geizig und würde ihm aus freien Stücken niemals Geld leihen. Saladin will aber keine Gewalt anwenden und ersinnt deshalb einen Plan, der Melchisedech zwingen könnte, ihm Geld zu leihen. Er lässt Melchisedech unter einem Vorwand rufen und fragt, welches Gesetz, das jüdische, das sarazenische oder das christliche, das wahre sei. Melchisedech weiß, dass Saladin wie immer er auch antwortet, seinen Zweck erreicht.
Also antwortet Melchisedech mit einer Erzählung, der Ringparabel.
Boccaccios Ringparabel bietet jedoch keine Lösung an und endet ohne Richterspruch, sondern einfach mit der Feststellung, dass bis heute unentschieden ist, welche das wahre Gesetz und Gebot ist.
Es lässt sich also ein Vergleich zwischen Lessing und Boccaccios Ringparabel erstellen.
Die Teilnehmer des Gesprächs sind bei Boccaccio, der geizige Melchisedech und Saladin und bei Lessing Saladin und der freigiebige Nathan.
Die Gesprächssituation ist bei beiden Autoren gleich und setzt sich aus der Fangfrage Saladins zusammen.
Die Teile des Gesprächs sind unterschiedlich, da sich bei Lessing nach der Erzählung und ihrer Auslegung mit dem Richterspruch noch die Fortsetzung der Erzählung erfolgt.
Das Ergebnis des Gesprächs ist bei beiden Autoren gleich. Nathan bzw. Melchisedech freunden sich mit Saladin an, der sein Geld erhält.
Auch die Figuren der Parabel sind fast identisch, genauso wie der Inhalt der Frage. Bei Lessing spielt jedoch die Frage, warum sich Nathan zum Judentum bekannt hat, auch eine Rolle.
Die Problematik der Echtheit der Ringe wird aber von Lessing anders ausgelegt.
Boccaccio sagt, dass sich der rechtmäßige Erbe nicht ermitteln lasse, Lessing dagegen, dass der rechtmäßige Erbe zu diesem Zeitpunkt noch nicht ermittelt werden kann. Es ist denkbar, dass alle drei Ringe falsch sind. Die Entscheidung ist demnach erst am Ende der Geschichte durch den weisen Richter möglich, der Ring müsste mit Zuversicht getragen werden, damit er seinen Zauber entfalten kann.
6.5. Der Richterspruch
Der Richter verkündet: „Die verschiedenen Religionen und die verschiedenen Kulturen haben unterschiedliche Anpassungs-Rahmen an das Gute“.
Der Richter zerbricht somit die naive Vorstellung, dass eine Kultur die „richtige“ sei und dass bei dieser das Gute an sich und die Realisierungsbedingungen des Guten in eins fallen. Er könnte nun empfehlen jeder Religion zu folgen, weil jede die wahre ist. Unterschiedlich sind nämlich nur die Anpassungs-Rahmen an das Gute. Der Kern ist gleich.
Doch offensichtlich ist die Konkurrenz um den wahren, richtigen Kern nicht aufgehoben (Brüderstreit). Der Richter sagt : „Es strebe jeder von euch um die Wette“.
Er meint damit aber nicht das Streben um die zu erbende Herrschaft, sondern „die Kraft des Steins (Zauberkraft) in seinem Ring“ zu offenbaren, indem sie sich „vor Gott und den Menschen angenehm“ machen.
Somit fordert der Richter ein Umdenken vom Begründungsdenken zum Bewährungsdenken. Jede Religion hat eine rational zu rechtfertigende Aufgabe, auch wenn sie nicht bis „Speis und Trank“ übereinstimmen.
Der Rat des Richters besteht also darin, den Wahrheitsentscheid auf sich beruhen zu lassen und die wechselseitigen Herrschaftsansprüche zu unterlassen.
Herrschaft kann auch historisch nicht legitimiert werden, sondern nur auf Grund der Wirkung der Ringe. Und die Wirkung der Ringe ist Humanisierungs-und Integrationskraft.
Diese Kräfte wohnen jeder Religion inne, werden aber beim Streit um die historische Legitimation vergessen und ins Gegenteil gekehrt.
6.6. Nathans Denkmodell
Nathan weist mit der Ringparabel eine Antwort auf die Wahrheitsfrage indirekt zurück. Dies kann man mit einem Denkmodell begründen.
Die erste Variante des Modells sieht so aus:
Die Frage nach der Wahrheit einer Offenbarungsreligion kann durch Vernunftgründe nicht theoretisch geklärt werden.
Der Versuch, den in die Zukunft prinzipiell offenen, von Gott bestimmten Plan der Geschichte (Theodizee) mittels Vernunft aufdecken zu wollen, ist menschlicher Hochmut (Hybris).
Die zweite Variante besagt dies:
Alle drei Offenbarungsreligionen sind unwahr.
Weil keiner die Toleranz praktizieren kann, die von Gott gefordert wird, sind alle drei Offenbarungsreligionen die „betrogenen Betrüger“ aus der Ringparabel.
Die dritte Variante besagt:
Gott selbst hat die Religionen so unterschiedlich gestaltet.
Die Religionen treten in einen Wettstreit und müssen sich einer „pragmatischen Wirkungsprobe“ unterziehen. Diese manifestiert das Umdenken von Begründungsdenken zu Bewährungsdenken.
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