Evolutionspsychologie: diskussion über das buch "the moral animal"
Diskussion über 'The Moral Animal', Evolutionspsychologie
von Christian J. Krause
Einführung Im Jahre 1994 erschien bei Pantheon das Buch "The Moral Animal", das von dem Schriftsteller Robert Wright geschrieben wurde. Der Mensch als "moralisches Tier" sorgte für eifrige Diskussionen, weil Wright viele Werte der westlichen Kultur anzweifelt. Der Evolutionspsychologe hält beispielsweise die menschliche Monogamie für widernatürlich.
In einem ersten Teil möchte ich kurz einige Hauptthesen Wrights über die Familie herausarbeiten, damit danach noch genug Zeit für eine Diskussion bleibt.
Kern
Aufgrund wissenschaftlicher Untersuchungen hat sich in den letzten Jahren bei vielen Tieren herausgestellt, daß sie gegenüber der ursprünglichen Annahme nicht monogam sind.
Deshalb bezweifelt Wright auch die Meinung vieler Experten, daß die Werte der Familie in unseren Genen verankert sind. Diese These ist der Ausgangspunkt seines Werks.
Als Argumentationstechnik zur Belegung dieser Hypothese benutzt Wright die Evolutionspsychologie. Durch Analysen der Auswirkungen der natürlichen Selektion auf den menschlichen Verstand zeichnen diese Wissenschaftler ein neues Porträt der menschlichen Natur.
Sie nehmen an, daß der Hunger dazu da ist, um uns lange genug leben zu lassen und unsere Kinder großzuziehen, - daß Verlangen dazu da ist, damit wir uns fortpflanzen, - daß menschliche Gefühle und Emotionen nur die Befehlsausführer der Evolution sind. Jedes Organ - inklusive des Verstandes, der auch als Organ aufgefaßt wird - dient nur der Fortpflanzung.
Zwei Beispiele
Diese Argumentationstechnik möchte ich beispielhaft illustrieren: Zwei Rivalen, ein 19jähriger und einer 35jähriger Affe Gorilla kämpfen um die Herrschaft des Stammes. Der jüngere ist stärker und größer, der andere beliebter und politisch geschickter. Er verschenkt Beute an Artgenossen und entlaust sie. Solche "Werbegeschenke" gibt es bei Menschen - wohl etwas subtiler - ebenfalls.
Es ist außerdem durch wissenschaftliche Untersuchungen erwiesen, daß die Qualität der Spermien bei männlichen Affen besser ist, wenn sie das Weibchen lange Zeit nicht gesehen haben. Aus der Feststellung, daß sich die Affen in diesem Punkt nicht von den Menschen unterscheiden, zieht Wright den Schluß, daß wir in anderen Punkten - zum Beispiel der Treue - auch nicht besser als die Affen sind.
Man nimmt an, daß die Evolution dieses Verfahren entwickelt hat, um die Untreue der Frauen zu überlisten, die in der Abwesenheit des Partners sich ja mit anderen Affen hätten paaren können. Aber Männer sind nach Wright auch nicht wesentlich besser, im Gegenteil:
Starke, aggressive männliche Affen schüchtern andere Männchen ein, um mehrere Weibchen zu schwängern. Dadurch werden die Gene der Aggressivität und der Untreue der Männchen weitergegeben. Die Gene der schwächeren Affen, die sich deswegen nicht paaren können, sterben aus. Wir, die wir ja vom Affen abstammen, besitzen diese Gene wahrscheinlich auch und stehen deshalb auf einer Stufe mit den Affen.
Qualität und Quantität
Bestätigt sieht sich Wright in der Beobachtung, daß in fast allen ursprünglichen, menschlichen Gesellschaften der Mann mehr als eine Frau haben darf.
Weitere Beweise sieht Wright in der Pornographie, die hauptsächlich Männer anzieht und Frauen eher kalt läßt. Außerdem sind überwiegend Männer an Prostitution, d.h. an Sex mit einem Menschen, den man nicht kennt, interessiert.
Frauen können - egal wie viele sexuelle Partner sie haben - auch nur ein Kind im Jahr bekommen. Für Männer beschränkt sich der Akt bloß auf wenige Minuten.
Deshalb sind Männer darauf programmiert, ihre Gene weit und viel zu verteilen, was die obigen Beobachtungen erklären würde. Frauen hingegen suchen Männer mit den besten Genen und die, die viel in den Nachwuchs investieren. Fazit: Den Mann interessiert die Quantität, die Frauen die Qualität. Die Heirat ist dazu da, daß sich Väter um ihre Kinder kümmern und müßte logischerweise eine Erfindung der Frau innerhalb der Evolution des Menschen gewesen sein.
Stiefkinder
Ein weiteres interessantes Phänomen finden man bei der Fortpflanzung verschiedener Affenarten: Dort töten die Männchen die Kinder ihrer Konkurrenten. Das dient dazu, die Mutter, die ihre ganze Energie für das Säugen aufbringt, dazu zu bringen, ihre Energie wieder für die Fortpflanzung einzusetzen.
Das Männchen hat so eine höhere Chance, seinen Samen und damit seine Gene in die Gattung einzubringen. Interessanterweise ist in Studien bewiesen, daß unter Menschen die Sterblichkeit von Stiefkindern höher als normal ist. Dies ist wieder eine Parallele, die Wright für sich entdeckt hat.
Moderne Hindernisse der Monogamie
Kann man diese Erkenntnisse so einfach auf die heutige Zivilisation anwenden? Wright beantwortet dies mit einem eindeutigen Ja; es sei sogar noch extremer - schlimmer ist unzulässig, weil Wright keine Wertung vornimmt! - geworden. Was hat sich geändert? Mit der Verhütung hat der Mensch u.a.
die Möglichkeit, seine Fortpflanzung im Sinne einer Familienplanung zu steuern usw. Wright erkennt, daß sich unser menschliches Gehirn, unsere Gedanken und Gefühle in einer Zeit entwickelt haben, in der es weder Mobiltelefon noch Internet gab.
In einer zweiten Titelstory aus TIME Magazine geht er auf die "Mismatch Theory" näher ein. Durch Untersuchungen in möglichst ursprünglichen Völkern Afrikas und Asiens hat sich ergeben, daß in diesen Gesellschaften Depressionen, Selbstmorde und Angst praktisch nicht vorhanden sind. Auch hier suchen die Evolutionspsychologen wieder nach einer Erklärung. Eine wahrscheinliche ist, daß jeder Mensch sich mit anderen vergleicht.
In einem kleinen Volk besitzt jeder eine besondere Fähigkeit, die keiner in der Gruppe hat. In unserer heutigen Gesellschaft mit Fernseher und moderner Telekommunikation kann man sich kaum noch herausheben gegenüber den Übermenschen, die beispielsweise täglich über die Mattscheibe flimmern.
Wright benennt aber zugleich einige Parallelen zur heutigen Gesellschaft: Wenn Urmenschen mit dem gleichen Partner beispielsweise eine bestimmte Zeit zusammen waren, ohne ein Kind zu bekommen, so deutete alles auf die Sterilität eines Partners, und die Gene beendeten die Beziehung. Heute kriselt es besonders häufig in kinderlosen Beziehungen.
Auch die moderne Zivilisation, die zur Bedürfniserweckung Plakate, Fotos, Poster, Magazine, Werbespots usw. einsetzt, verändert die Gewohnheiten.
Die optischen Reize der schönsten Frauen und Männer zum Beispiel in der Werbung in gleichzeitig ein Anreiz zur Untreue, ein Anreiz, nicht mehr mit dem Menschen zufrieden zu sein, mit dem man verheiratet ist.
Früher konnte man gleichzeitig bei einer Frau bleiben und eine andere haben. Jetzt, da die Polygamie in westlichen Kulturen illegal ist, werden die polygamen Impulse der Männer andere Ventile suchen, z.B. die Scheidung. Eine These der Evolutionspsychologen ist: Die Scheidung - d.
h. plump ausgedrückt mehrere Partner hintereinander - ist gleich der Polygamie - d.h. mehrere Partner gleichzeitig. Unsere hohe Scheidungsrate soll beweisen, daß wir auf der gleichen Stufe wie unsere Urvölker stehen.
Auch heute noch bevorzugen Frauen Männer mit hohem sozioökonomischem Status.
Gerade die Ehen vieler reicher, erfolgreicher Persönlichkeiten gehen oft schnell zugrunde. Viele reiche Männer suchen sich oft junge, hübsche und vor allen Dingen fruchtbarere Frauen. Beispiele sind hier z.B. Johnny Carson, Donald Trump und J. Paul Getty.
Lebenslange Monogamie ist unnatürlich und die moderne Umgebung macht sie härter als je zuvor.
Hoffnung macht uns Wright wenig: Als im wesentlichen einzige Lösung bietet Wright eine mehr oder weniger halbherzige Steuerreform an. Diese könnte ärmere Familien stärker begünstigen. Der Mann würde effektiv mehr verdienen und die Frau ihn mehr lieben. Außerdem hat ein Mann einen höheren Lebensstandard, wenn er geschieden ist, als wenn er in einer Familie lebt. Auch das könnte rechtlich geändert werden.
Ein moralisches Wesen wurde von dem Naturwissenschaftler und Begründer der Evolutionstheorie Darwin definiert als eine Kreatur, die "fähig ist, die Vergangenheit mit den zukünftigen Aktionen oder Motiven zu vergleichen und diese zu bewerten." Daran gemessen sind wir moralisch; aber in vielen Punkten hat sich die menschliche Gesellschaft nicht oder nicht weit über das Tierreich erhoben.
Einordnung und Kritik
Wright ist in vielen Punkten vergleichbar mit Freud. Das Wort "Moral" suggeriert eine Ethik, die geeignet ist, eine Handlung als "gut" oder "böse" zu bewerten. Tatsächlich ist sie - vergleichbar mit Freuds Lustprinzip - nur dazu geeignet, die menschlichen Schwächen zu erklären.
Der Kernpunkt von Wrights Werk ist, daß jedes Organ aufgrund der Evolutionstheorie nur der Fortpflanzung dient.
Greift man diese Hauptthese erfolgreich an, so fällt das Gedankengebäude in sich zusammen. Die Evolutionstheorie wird generell akzeptiert, zu viele Beispiele untermauern sie. Sie wird nur noch von einigen wenigen, zumeist streng gläubigen Menschen in der westlichen Welt abgelehnt.
Zu fragen ist, ob wir uns nicht biologisch - kulturell interessiert Wright ja nicht - so weit von unseren nächsten tierischen Vorfahren entfernt haben, daß sich jeder Vergleich hinsichtlich der Fortpflanzung verbietet. Das fiktive Bild eines normalgroßen, leicht bierbäuchigen Mannes mittleren Alters mit einer Halbglatze neben einem zwei Meter großen, brunstschreienden Gorilla wirkt dann doch leicht komisch.
Verführerisch ist Wrights Philosophie auch deswegen, weil sie höchst anschaulich durch viele Beispiele unterlegt ist.
Das findet man bei schwieriger verständlichen philosophischen Schriften kaum. Außerdem weckt sie den Eindruck einer Wissenschaft. Allerdings sind diese Anekdoten auch eine Angriffsfläche. Es gibt auch viele Gegenbeispiele aus dem Tierreich: Die Tigermutter kümmert sich jahrelang aufopferungsvoll um den Nachwuchs, unterrichtet die Jungen und verläßt sie dann. Wieso tun wir Menschen das nicht?
Die Bonobos sind Affen mit einer fast 99 %igen Genkompatibilität zum Menschen. Sie sind uns ähnlicher als andere Affenarten.
Bei ihnen findet man Adoption, Freundschaft und Toleranz. Davon ausgehend müßte man aufgrund der Evolutionspsychologie zu ganz anderen, optimistischeren Schlüssen kommen.
Sex - übrigens auch unter Gleichgeschlechtlichen - hat dort zusätzlich den Stellenwert der Konfliktlösung. Nur die Mütter paaren sich nicht mit ihren männlichen Kindern, wenn diese älter als 6 Jahre sind. Frieden stiften ist dann kein Sieg der Vernunft, sondern ein Gebot der Gene.
Wright wirft auch mehr Fragen auf, als er beantwortet: Wieso gibt es so viele Frauen, die den beruflichen Erfolg einer Familie vorziehen? Wieso fällt die Geburtenrate in industrialisierten Ländern unter zwei Kinder pro Frau? Wie ist es zu erklären, daß es Paare gibt, die sich auch lieben, obwohl sie keinen Geschlechtsverkehr haben, und denen es gleichgültig ist, wie mächtig ihr Partner ist?
In Familien reifen die Grundbestandteile einer freien und verantwortlichen Gesellschaft: Liebe und Vertrauen, Toleranz und Rücksichtnahme, Opferbereitschaft und Mitverantwortung, Selbständigkeit und Mündigkeit.
Dies ist nicht mit Wright zu erklären. Die aktuelle und bequeme Ausrede, daß die Gene alles Unheil verschulden, ist zu einfach und undifferenziert. "Wenn ich nicht den Glauben an die Vernunft hätte, würde ich gar nicht mehr aufstehen."
B. Brecht QUELLEN
Robert Wright, The Moral Animal: Evolutionary Pschology and Everyday Life, Pantheon, 1994
Robert Wright, Our Cheating Hearts, TIME Magazine, August 15, 1994
Leserbriefe bezüglich [2], TIME Magazine, September 5 & September 12, 1994
"Expeditionen ins Tierreich", ARD, 12. Juni 1995, 20.
15-21.00 Uhr
Robert Wright, The Evolution of Despair, TIME Magazine, August 28, 1995
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