Entdeckendes lernen im mathematikunterricht
Entdeckendes Lernen im Mathematikunterricht
Ausformulierung des Einführungsreferats
Dozent: Prof. Dr. Schulz
HS 04554, SS 1998
Referentin: Constanze von Essen
Datum: 29.4.1998
Inhaltsverzeichnis
Seite
Einleitung
1
I.
Versuch einer Definition des Begriffes "Entdeckendes Lernen"
1
II.
Die Hauptthese des Referats
2
III.
Bruners Thesen zum Entdeckenden Lernen
3
Exkurs: Die Gegenthesen von Ausubel, Novak und Hanesian
5
IV.
Problemlösen und Entdeckendes Lernen
6
Anhang
Vergleich "Lernen durch Entdeckenlassen" - "Lernen durch Belehren"
Literaturverzeichnis
Quellenverzeichnis
Einleitung
Bei der folgenden Darstellung handelt es sich um eine Ausformulierung des Referats "Entdeckendes Lernen im Mathematikunterricht - Einführungsreferat" unter Einbeziehung der im Verlauf des Seminars geführten Diskussionen. Das Referat wurde am 29. 4. 1998 im Rahmen des Hauptseminars "Entdeckendes Lernen im Mathematikunterricht" bei Prof.
Dr. W. Schulz gehalten.
Nach einer Erklärung des Begriffes "Entdeckendes Lernen" wird die Hauptthese des Referats vorgestellt und begründet. Den anschließenden Thesen Bruners folgt ein Exkurs zu der daran von Ausubel, Novak und Hanesian geübten Kritik. Im letzten Kapitel wird auf die von Bruner vorgestellte Verknüpfung zwischen Problemlösen und Entdeckendem Lernen und die damit verbundenen praktischen Erfahrungen im "Streichholzschachtel- experiment" eingegangen.
Im Anhang findet der Leser noch einmal das an die Teilnehmer während der Seminarsitzung ausgegebene Thesenpapier und Winters Vergleich zwischen "Lernen durch Entdeckenlassen" und "Lernen durch Belehren".
In den meisten Fällen verwendete ich der besseren Lesbarkeit wegen nur die männlichen Formen. Dies stellt keine Diskriminierungstendenz dar. Ferner habe ich versucht, die neuen Rechtschreibregeln anzuwenden, bin aber auf diesem Gebiet selber noch Lernende. (Da an Hochschulen und Volkshochschulen keine Kurse zum Erlernen der neuen Rechtschreibung angeboten werden, würde ich mich in diesem Fall sogar als Entdeckende bezeichnen.)
I.
Versuch einer Definition des Begriffes "Entdeckendes Lernen"
Obwohl H. Winter gleich auf der ersten Seite seines Buches "Entdeckendes Lernen im Mathematikunterricht" die Ansicht vertritt, dass es keine (den Mathematiker) formal zufriedenstellende Definition des Begriffes "Entdeckendes Lernen" gibt, da der Pädagoge selbst zum System gehört und dieses eventuell schon dadurch ändert, dass er einen Definitionsversuch anstellt, bemüht er sich, dem Leser sein Verständnis dieses Begriffes durch folgende Beschreibung nahe zu bringen: "'Entdeckendes Lernen' ist weniger die Beschreibung einer Sorte von beobachtbaren Lernvorgängen, sondern ein theoretisches Konstrukt, die Idee nämlich, daß Wissenserwerb, Erkenntnisfortschritt und die Ertüchtigung in Problemlösefähigkeiten nicht schon durch Information von außen geschieht, sondern durch eigenes aktives Handeln unter Rekurs auf die schon vorhandene kognitive Struktur, allerdings in der Regel angeregt und somit erst ermöglicht durch äußere Impulse."1)
Folgende wichtige Begriffe werden im Zusammenhang mit dem Konstrukt des Entdeckenden Lernens von Winter und Bruner verwendet:
Unter "Entdeckung" versteht Bruner fast alle Möglichkeiten des Wissenserwerbs mittels des eigenen Verstandes, wobei im Prozess des Entdeckens Gegebenes derart neu geordnet und transformiert wird, dass der Entdeckende über das Bekannte hinausgehen kann und zu neuen Einsichten findet. Während beim "Lernen nach der darbietenden Methode" der Schüler der Zuhörer ist und der Lehrer die Entscheidungen bezüglich Methode, Stil und Tempo der Präsentation, kooperieren beim "Lernen nach der hypothetischen Methode" beide bei den "Entscheidungen des Sprechens": Der Schüler gestaltet mit und kann gelegentlich die Hauptrolle übernehmen. Er kennt Alternativen und kann Informationen überprüfen. Vorteile dieser Methode bilden für Bruner die Hilfe für die Verarbeitung und damit die Erleichterung des Abrufens aus dem Gedächtnis und der Übergang von extrinsischen zu intrinsischen Belohnungen.
Dem entspricht Winters bekannter Vergleich zwischen den Idealen "Lernen durch Entdeckenlassen" und "Lernen durch Belehren" (siehe Anhang). In diesem Zusammenhang hebt Winter hervor, dass die didaktische Einflussnahme des Lehrers begrenzt ist und durch die persönliche Anteilnahme und die individuellen Entdeckungen der Lernenden oft unplanbare Situationen entstehen. Dies steht scheinbar im Widerspruch zu dem - für die Verwirklichung Entdeckenden Lernens im Unterricht - notwendigen Umfang interdisziplinären didaktischen Wissens und "handwerklichen" Könnens. Unter dem handwerklichen Können des Lehrers versteht Winter dabei das Beherrschen einer "entdeckungsfördernden und maximale Verständigung anstrebenden Sprache"2), die Fähigkeit, den Schülern Anstöße zum Selberfinden zu geben, die z.B. in der Aufforderung zum Beobachten, zur Analogiebildung oder Kontrastbildung, zum Vergleichen, zu Variation und zur Hypothesenbildung bestehen können.
In einigen Fällen kann auch Schweigen angemessen sein. Winter hält es für erstrebenswert, dass nicht jeder Fortschritt, jede Frage, jeder Zweifel, jeder Erfolg, jeder Misserfolg an den Lehrer herangetragen wird, sondern die Schüler Möglichkeiten finden, ihre Lösungsansätze selber zu kontrollieren und verstärkt in der Lerngruppe über Probleme diskutieren. Er kommt somit zu der Schlussfolgerung, dass ein Lehrer, der Entdeckendes Lernen in den Unterricht aufnimmt, sich selbst auch als Lernenden (vor allem auf dem Gebiet des Lernens und Lehrens) betrachten muss.
II. Die Hauptthese des Referats
"Das Lernen von Mathematik ist umso wirkungsvoller ..
., je mehr es im Sinne eigener aktiver Erfahrungen betrieben wird, je mehr der Fortschritt im Wissen, Können und Urteilen des Lernenden auf selbständigen entdeckerischen Unternehmungen beruht."3)
Winter führt für diese These folgende Argumente an:
Lernen mit und durch Einsicht ist auf Dauer wirkungsvoller und ökonomischer, da aufgrund der emotionalen Anteilnahme des Lernenden am Entdeckungsprozess die selbst entdeckten Inhalte häufiger richtig und langanhaltend behalten und leichter wieder erinnert werden können, als durch das Auswendiglernen eines für den Lernenden bedeutungslosen Stoffes im Allgemeinen möglich. Durch die Erfahrung des Entdeckenden Lernens werden die Chancen der emotionalen und intellektuellen Identifikation des Lernenden mit dem Inhalt auch in künftigen Lernsituationen verbessert und ihm Möglichkeiten zum Aufbau oder Revidieren seines Selbstkonzeptes gegeben. Das Verstehen des zu Lernenden kann nicht von außen erzwungen werden, da es sich bei dem Gewinnen von Einsicht um einen Prozess handelt, den jeder Lernende individuell vollziehen muss und in dessen Verlauf verschiedene Grade der Einsicht, also sowohl besseres oder anderes Verstehen als auch plötzliches Nicht-mehr-Verstehen möglich sind. Selbständiges Arbeiten stellt durch das Einbeziehen vorhandenen Wissen eine intensive und sinnerfüllte Form des Übens dar.
Möglich wird Entdeckendes Lernen im Mathematikunterricht dadurch, dass mathematische Inhalte eine hohe innere logische Verflechtung besitzen und viele von ihnen in anschaulichen Situationen dargestellt werden können. Ferner kommt einerseits das Entdeckende Lernen der natürlichen Neugier und Wissbegier, mit denen Winters Ansicht nach jeder Mensch ausgestattet ist, zugute, andererseits muss der Lehrer, der entdecken lassen möchte, gerade auf diese Fähigkeiten seiner Schüler vertrauen.
An dieser Stelle halte ich Schwierigkeiten für möglich:
Ich denke dabei an Probleme aufgrund des Heranwachsens und an Schüler, die bereits einige Schuljahre nur noch stur auswendig gelernt und großes Geschick beim Aufspüren der - im Sinne der Lehrer und Erzieher - "richtigen" Antworten entwickelt haben. Sicherlich wäre es in einer solchen Klasse eine Illusion, Entdeckendes Lernen von einer Stunde auf die andere einzuführen und sich davon Erfolge hinsichtlich der Motivation und Eigenverantwortung der Schüler zu erhoffen. Hier könnte aufgrund der Überforderung der Schüler sogar eine Verschlechterung der Lage eintreten: Arbeitsverweigerung, vermehrte Disziplinstörungen bis hin zum Chaos. (Vielleicht bietet auch eine solche Phase - falls sie nicht zu lange anhält - die Möglichkeit des Entdeckens: Die Schüler könnten zum Beispiel feststellen, dass Leistungsverweigerung auf Dauer langweilig ist und Lernen durchaus auch Chancen mit sich bringt.
Ich möchte in meinen ersten Berufsjahren jedoch lieber nicht in eine solche Situation geraten.) Vielmehr halte ich ein schrittweises Heranführen der Schüler an Situationen des Entdeckens für sinnvoller: In dieser Zeit können verschütteter Lernwille, vor den Mitschülern versteckte Wissbegier, lange nicht geübte Eigenständigkeit und Übernahme von Verantwortung wieder geweckt oder geübt werden.
Entdeckendes Lernen kann und muss deshalb von Klasse zu Klasse variieren, um sowohl den einzelnen Schülern als auch der gesamten Gruppe gerecht werden zu können. Hier bestätigt sich für mich Winters Bild des Lehrers als im Rahmen des Entdeckenlassens selber Lernender.
III. Bruners Thesen zum Entdeckenden Lernen
J.
S. Bruner geht davon aus, dass nur ein Mensch, der in seiner Umwelt Ordnungen und Beziehungen erwartet, nach ihnen suchen und sie finden wird.
Zur Begründung dieser Ansicht beruft er sich auf ein psychologisches Experiment, bei dem die Versuchsperson an einem Zweifachwahlapparat durch Drücken der linken oder rechten Taste Marken gewinnen kann. Die Marken werden bis auf die Tatsache, dass Drücken der rechten Taste in 70% aller Fälle erfolgreich ist, Drücken der linken Taste in 30% aller Fälle - völlig zufällig herausgegeben. Bei den Probanden lassen sich im Wesentlichen zwei Reaktionsmuster unterscheiden: Ein Teil der Versuchspersonen geht davon aus, dass es keinen Plan gibt und geht infolgedessen dazu über, immer die rechte Taste zu drücken. Die andere Gruppe der Teilnehmer nimmt eine Sequenz bei der Ausgabe der Marken an.
Diese Gruppe testet nacheinander verschiedene Hypothesen, wobei die Personen durchschnittlich in 70% aller Fälle die rechte, in 30% die linke Taste drücken. Da es tatsächlich keinen Plan gibt, ist die erste Gruppe erfolgreicher: Sie erhalten 70% der möglichen Marken, wogegen die zweite Gruppe durchschnittlich 58% erhält. Bruners hält das Ergebnis dieses Experiments für eine Bestätigung seiner These, weil die zweite Gruppe - gäbe es einen Plan - diesen irgendwann herausfände und ab diesem Zeitpunkt alle Marken erhielte, während die erste Gruppe bei 70% der Marken verbliebe.
An dieser Stelle wurde während der Seminarsitzung eine kurze Diskussion geführt, in deren Verlauf alle Seminarteilnehmer Bruners These akzeptierten. Als Beispiele, in denen die These offensichtlich stimmt, nannten die Teilnehmer die Entdeckung Amerikas durch Kolumbus, der sich sicher war, dass es einen Seeweg nach Indien gibt und sich ja nur deshalb auf die Reise begab und die Tatsache, dass Menschen, die mit offenen Augen durch die Welt laufen, auch mehr von ihrer Umgebung wahrnehmen. Ferner wurde gerade der Schulbeginn als eine Schnittstelle im Leben eines Menschen hervorgehoben, an der die meisten Kinder noch die Erwartung hegen, etwas Neues und Interessantes zu erfahren und somit die Chancen für eine Bestätigung und Förderung dieser Erwartungen sehr gut sind, andererseits aber auch die Gefahr besteht, dass sich Neugier und Lust am Lernen schnell in Frust, Ablehnung oder Passivität wandeln, wenn die Erwartungen der Schüler größtenteils nicht erfüllt werden.
Darüber, ob die Wahl des Experiments als Bestätigung der These passend ist, herrschte Uneinigkeit. Irreführend an diesem Experiment finde ich, dass die "planlose" erste Gruppe ja mehr Marken bekommt, im Rahmen des Versuchs also erfolgreicher ist als die "erwartungsvolle" zweite. Ferner entstanden folgende Fragen, die sich anhand der gegebenen Beschreibung des Experiments nicht klären ließen: Vielleicht entstehen die unterschiedlichen Reaktionsweisen durch ein unterschiedliches Interesse der Versuchspersonen am Experiment? (Es kann schließlich auch sehr nervend und langweilig sein, unzählige Male hintereinander eine Taste zu drücken.) Vielleicht hat auch die erste Gruppe eine bestimmte Erwartung bezüglich Ausschüttung der Marken oder Ergebnis des Versuches, die aber für die Versuchsleiter nicht ersichtlich wurde bzw. nach der die Probanden nicht gefragt wurden?
Ergänzend möchte ich noch einen (spekulativen) Gedankengang aufzeigen: Bruner muss als Mathematikdidaktiker immer zwischen zwei "wissenschaftlichen Welten" vermitteln: Der meist eindeutigen, logisch aufgebauten und sehr exakt formulierten Mathematik und den für die Didaktik relevanten Bereichen der Erziehungswissenschaften, Soziologie und Psychologie, deren Erkenntnisse meist nicht im mathematischen Sinne beweisbar und zudem teilweise sehr subjektiv sind. (Um sich dies vor Augen zu führen, kann der Leser an dieser Stelle überlegen, wie ein Psychoanalytiker - Genau genommen müsste man noch zwischen verschiedenen Schulen unterscheiden! - bzw.
ein Behaviorist die Neugier und Lernlust eines Erstklässlers hinsichtlich ihrer Ursachen interpretieren würden.) Nun ist es meiner Meinung nach eine Erfahrungstatsache, dass nur ein Mensch, der Ordnungen und Beziehungen in seiner Umwelt erwartet, diese auch suchen wird, d.h. viele Menschen finden dies einleuchtend und würden es auch ohne "Beweis" akzeptieren. Vielleicht versucht Bruner, den Mathematikern die Mathematikdidaktik als "gleichwertige" Wissenschaft zu präsentieren, indem er seine Aussagen auf möglichst korrekte Art beweist. Leider bedient er sich hier eines ungeschickt gewählten, da eher irreführenden Experimentes.
(Vielleicht versucht er aber auch, seine eigenen Ansprüche an Korrektheit zu erfüllen?)
Ein weiterer Vorteil Entdeckenden Lernens besteht nach Bruners Ansicht darin, dass Erfolg und Misserfolg nicht mehr als Belohnung und Bestrafung sondern als Information erlebt werden. Außerdem werden die Schüler weniger abhängig von äußeren Belohnungen: Sie gehen allmählich dazu über, die Entdeckung selber zu belohnen. (Bruner verwendet den Ausdruck "autonome Selbstbelohnung".)
Der Autor orientiert sich in diesem Zusammenhang an einem Modell von White aus dem Jahre 1959, wonach eine intrinsische "Kompetenzmotivation" als das jedem Menschen innewohnende Bedürfnis, mit seiner Umgebung umgehen zu können, angenommen wird. Durch das Üben der dazu nötigen Fähigkeiten (und die damit einhergehende Erfahrung, besser mit der Umwelt "klarzukommen") erhöht sich der Einfluss der Kompetenzmotivation auf das Verhalten. Lernen erfolgt dann stärker aufgrund einer inneren Motivation als aufgrund extrinsischer Belohnungs- und Triebbedürfnisse.
Exkurs: Die Gegenthesen von Ausubel, Novak und Hanesian
Die Autoren stellten in ihrem Artikel "Psychologische und pädagogische Grenzen des entdeckenden Lernens" aus Bruners Artikel zwölf Thesen zusammen, die sie einzeln zu widerlegen versuchen. Meiner Meinung nach muss man allein schon über einige der aufgestellten Thesen diskutieren, da sie für mich nicht in dieser Form ableitbar sind. Zum Beispiel ist die These der Autoren, dass die Entdeckungsmethode die Hauptmethode der Vermittlung von Fachwissen sein sollte, für mich nicht uneingeschränkt aus Bruners Artikel ersichtlich. Ich werde mich an dieser Stelle nur mit den beiden Gegenthesen befassen, die sich auf die letzte im vorhergehenden Kapitel aufgestellte Behauptung beziehen.
Demnach sehen Ausubel, Novak und Hanesian keinen direkten Zusammenhang zwischen Entdeckendem Lernen und intrinsischer Motivation einerseits und rezeptivem Lernen und extrinsischer Motivation andererseits. Die Autoren sind sogar der Ansicht, dass Entdeckendes Lernen häufiger mit extrinsischer, rezeptives Lernen mit intrinsischer Motivation verbunden ist.
Diese Aussage wird nicht begründet. Weiter schreiben sie, dass es von zwei Faktoren abhängt, ob ein Lernender eher extrinsische oder intrinsische Motivation zeigt: Von der inneren Selbstachtung und dem damit verbundenen Bedürfnis nach ausgleichendem äußeren Studium und von der Stärke seiner kognitiven Bedürfnisse, die durch ererbte und temperamentsabhängige Faktoren und die bisherigen Lernerfahrungen bestimmt wird.
Ferner stellen die Autoren die Behauptung auf, dass nicht nur Entdeckendes Lernen Motivation und Selbstvertrauen erzeugt: Auch die geschickte Darbietung von Ideen in einem Lehrervortrag kann ein hohes Interesse und die Motivation zu echter Forschung im Schüler wecken. "...
(W)arum sollten Entdeckungsmethoden uns unbedingt mehr Vertrauen einflößen, daß es im Universum entdeckbare Gesetzmäßigkeiten gibt als die Methode des rezeptiven Unterrichts, deren Aufgabe zuletzt doch die Darstellung und Erklärung dieser Gesetzmäßigkeiten ist? Es ist richtig, daß erfolgreiches entdeckendes Lernen ein solches Vertrauen stärkt. Aber erfolglose Entdeckungsversuche haben genau die entgegengesetzte Wirkung, wie das Wiederaufleben magischen und abergläubischen Denkens zeigt, das dann folgt, wenn man vergeblich nach Mustern der Gesetzmäßigkeit in der Natur gesucht hat." 4)
In den Seminarsitzungen kamen wir immer wieder zu dem Schluss, dass Entdeckendes Lernen nicht die einzige Methode zum Wissenserwerb und speziell zur Unterrichtsgestaltung sein kann und darf, zum Einen wegen der von Ausubel, Novak und Hanesian genannten Gefahr, dass zu viele erfolglose Entdeckungsversuche für den Lernenden frustrierend sind, zum Anderen wegen der begrenzt zur Verfügung stehenden Lebens-, Unterrichts- und damit Lernzeit: Ich kann in der heutigen Zeit einen Schüler die Jahrtausende alte Wissenschaftsgeschichte nicht einmal annähernd durch eigenes Entdecken nachvollziehen lassen. Ein für mich anzustrebender Unterricht besteht immer aus einander abwechselnden Phasen verschiedener Formen des rezeptiven Lernens und Entdeckens. Insofern entsteht auch an dieser Stelle der Verdacht, dass die drei Kritiker Bruner zu einseitig interpretieren.
IV.
Problemlösen und Entdeckendes Lernen
Da Bruner von der Prämisse ausgeht, dass das Hauptproblem des menschlichen Gedächtnisses nicht das Speichern von Informationen, sondern ihr Abrufen ist, stellt sich ihm der Gedächtnisprozess als Prozess des Problemlösens dar: Wie muss ich die Information platzieren, damit ich sie auf Abruf bekomme? Da für das Entdecken im Gedächtnis vorhandene Information abgerufen, auf die konkrete Fragestellung angewendet und mit neuen Erkenntnissen kombiniert werden muss, ist also Übung im Problemlösen in zweierlei Hinsicht eine Voraussetzung zum Erlernen der heuristischen Methoden des Entdeckens: Um die nötigen Kenntnisse aus dem Gedächtnis abrufen zu können und um die bestehende Schwierigkeit in eine Art Rätselform zu bringen und dieses Rätsel (das Problem) dann zu lösen. (Das Rätselmodell entwarf der englische Philosoph Weldon. Wichtig ist hierbei, dass eine Rätselform konstruiert wird, welche dann auch wirklich auf Schwierigkeiten übertragen werden kann. Ferner ist auch die Art des Fragens für das Entdecken ausschlaggebend, da es darauf ankommt, nach den gerade relevanten Dingen zu fragen und nicht bei Nebensächlichkeiten stehenzubleiben.)
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass auch das Speichern von Information ein erhebliches Problem darstellt, für mich meist ein größeres als das Abrufen. Trotzdem schließe ich mich Bruner an und bezeichne den Gedächtnisprozess als einen Prozess des Problemlösens: Oft wäre das Lernen für mich einfacher, wenn ich Information in einer logischen, gut erinnerbaren Reihenfolge "speichern" könnte, wenn ich eine bessere Methode hätte, mir Jahreszahlen oder Formeln zu merken und beim Abrufen nicht durcheinanderzubringen und wenn ich mehr Informationen gleichzeitig "speichern" könnte.
Die von Bruner formulierte Erkenntnis, dass selber Entdecktes länger im Gedächtnis bleibt, trifft sicherlich zu: Die Anzahl der verschiedenen Möglichkeiten, aus n Streichholzschachteln einen Quader zu bauen werde ich wohl wesentlich länger im Gedächtnis behalten als die Bayessche Formel. Allerdings kann auch bei rezeptivem Lernen ein eindrucksvolles, ein den Lernenden besonders interessierendes oder ein mit unangenehmen Erfahrungen verknüpftes Beispiel lange Zeit im Gedächtnis bleiben. (Somit hat auch die Bayessche Formel noch Chancen.) Allerdings ist es schwierig, für jeden Lernenden ein derartiges Beispiel zu finden. Dazu bietet aufgrund des individuellen Weges das Entdeckende Lernen mehr Möglichkeiten.
Ich halte die Verknüpfung des Begriffes "Entdeckendes Lernen" mit dem Begriff "Problemlösen" für sinnvoll, weil ein Schüler mit einem Problem eine Antwort sucht und somit zum Lernen motiviert ist.
Ferner werden das Wissen und das "Nicht-Wissen" durch die Formulierung eines Problems stärker in das Bewusstsein des Lernenden gerückt, strukturiert und geordnet. Daraufhin ist es oft leichter möglich, unkonkretes "Nicht-Wissen" in konkrete Fragen umzuwandeln. Die zur Beantwortung der Fragen nötigen Informationen können von den weniger wichtigen getrennt und nach fehlenden Fakten aktiv gesucht werden. Dadurch entsteht ein Plan zum Lösen des Problems, der ausgeführt, revidiert und im Nachhinein analysiert werden kann.
Soweit die Theorie, dazu nun Erfahrungen aus der Praxis: In der Seminarsitzung, in welcher das Streichholzschachtelproblemi) bearbeitet wurde, existierte nach Bekanntgabe der Fragestellung einige Minuten lang Ratlosigkeit. (Mich beschäftigte die Frage, was Prof.
Schulz wohl nach der Sitzung mit den Streichhölzern anfangen würde und wie ihn die Verkäuferin des Supermarktes, in dem er die Streichhölzer kaufte, wohl angesehen haben mag. Ich wäre an seiner Stelle wohl eher durch halb Berlin gefahren und hätte in verschiedenen Supermärkten je zehn Streichholzschachteln gekauft als in einem einzigen Laden eine ganze Kiste.) Dann tauchten die ersten Fragen auf: Wie dürfen die Schachteln aneinander gelegt werden, welche Lösungen zählen als von einander abweichend? (Aus dem "Nicht-Wissen" entstanden Fragen.) Es folgte eine Phase mehr oder weniger planlosen Probierens, die einige Seminarteilnehmerinnen zu zweit oder alleine bestritten. Mit wachsendem n kamen wir zu der Erkenntnis, dass auch das Ordern und Aufteilen von Material (Streichholzschachteln) zu einem Problemlösungsprozess werden kann, wenn ernsthafter Streit abgewendet werden soll. (Besonders wichtig in der Schule: Eine Kiste Streichholzschachteln reicht nur für drei bis fünf Gruppen.
Man sollte also im Supermarkt einige Tage vor einem derartigen Streichholzschachtelexperiment eine Bestellung aufgeben, damit es nicht zu einem Materialengpass kommt und man dann mit zu wenigen Streichholzschachteln vor die Schüler tritt. Ferner sind immer die Schüler im Materialbedarf gesondert zu berücksichtigen, die strikt darauf beharren, alleine zu entdecken.) Das Eintragen der Ergebnisse wurde zu einem Wettbewerb zwischen im Wesentlichen zwei Gruppen, an dem gegen Ende der Experimentierphase ab und zu auch die dritte Gruppe teilnahm. Erst wesentlich später als vom Seminarleiter erwartet, griffen einige Studentinnen auf die Möglichkeit der Notizen zurück, einige nutzten diese Möglichkeit nicht. Die Notizen waren zwar Bestandteil eines (revidierten) Lösungsplanes, warfen für mich allerdings wieder neue Probleme auf, z.B.
das Problem des mangelnden Zeichentalents, der günstigen Systematisierung der Zeichnungen und der Blattgröße, die für die von mir erdachte Systematisierung leider zu klein war. Besonders schwer viel es uns, wirklich alle verschiedenen Quader zu finden, immer wieder entdeckte die neben uns sitzende Gruppe einen weiteren, worauf wir natürlich überprüfen mussten, ob die anderen auch Recht hatten. Dies unterbrach unsere Arbeit immer wieder, da wir ja inzwischen schon die Quader für ein anderes n zählten, erhöhte aber gleichzeitig unsere Bemühungen, endlich eine Formel zu finden, möglichst als erste Gruppe. (Also eine deutlich spürbare Erhöhung der Motivation, aber auch des von manchen Pädagogen so verteufelten Wettbewerbs unter den Lernenden!) Wir versuchten, alle möglichen Quader gleichzeitig auf den Tisch zu legen: Letztendlich mangelte es uns auch hier wieder an einer geeigneten Systematisierung, d.h. geschickten Anordnung der verschiedenen Quader.
Irgendwann nahm ich nur noch halbherzig an den Versuchen meiner Kommilitonin teil: Ich war des relativ planlosen Experimentierens leid und versuchte mir mit den Notizen weiter zu helfen. (Der unterschiedliche Arbeitsstil kann für die Gruppe förderlich sein, kann aber auch zu ihrem Zerfall beitragen. Für mich war an dieser Stelle der bisherige Lösungsplan nicht mehr zufriedenstellend, ich beschritt einen anderen Weg, während meine Kommilitonin - Dies soll keine Wertung sein! - noch beim bisherigen Plan blieb.) In den letzten zehn Minuten der Seminarsitzung trugen wir dann unsere Lösungsideen und -pläne zusammen und erstellten aus ihnen einen einzigen Lösungsplan, der uns zu einem Ergebnis führte. Auch hier kam es also zu der für den Seminarleiter unerwarteten Situation, dass das Finden der Lösung länger dauerte als vorgesehen.
"Lernen durch Entdeckenlassen
Lernen durch Belehren
Lehrer setzt auf die Neugier und den Wissensdrang.
Lehrer setzt stärker auf die Methoden seiner Vermittlung.
Lehrer betrachtet die Schüler als Mitverantwortliche im Lernprozeß.
Lehrer neigt stärker dazu, die Schüler als zu formende Objekte anzusehen.
Lehrer versteht sich als erzieherische Persönlichkeit und fühlt sich für die Gesamtentwicklung mitverantwortlich.
Lehrer versteht sich in erster Linie als Instrukteur, als Vermittler von Lerninhalten.
Lehrer ist sich der Begrenztheit didaktischer Einflußnahme bewußt; er weiß insbesondere, daß er auch zur Verdunklung beitragen kann.
Lehrer tendiert zu einem ausgeprägten Glauben an pädagogische Machbarkeit.
Lehrer versucht, die allgemeine Bedeutung des Lernstoffs zu erhellen.
Lehrer beschränkt sich hauptsächlich auf die innermathematische Einordnung des Stoffes.
Lehrer versucht, zentrale Ideen deutlich werden zu lassen.
Lehrer legt größeren Wert auf lokale Abgrenzung des Inhalts.
Lehrer versucht, den Beziehungsreichtum der Lerninhalte sichtbar werden zu lassen.
Lehrer hält Separationen und Isolationen für lernwirksamer.
Lehrer bietet herausfordernde, lebensnahe und nicht so arm strukturierte Situationen an.
Lehrer gibt das Lernziel - möglichst im engen Stoffkontext - an.
Lehrer ermuntert zum Beobachten, Erkunden, Probieren, Fragen.
Lehrer erarbeitet den neuen Stoff durch Darbieten oder durch gelenktes Unterrichtsgespräch.
Lehrer gibt Hilfen als Hilfen zum Selbstfinden.
Lehrer gibt Hilfen als Hilfen zur Produktion der gewünschten Antwort.
Lehrer fördert und schätzt auch intuitives Handeln hoch.
Lehrer tendiert zum möglichst raschen Gebrauch der Fachsprache.
Lehrer gibt der Eigendynamik von Lernprozessen, die sprunghaft und unsystematisch erscheinen, Raum.
Lehrer setzt auf kleinschrittiges und schwierigkeitsgradig gestuftes Vorgehen.
Lehrer hält die Schüler an, ihre Lösungsansätze selbst zu kontrollieren.
Lehrer fühlt sich verpflichtet, i.w. selbst Schülerbeiträge zu beurteilen.
Lehrer versucht, Schülerfehler (oder vermeintliche Schülerfehler) mit den Schülern zu analysieren.
Lehrer versucht nach Kräften, das Auftreten von Schülerfehlern zu unterbinden.
Lehrer thematisiert das Lernen und Verstehen.
Insbesondere legt er Wert auf das Bewußtwerden heuristischer Strategien (Heurismen). (griech.: heuriskein = finden, entdecken)
Lehrer vermeidet eher Reflexionen über das Lernen und über das Lösen von Problemen. Problemlösen vollzieht sich naiv." 5)
Literaturverzeichnis
Ausubel, D.P.
, Novak, J.D., Hanesian, H.: Psychologische und pädagogische Grenzen des entdeckenden Lernens. In: Neber, H.: Entdeckendes Lernen.
Beltz, 1981
Bruner, J. S.: Der Akt der Entdeckung. In: Neber, H.: Entdeckendes Lernen. Beltz, 1981
Winter, H.
: Entdeckendes Lernen im Mathematikunterricht. Braunschweig 1989
Quellenverzeichnis
1) Winter, H.: Entdeckendes Lernen im Mathematikunterricht, Braunschweig 1989, S. 2
2) a.a.O.
, S. 72
3) a.a.O., S.1
4) Ausubel, D.
P., Novak, J.D., Hanesian, H.: Psychologische und pädagogische Grenzen des entdeckenden Lernens. In: Neber, H.
: Entdeckendes Lernen. Beltz, 1981, S. 42
5) Winter, H.: a.a.O.
, S.4
i) Das Streichholzschachtelproblem:
Fragestellung: Wie viele (in Breite, Länge und Höhe) verschiedene Quader kann man mit genau n Streichholzschachteln legen? Dabei dürfen keine Hohlräume entstehen und Zusammenstellungen der Art "An drei mit der größten Fläche aufeinander liegende Schachteln wird eine Schachtel hochkant angelegt." sind nicht erlaubt, da die Länge einer Schachtel der Gesamthöhe drei flach aufeinander liegender Schachteln nur ungefähr entspricht. Ferner sind die Schachteln nicht nummeriert und zwei einander gegenüber liegende Seiten ein und derselben Schachtel werden als gleich angesehen.
Vorgehen: Den Seminarteilnehmerinnen wurde nur die unterstrichen dargestellte Fragestellung bekannt gegeben. Nach einigen Minuten des Schweigens wurden von den Studentinnen Rückfragen hinsichtlich der Zulässigkeit von Hohlräumen etc.
gestellt. Anschließend stellte der Seminarleiter Streichholzschachteln zur Verfügung, mit denen alleine oder in Gruppen experimentiert werden durfte. Prof. Schulz entwarf unterdessen an der Tafel eine Tabelle, in die für 0 < n < 21 (erweiterbar) die gefundenen Ergebnisse eingetragen - und von jeder Gruppe, die andere Ergebnisse als die an der Tafel stehenden gefunden hatte - durchgestrichen und korrigiert werden durften. Nach Belieben konnte jede Teilnehmerin bzw. Gruppe Notizen auf dem Papier machen.
Als das Ende der Seminarsitzung näher rückte und noch immer keine allgemeine Lösung an der Tafel stand, suchten (und fanden) wir das letzte Stück des Weges bis zum Ergebnis gemeinsam. In der darauffolgenden Seminarsitzung wurde noch ca. 20 Minuten über das Entdecken der Lösung reflektiert.
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"Constanze von Essen" <const@hdk-berlin.de>
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