Literatur:
Literatur:
Stanley Milgram,
Das Milgram-Experiment.
Zur Gehorsamsbereitschaft gegenber Autorit“t.
Deutsch von Roland Fleissner.
1974 Rowohlt Verlag, Hamburg
(Ob es noch lieferbar ist, kann ich aber leider nicht sagen.
Aus diesem Buch wird im folgenden ziemlich viel ohne besondere
Kennzeichnung sinngem“ und w”rtlich zitiert.)
Film: "Abraham - ein Versuch"
(In Anlehnung an die Geschichte von der "versuchten Opferung des Isaak")
BRD, 1970
Regie: Hans Lechleitner / Paul Matussek / David M.
Mantell
16 mm / Lichtton / schwarz-wei
48 Minuten
entleihbar in zahlreichen Filmbildstellen.
(Vielleicht auch schon auf Video?)
Es geht bei dieser Untersuchung, dem Milgram-Experiment,
darum herauszufinden, wieviel
Gehorsam ein Mensch einem anderen Menschen entgegenbringt,
ohne dazu in irgendeiner Form gezwungen zu sein.
Diese Fragestellung entspringt der nchternen Feststellung ber die
"Banalit“t des B”sen" (Hannah Arendt), da n“mlich bei der frchter-
lichen Menschenvernichtung w“hrend der Nazizeit eben keine Bestien,
sondern ganz normale Menschen wie Du und ich sich in einem ungeheueren
Mae beteiligten, ohne irgendwelche Gewissenbisse zu empfinden und
zu einem erheblichen Teil, ohne in irgendeiner Weise gezwungen zu
sein. Sie machten einfach ihre Arbeit - und das war es dann.
Sie gehorchten einer bergeordneten Instanz, der sie vertrauten,
die sich halt als irgendwie bergeordnet legitimierte, sie hielten
es fr richtig, zu gehorchen. (Da es mehr oder weniger viele gab,
die nur unter Protest gehorchten, die Widerstand leisteten, da es
auf der anderen Seite auch Sadisten gab, die ihren Spa hatten, soll
hier jetzt mal beiseite gelassen werden.
Es geht um die ganz normalen
Menschen, die einfach mitmachten.)
Das Problem ist: Wie kann man Gehorsam messen?
Dazu wurde ein geradezu teuflisches Experiment ausgedacht:
(Aus der Sicht des zu Untersuchenden:)
In einer Zeitung werden Versuchspersonen zu einer Untersuchung
ber Ged“chnis und Lernverm”gen eingeladen gegen eine Kostenerstattung
von 25 DM je Stunde. Zus“tzlich wurden Menschen wahllos aus dem
Telefonbuch herausgesucht und angeschrieben.
Du wirst mit einer weiteren Person in ein Labor eingeladen.
Ein leidenschaftsloser Versuchsleiter erkl“rt folgendes:
Die Psychologen haben mehrere Theorien entwickelt, die eine
Erkl“rung fr die Tatsache bieten, wie Menschen unterschiedliche
Arten von Lernstoffen lernen.
Einige der bekannteren Theorien werden in diesem Buch abgehandelt.
(Der Versuchsperson wird ein Buch ber den Lehr-/Lernproze
vorgelegt.)
Eine Theorie lautet, da der Mensch etwas exakt lernt, wenn er fr
einen Fehler jedesmal bestraft wird.
Eine allgemeine Anwendung dieser Theorie ist etwa, da Eltern
ein Kind schlagen, wenn es etwas angestellt hat.
Die Erwartung geht dahin, da Prgel als Bestrafung das Kind lehren
werden, sich besser zu erinnern, da sie es lehren werden,
erfolgreicher zu lernen.
Wir wissen jedoch noch sehr wenig ber den Einflu von Strafe auf
den Lernproze, weil es fast keine wirklich wissenschaftlichen
Untersuchungen am Menschen darber gibt.
Wir wissen zum Beispiel nicht, wieviel Strafe sich am gnstigsten
auf das Lernen auswirkt, und wir wissen nicht, welchen Unterschied
die Person des Strafenden ausmacht - ob ein erwachsener Mensch am
besten von einer jngeren oder “lteren Person als er selbst lernt
- usw.
, usw.
Deshalb versammeln wir fr unser Experiment eine Anzahl von
Erwachsenen mit verschiedenen Berufen und von unterschiedlichem Alter
und bitten einen Teil von ihen, Lehrer zu sein, einen anderen Teil,
Schler zu spielen.
Wir wollen herausfinden, welche Auswirkungen verschiedenen Menschen
freinander als Lehrer und als Schler haben, ud wir wollen auch
herausfinden, welche Auswrikung _Bestrafung_ in dieser Situation hat.
Deshalb werde ich jetzt einen von Ihnen beiden bitten, hier heute
abend den Lehrer darzustellen, den anderen, die Rolle des Schlers
zu bernehmen.
Zieht einer von Ihnen die eine oder andere Rolle vor?
(Die beiden Teilnehmer k”nnen ihre Vorliebe “uern.)
Also, ich lgaube, es ist am fairsten, wenn ich auf zwei Zettel die
W”rter "Lehrer" und "Schler" schreibe und Sie beide losen lasse.
Du wirst als Lehrer ausgew“hlt und Euch beiden die Versuchsanordnung
gezeigt: Der Schler wird auf eine Art elektrischen Stuhl geschnallt,
es werden Elektroden angebracht (mit Elektrodensalbe, "um Verbrennungen
zu vermeiden"). "Obwohl die Schocks “uerst schmerzhaft sein k”nnen,
verursachen sie keine bleibenden Gewebssch“digung", wird Dir erkl“rt.
Die Lernaufgabe besteht darin, Assoziationspaare zu lernen. Du liest
dem Schler Wortpaare vor:
Blau Schachtel
Sch”n Tag
Wild Vogel
usw
Anschlieend mu der Schler sich an das zweite Wort erinnern: Du liest
vor:
Blau: Himmel, Tinte, Schachtel, Lampe.
Der Schler mu nun entsprechend der richtigen Position einen von
vier Kn”pfen drcken. Im Nebenraum leuchtet nun eine von vier Lampen
auf.
Dort befindet sich auch der Schockgenerator:
Eine Tafel mit 30 Kippschaltern. Sie sind beschriftet mit
15 Volt, 30 Volt, 45 Volt usw bis 450 Volt. Jeweils vier Schalter tragen
die Bezeichnung:
"Leichter Schock", "M“iger Schock", "Mittlerer Schock", "Kr“ftiger
Schock", "Schwerer Schock", "Sehr schwerer Schock", "Gefahr: Bedrohlicher
Schock". Zwei Schalter nach dieser letzten Bezeichnung tragen nur die
Markierung "X X X".
Wenn ein Kippschalter bet“tigt wird, leuchtet ber ihm eine rote
Kontrollampe auf; man h”rt ein elektrisches Summen; ein elektrisches
Blaulicht mit der Aufschrift "Spannungsverst“rker" blitzt auf;
der Zeiger auf dem Voltmeter schl“gt aus.
Bevor es losgeht, erh“ltst Du einen Probeschock von 45 Volt.
Bei jeder falschen Antwort mut Du auf dem Schockgenerator eine Stufe
h”her gehen. Du mut vor der Verabreichung die Voltst“rke ankndigen.
Z.B.: "Sie erhalten jetzt einen Schock von 150 Volt!"
Falls Du bis 450 Volt gehen wirst, sollst Du diese Stufe beibehalten.
Nach zwei weiteren Versuchen wird der Versuchsleiter abbrechen.
Der einzige Ansporn, den Du erhalten wirst, besteht aus vier S“tzen,
die jeweils der Reihe nach gesagt werden, bis Du den Schalter umlegst.
1 - Zuerst: Bitte machen Sie weiter! Oder:
Bitte fahren Sie fort!
2 - Falls das nicht nutzt:
Das Experiment erfordert, da Sie weitermachen!
3 - Dann: Sie mssen unbedingt weitermachen!
4 - Die letzte Steigerung:
Sie haben keine Wahl, Sie _mssen_ weitermachen.
Das Ma fr den Gehorsam ist gleichsam die Stromst“rke, die Du als
Lehrer maximal zu geben bereit bist, bevor Du den Versuch auf jeden
Fall abbrechen wirst. Die Auslosung nach Schler und Lehrer war
natrlich Betrug: Du warst die eigentliche Versuchsperson, Du
wurdest auf jeden Fall der Lehrer. Gemessen werden soll Deine
Bereitschaft, gehorsam zu sein.
Zu den Ergebnissen:
Im Vorversuch gab es keine Rckkopplung zwischen Lehrer und Schler.
Praktisch alle Versuchspersonen zogen die Fragen bis zur h”chsten
Voltst“rke durch und lieen sich von den Aufschriften ber den
Schaltern nicht beeindrucken.
Als mute ein Schauspieler den Schler spielen. Zun“chst waren es nur
m“ige, dann auch sch“rfere Proteste, aber immer noch zogen die Mehrheit
der Versuchspersonen bis zu h”chsten Stufe durch.
Letztlich wurden bestimmte uerungen an eine bestimmte Voltst“rke
gekoppelt:
75 Volt: leichtes Knurren
120 Volt: "Es tut weh"
135 Volt: schmerzliches St”hnen
150 Volt: Schreie "Ich weigere mich!"
180 Volt: Brllen "Ich kann nicht mehr!"
270 Volt: Qualvolles Brllen
300 Volt: Der Schler weigert sich, noch Antworten zu geben.
Der Versuchsleiter gibt die Anweisung, dies als falsche
Antwort zu werten und nach 5 bis 10 Sekunden Toleranzzeit
weiterzumachen.
Nach 330: Keine Antworten mehr
Diese Versuchanordnung sollte also zu einem Konflikt fhren:
zwischen dem Gehorsam gegenber der Forderung des Versuchsleiters
weiterzumachen und der zunehmend dringenden Bitte des Schlers,
das Experiment abzubrechen.
Die jeweils maximale Voltst“rke war das
Ma fr Deinen Gehorsam.
Vorher wurden Menschen gefragt, ob sie bei diesem Versuch abbrechen
wrden und wann. ALLE Menschen gaben an, in jedem Falle abzubrechen.
Eine ganze Reihe wrde sich sogar weigern, auch nur den ersten
Schock zu geben. Keiner wrde einen "Sehr schweren Schock" geben,
fr die meisten w“re der "Mittlere Schock" die “uerste Grenze.
Die Zahlen der dann durchgefhrten Versuche sprechen eine
andere Sprache:
_62 Prozent_ gingen bis zum bitteren Ende ber "X X X" hinaus.
Und erschreckend viele der brigen machten erst beim "Sehr
schweren Schock" Schlu.
Selbst wenn der Schler im selben Raum sa, waren es noch
40 Prozent, die 450 Volt an einen Schler verabreichten, der
keine uerung mehr von sich gab.
In einer weiteren Versuchsreihe bekam der Schler nur dann einen
Schock, wenn seine Hand auf einer "Schockplatte" lag. Ab 150 Volt
weigerte sich der Schler, und der Lehrer mute mit steigender
Gewalt die Hand selbst auf die Platte drcken: Immer noch zogen
30 Prozent bis zum bitteren Ende durch!!!
Im Buch kann man die Ergebnisse nachlesen, wenn das Experiment variiert
wurde:
- Frauen als Versuchspersonen,
- der Versuchsleiter steht direkt neben dem Lehrer
- er sitzt im Raum, aber entfernter
- er verl“t den Raum und gibt die Anweisungen nur noch per Telefon
- der Schler mu vorher unterschreiben, da er sich freiwillig
am Eperiment beteiligt und alle Beteiligten von jeglicher
Haftung an den Folgen freispricht.
- ob das Labor in einem Hinterhof oder hinter einer renomierten
Fassade eingerichtet ist.
- Trotz Schreien bittet der Schler, weiterzumachen, weil er es
als seine Pflicht ansieht.
..
Es kommt zu entsprechend abweichenden Ergebnissen oder auch nicht.
Immer ist jedoch der Bereitschaft, einfach weiterzumachen, enorm.
Das Ergebnis widerspricht allen Prognosen, die die Versuchspersonen
ber ihr eigenes Verhalten abgegeben haben.
Der Autor schreibt:
"Das Dilemma, das sich aus dem Konflikt zwischen Gewissen und
Autorit“t ergibt, ist in der Gesellschaft selbst beschlossen, und wir
wrden damit leben mssen, selbst wenn es Nazideutschland nie
gegeben h“tte.
Wenn man das Problem ausschlielich historisch
behandelt, verleiht man ihm eine allzu groe, zu Illusionen verlei-
tende Distanz.
Manche lehnen das Nazi-Beispiel ab, weil wir heute in einer De-
mokratie und nicht in einem autorit“ren Staat lebten. Aber das
Problem wird dadurch nicht beseitigt. Denn es lautet nicht "unbe-
dingte Autorit“t in der Art politischer Organisation" oder "Gruppe
von psychischen Sinstellungen", sondern "Autorit“t". Unbedingte
Autorit“tsgl“ubigkeit kann demokratischer Praxis weichen,
aber Autorit“t als solche kann nicht ausgeklammert werden,
solange die Gesellschaft in der uns vertrauten Form weiterexistieren
soll.
In Demokratien werden Menschen durch ”ffentliche Wahlen in ihr
Amt eingesetzt.
Doch sobald sie einmal installiert sind, besitzen
sie nicht weniger Autorit“t, als jene, die durch andere Mittel
ihre Position erlangt haben. Und wie wir wiederholt gesehen haben,
k”nnen auch die Forderungen einer demokratisch installierten
Autorit“t mit dem Gewissen in Konflikt geraten. Der Import und
die Vernichtung der indianischen Bev”lkerung Amerikas, die Intervenierung
japanischer US-Brger, der Einsatz von Napalm gegen Zivilisten
in Vietnam - alle diese Aktionen waren grausam und entsprangen
der Autorit“t einer demokratischen Nation, und man begegnete ihnen
mit dem erwarteten Gehorsam. In jedem einzelnen Fall erhoben
sich Stimmen des moralischen Protests, doch die typische Reaktion
des Durchschnittsmenschen war, den Befehlen zu gehorchen."
Inwischen sind mehr als 20 Jahre vergangen. Mich wrde eine Neuauflage
dieses Versuches interessieren.
Ich wei heute auch nicht mehr, ob es unbedingt ein Problem des
Gehorsams ist. Ist es gehorsam, wenn man in das verlogene Geheul
eines Teils unserer Politiker und des amtierenden Innenministers
einstimmt, es g“be massenhaften Asylmibrauch in unserem Land
und m”gliche Asylbewerber mten durch reduzierte Sozialhilfe
usw abgeschreckt werden, es k“men ganz "Fluten" von ihnen in
unser Land usw? Jeder, der sich ein wenig fr Flchtlingsarbeit
interessiert, kann wissen, wie verlogen dieses Geheul ist. Jeder
kann wissen, da Brgerkriegsflchtlinge von den mtern der
Gemeinden zum Asylmibrauch aufgefordert werden, damit nicht mehr die
Gemeinden, sondern andere Kostentr“ger fr die Unterbringung
zust“ndig werden. Jeder kann es wissen...
Und dennoch "legt" die brave Omi von nebenan "den Schalter um",
redet von ihrer Angst vor diesem "Pack" und da sie dringend
"raus mten".
Und dennoch klatschen ansonsten unauff“llige Familienv“ter
Beifall, wenn Brands“tze auf Asylheime geworfen werden.
Dennoch werden Menschen zu reiner Man”vriermasse fr skrupellose
Politiker, die knstlich die Bearbeitungsdauer von Asylantr“ge
verl“ngern und im Gegensatz dazu ”ffentlich erkl“ren, sie seien
zu lang, und viel mehr Menschen mten ohne individuelle Prfung
ihres Schicksals unmittelbar wieder abgeschoben werden k”nnen.
Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Milgram-Experiment und
der gegenw“rtigen Asyldebatte? Gibt es vielleicht auch einen
Zusammenhang zwischen dem Experiment und der gestiegenen Gewalt-
Bereitschaft (nicht nur) unter Jugendlichen in unserer Gesellschaft?
Ich wei es nicht. Mir wrde es reichen, wenn der eine oder
die andere nachdenklich wrde ber seine eigene Gehorsams-
und Gewaltbereitschaft - und heute aufsteht gegen Gewalt
gegen Menschen, Frauen, M“nner und Kinder, egal welche Hautfarbe
sie tragen und egal, ob die Gewalt sich institutionell durch
Asylgesetzgebung oder ganz offensichtlich durch Brands“tze
geschieht..
.
Bernd Kehren
Anmerkungen: |
| impressum | datenschutz
© Copyright Artikelpedia.com