Philosophische disputation: hat jeder mensch ein gewissen
In der heutigen Zeit wird unser Leben immer mehr von Verantwortungslosigkeit und Gewissenlosigkeit geprägt:
Technologisch hochentwickelte Waffen ermöglichen es uns aus immer größerer Distanz und mit zunehmender Präzision einen Gegner zu vernichten. Bei dieser Art von Fernkampf - was die heutige Kriegsführung viel effizienter gestaltet als vor beispielsweise 100 Jahren - wird der direkte Blickkontakt zum Gegner aufgehoben, er ist keine Person mehr, sondern nur noch Ziel. Durch diese Depersonalisierung wird die Hemmschwelle des Soldaten deutlich herabgesetzt und das menschliche Moralempfinden nahezu ausgeschaltet. Schließlich fällt es leichter, jemanden aus großer Entfernung bzw. einen kleinen Punkt auf einem Bildschirm zu vernichten. Ähnlich verhält es sich bei Computerspielen und Reality-Shows, die ebenfalls dazu beitragen, dass sich inzwischen jeder - auch Kinder und Jugendliche - an den Leiden eines anderen ergötzen kann.
Sogar Nachrichten werden zum reinsten Entertainment, sobald man Bilder von Terroranschlägen, Geiselnahmen oder Naturkatastrophen zu Gesicht bekommt.
In so einer Gesellschaft, wo das Töten digitaler Gegner im Kinderzimmer oder das erschreckende Leid in den Nachrichten zur Primetime an der Tagesordnung steht, sind ethische und moralische Fragen hoch aktuell und von großer Wichtigkeit. Wir sind an einem Punkt angelangt, wo man durch die Medien der Realität immer weiter entrücken kann, was unsere Hemmschwelle, unser inneres Moralempfinden und auch den Wert eines Menschen mehr und mehr herabsetzt.
Ist das Verfallsdatum unseres Gewissens schon längst überschritten? Hat jeder Mensch überhaupt ein Gewissen? - Und nicht zuletzt: Was ist das Gewissen? Wie funktioniert es und woher kommt es?
Der bundesdeutsche Gesetzgeber anerkennt die Existenz des Gewissens zum Beispiel dadurch, dass er die Möglichkeit zur Verweigerung des Wehrdienstes aus Gewissensgründen einräumt. (Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, GG Artikel 4, Punkt 3). Doch das Gesetz liefert keine genaue Definition des Gewissens oder gar eine Antwort auf die Frage, ob jeder Mensch eines besitzt.
Das Gewissen ist ein universales Merkmal des Menschen. Es bezeichnet eine spezielle "übergeordnete" Instanz des Bewusstseins, die den Einzelmenschen dazu drängt, aus ethischen Gründen bestimmte Handlungen auszuführen und andere zu unterlassen. Je nach Art der Situation und der Person kann die Entscheidung unausweichlich sein und ganz bewusst erfolgen oder aber halbherzig und kaum durchdacht. Handelt der Mensch entsprechend seinem Gewissen, fühlt er sich gut und zufrieden (gutes, reines Gewissen), handelt er dagegen, fühlt er sich von ebendieser Bewusstseinsinstanz angeklagt und verfolgt (schlechtes Gewissen, Gewissensbisse). Somit lässt sich gewissenhaftes Handeln mit vernünftigem Handeln gleichsetzen.
Die Psychologie nach Sigmund Freud verwendet auf diesem Gebiet die drei Begriffe Es, Ich und Über-Ich.
Das unbewusst-triebhafte Es wird in seinen Triebäußerungen durch das Über-Ich hemmend kontrolliert. Dabei wird das Über-Ich verstanden als Introjektion der elterlichen und gesellschaftlichen Autorität in das Unbewusste. Das so verstandene Gewissen veranlasst das Kind besonders in den ersten Lebensjahren die gesellschaftlich approbierten Verhaltensweisen einzuhalten. Das reife Ich, die individuelle Persönlichkeit mit ihren aus Erfahrung gewonnenen bewussten Wertsetzungen, bildet sich in der Auseinandersetzung des Menschen mit seiner gesellschaftlichen Umwelt und durch Überwindung des Bestimmtseins durch das Über-Ich.
Das Gewissen stellt also eine Kontrollinstanz dar, welche stark von der Vernunft bestimmt ist.
Der Philosoph David Hume (1711-1776) spricht im Hinblick auf das Gewissen von dem sog.
Moralischen Empfinden (moral sentiment), wobei nicht nur die Vernunft, sondern auch das Gefühl eine große Rolle spielt. Handlungen werden als positiv bewertet, wenn sie nützlich oder angenehm sind, für das Individuum selbst oder für andere bzw. die Gemeinschaft. Die subjektiven Empfindungen dabei beruhen auf den 2 Prinzipien Selbstliebe und Sympathie. Der einzelne verfolgt nicht nur seine Eigeninteressen, sondern ist als soziales Wesen fähig, an den Gefühlen und Interessen anderer Anteil zu nehmen, da er in eine Gemeinschaft eingebettet ist.
Zur Grundlage der Moral bzw.
des Gewissens gehört daher die Sympathie, durch die Gefühle von einer Person auf die andere übertragen werden.
Damit wird die Intersubjektivität (intersubjektiv= mehreren Einzelwesen gemeinsam, sie umfassend) moralischer Werte deutlich.
Adam Smith (1723-1790) betont wie Hume die Abhängigkeit moralischer Wertungen vom Gefühl. Handlungen und Haltungen werden moralisch gebilligt, wenn man mit den Gefühlen des Handelnden sympathisieren kann. Unsere eigenen Handlungen bewerten wir, indem wir uns fragen, ob ein unparteiischer "Zuschauer" mit unseren Motiven sympathisieren würde.
Durch Abstraktion und Verallgemeinerung gelangt man von der individuellen Billigung bzw.
Missbilligung zu einem übergeordneten Maßstab für allgemeingültige moralische Urteile.
Werden demnach unsere Moralvorstellungen von der Gesellschaft in der wir leben bestimmt? Freud (siehe oben) entwickelte schließlich auch die Theorie, dass das Gewissen nicht angeboren ist bzw. dass unsere moralischen Werte von unserer Erziehung geprägt werden.
Nach dem dialektischen Materialismus spiegelt das Gewissen nur den wandelbaren Gesellschaftszustand, welcher sich aus wechselnden materiellen Produktionsverhältnissen erklärt. Da die Materie, die einzige Wirklichkeit, sich ständig verändert, gilt keine sittliche Wahrheit absolut.
Bei all den verschiedenen Positionen wird auf verschiedenste Weise deutlich, dass unser Gewissen nicht angeboren zu sein scheint.
Erst durch die Sozialisation entwickeln wir ganz bestimmte moralische Vorstellungen und Werte. Das erklärt auch, wie unterschiedlich die Menschen auf eine Situation reagieren können und warum wir manchen Menschen so etwas wie Gewissenlosigkeit zuschreiben, wenn ihre Vorstellungen mit unseren nicht konform gehen.
Stanley Milgram (siehe Anlage: Milgram-Experiment) untersuchte in seinen sozialpsychologischen Experimenten der 60er Jahre die Gehorsamsbereitschaft unter verschiedenen Bedingungen. Dabei wies er in Wirklichkeit experimentell nach, wie das Gewissen je nach Versuchsanordnung ganz unterschiedlich reagiert. Ein wichtiges Einzelergebnis ist die Widerstandsfähigkeit des Gewissens unter allen Umständen bei etwa einem Drittel der Versuchspersonen. Dieser signifikant hohe Anteil weist auf eine genetische Anlage des Gewissens hin.
Insbesondere der noch höhere Anteil der Verweigerer unter der Bedingung der räumlichen Nähe zum "Opfer" verweist auf die Prägung des Gewissens in der Urgesellschaft, in welcher die Hemmung, dem "Nahestehenden" ernstlich zu schaden, überlebenswichtig war. In den wenigen Jahrtausenden seit jener Ursituation hat das genetisch angelegte Gewissen keine Gelegenheit gehabt, sich auf die neuen Möglichkeiten der Fernwirkung einzustellen. Hier versagt, wie Milgram zeigte und die Geschichte lehrt, das Gewissen fatal.
Mit jedem Fortschritt, den die Menschheit vorangeht, wächst die existentielle Bedrohung wie bei einem Wagen ohne Bremsen auf abschüssiger Bahn. Die Weltgesellschaft braucht eine ethische Instanz, das Weltgewissen, analog den individuellen Moralvorstellungen. Anders und effektiver als die internationalen Gerichte in Den Haag muss diese Instanz in der Lage sein, gefährliche Entwicklungen bereits frühzeitig zu stoppen, ethisch positive Initiativen und Tendenzen aber auch wirksam zu unterstützen, selbst gegen starke Mehrheits-Interessen.
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